Wir Menschen haben Jahrhunderte lang in unser Wohnzimmer uriniert. Anstatt aber unsere Lebensweise zu hinterfragen, diskutierten wir lieber über die Saugfähigkeit des Teppichs.
Erst jetzt, da der Sättigungsgrad des Teppichs erreicht ist, da immer mehr Menschen bewusst wird, dass der von uns eingeläutete Ökozid an den Nerv alles Lebens geht, beginnen wir allmählich aufzuwachen. Dabei hätte es nicht zwangsläufig so weit kommen müssen. Wir hatten unsere Chance, wir hatten sie immer. Wir konnten sie nur nicht nutzen, weil wir als politisches Gemeinwesen keine Idee besaßen, was und wer wir eigentlich sein wollten jenseits unseres immer kümmerlicher werdenden Konsumentendaseins im Scheinpluralismus weniger Konzerne.
Eigentlich wissen wir es immer noch nicht. Deshalb glauben wir, dass die Lösung unserer Probleme ein Fall für die Wissenschaft geworden ist. Unsere Hoffnungen ruhen auf neuen Wissenschaftszweigen wie der Bionik, dem Geo- Engineering oder der Evolutionstechnik, wir träumen von molekularer Selbstorganisation und versuchen uns an der Züchtung von Stopfkrebsen zum Abdichten unserer Deiche. Wir hören von lernfähigen neuronalen Netzen und einer neuen Computer-Architektur, in der Hardware und Software zu einer Persönlichkeit verschmelzen. Aber verstehen tun wir nichts von alledem. Und wie immer, wenn wir nichts verstehen, wird es auch diesmal schief gehen. Mit allem, was wir Menschen bisher angefangen haben, sind wir nämlich in die Absurdität des Gegenteils geraten. Mit dem Versuch, die Äcker fruchtbarer zu machen, haben wir sie zu Tode gefoltert. Mit dem Versuch, uns vor Feinden zu schützen, sind wir so nahe wie möglich an den großen Weltbrand geraten. Selbst der Versuch zu heilen und zu helfen geriet immer mehrt an die Grenzen der Unmenschlichkeit.
„Die Zivilisation ist ein Schiff, das ohne Pläne gebaut wurde und nun führerlos dahin schlingert. Es fehlt ihr ganz einfach an spiritueller Verbundenheit, damit sie einen Kurs hätte wählen können, der eben nicht in die Katastrophe mündet.“ - polnischer Philosoph und Science-Fiction-Autor Stanislav Lem (Solaris)
Unsere Aussichten, so könnte man angesichts der verheerenden Faktenlage meinen, sind alles andere als rosig. Wie es aussieht, stellen die Meere und Wälder ihre globalen Dienstleistungen, die bislang jedem Menschen zugute kamen, demnächst ein. Damit würde der Klimastress zum Dauerzustand werden. Und wie es um das kapitalistische Wirtschaftssystem bestellt ist, brauche ich niemandem zu erklären. Statt einzelner Autofirmen wird man wohl in Zukunft ganze Millionenmetropolen versenken. Schon jetzt fühlen sich Milliarden Menschen rund um den Globus betrogen und verarscht, sie sind frustriert, ausgebrannt und ohne Hoffnung.
Es mag vielleicht aberwitzig klingen: aber vermutlich braucht es einen so abgrundtiefen Bodensatz an Enttäuschung, um eine wirkliche Bewusstseinsänderung herbei zu führen. In den Herzen der Menschen sitzen nicht nur Wut und Enttäuschung, in Milliarden Herzen wächst etwas heran, was von unschätzbarem Wert ist: die Sehnsucht nach einer besseren Welt! Diese Sehnsucht ist schon heute mit Händen zu greifen und zwar überall auf der Erde. Die Menschen haben die Seele der Gier-Kultur endgültig satt. Jetzt braucht es nur noch diesen einen berühmten Schmetterlingsflügelschlag, um das gewaltige Sehnsuchtspotential kurzzuschließen.
Genau aus diesem Grunde ist es heute so wichtig, den Menschen eine Perspektive zu bieten. Sie müssen wissen, dass es genügend gesunde Alternativen gibt, um sich aus den Fängen einer erbarmungslosen Wachstumsgesellschaft zu befreien. Sobald sie verstehen, dass es ohne weiteres möglich ist, sich gegenüber den Kapitalinteressen zu emanzipieren, dass es möglich ist, eine Gemeinschaft nach eigenen Vorstellungen aufzubauen, um wieder in den Genuss von Kommunikation und Mitmenschlichkeit zu kommen, werden sie auch den Mut finden, etwas Neues zu wagen. Diese Neuorientierung wird nicht gradlinig verlaufen und viele Irritationen mit sich bringen, aber sie wird den Menschen von Anfang an und bei jedem Schritt etwas zurückgeben, was ihnen solange gefehlt hat: Lebensfreude.
Ich mag gar nicht daran denken, was an kreativen Kräften alles frei gesetzt wird, wenn sich die Gemeinschaften auf regionaler Ebene neu organisieren. Wenn immer mehr Menschen verstehen, dass es allemal besser ist, mit der Natur als gegen sie zu leben. Wenn wieder natürliche Kreisläufe in Gang gesetzt werden und eine nachhaltige Wirtschaftsordnung entsteht, wenn Strom zu hundert Prozent aus regenerativen Energien gewonnen wird, wenn eine neue Geld- und Bodenordnung vor Spekulanten und Übervorteilung schützt, wenn ein transparentes und gerechtes Steuersystem allein der Zukunftssicherung verpflichtet ist, weil die Bemessungsgrundlagen nicht mehr am Umsatz, Verdienst und Gewinn orientiert sind sondern am Verbrauch. Eine Rohstoff- und Energiesteuer zum Beispiel würde den Ressourcenverbrauch auf ein erträgliches Maß senken.
Ich bin fest davon überzeugt, dass es den Menschen Spaß bringen würde, auf ihrer versauten Erde gemeinsam aufzuräumen und sich neu einzurichten. „Tausche Leid gegen Glück“ – so etwa müsste das Motto heißen, nach dem die gewaltige ordnungspolitische Aufgabe gestemmt werden muß. Und wenn erst einmal der wahnsinnige Geld- und Warentransfer rund um den Globus eingestellt ist, wenn die Menschen sich wieder nach dem richten, was ihre Region hergibt, dann besteht sogar die Chance, dass sie ihre kulturellen Wurzeln wiederentdecken, was wiederum zu Vielfalt und Verständnis führen würde.
Mit einem Sprung zurück ins Mittelalter, wie uns die Verfechter des alten Systems immer wieder weismachen wollen, hat das alles nichts zu tun. Die globalisierte Welt lässt sich nicht auf Knopfdruck abstellen. Globalisiering bedeutet per se ja nichts Schlechtes. Es ist von enormem Vorteil, wenn sich die Menschen ihrer gemeinsamen Verantwortung für den Planeten bewusst sind. Wenn sie im gleichen Geiste wirtschaften und sich rund um den Globus auf das neueste Niveau der Umwelttechnik begeben. In der Verkehrspolitik zum Beispiel, im Nahverkehr ebenso wie im Fernverkehr. Die Flugzeuge würden mit kalt gepresstem Öl fliegen und in den Städten würde ein Netz hochmoderner Kabinenbahnen gespannt, die auf Magnetstreifen dahin schweben, wo einst die Autos stinkend im Dauerstau standen. Auch in der Landwirtschaft und dem Bauwesen könnte man weltweit sehr schnell zu gemeinsamen Standards kommen. Die zu Zwangsernährern mutierten Bauern wären nicht länger Sklaven der Banken, der Maschinenfabriken und der Chemieindustrie. Sie würden wieder mit der Natur arbeiten und nicht gegen sie. Permakultur hieße das Zauberwort. Ein gesunder Boden enthält pro Kubikmeter 60 000 000 000 000 Bakterien, 1000 000 000 Pilze und 600 Regenwürmer, die betreiben ihre eigene Landwirtschaft, die brauchen keine Chemiebomben. Im Bauwesen würden die Gesetze der Baubiologie angewandt: nachwachsende Rohstoffe statt Beton – leicht zu verstehen, leicht umzusetzen. Nachwachsende Rohstoffe würden auch für die Kleidung benutzt, eine Hose aus den seidenen Fäden der Brennnesselpflanze trägt sich ungleich angenehmer als irgendein textiler Kunststofffummel.
Ich könnte hunderte von Alternativen benennen, für jeden Lebensbereich gleich mehrere. Sie sind bereits vorhanden. Erforscht und erprobt. Ob es sich um alternative Antriebe oder um gesunde Nahrung handelt, um Vorschläge für ein zukunftsfähiges Krankenversicherungssystem oder die Neuordnung der Demokratie durch Expertenparlamente – alles ist vorhanden oder angedacht, es wartet nur darauf, dass wir uns bedienen.
Der Mensch ist schlau, er hat immer Auswege parat gehabt, wenn es zur Krise kam. Aber nie zuvor in seiner Geschichte ist seinem Erfindungsreichtum ein solcher Riegel vorgeschoben worden, wie zu Zeiten der kapitalen Gier. Kaum zu glauben aber wahr: Das Profitinteresse einer kriminellen Finanz- und Wirtschaftselite hat in den letzten Jahrzehnten jede vernünftige Problemlösung im Ansatz blockiert. Jetzt haben sie den Salat, jetzt doktern sie hysterisch an den Symptomen herum. Dabei verkennen sie eines: sie haben es nicht mit einem Fehler im System zu tun, ihr ganzes verdammte System ist ein Fehler! Gut, dass sich dies inzwischen herum gesprochen hat, dass die Menschen ihnen nicht mehr glauben, dass sie bereit sind, etwas Neues zu wagen.
Ich bin nicht sicher, wie sich die Dinge im Detail entwickeln werden. Aber ich bin sicher, dass wir in Zukunft wieder in einer Gesellschaft leben, die ihr Glück nicht aus pausenloser Mobilität und der 24-stündigen Beleuchtung des gesamten Planeten herleitet. Der Umbau unserer globalen Konsumkultur wird vielleicht das wichtigste Ereignis in der Geschichte der Menschheit sein. Diese Aufgabe können wir aber nur lösen, wenn wir uns als politisches Gemeinwesen verstehen. Weltweit. Die Chancen stehen gut, denn die Verletzungen, die uns der alte, auf Raubbau getrimmte Suprakapitalismus zugefügt hat, sind weltweit zu beobachten. Grund genug, sich weltweit zu solidarisieren. Vielleicht kriegen wir ja tatsächlich zustande, was Stanislav Lem der Zivilisation mit Recht absprach: spirituelles Bewußtsein. Respekt vor der Schöpfung, Demut und Toleranz im Miteinander – damit könnte ich leben ...
Dirk C. Fleck ist Journalist und Buchautor. Seine bekanntesten Werke: „GO!-Die Ökodiktatur“ (1993, Rasch und Röhring Verlag), „Das Tahiti-Projekt“ (2008, Pendo Verlag), „Das Südsee-Virus“ (2011, Piper Verlag). Kürzlich erschienen: „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“, Hoffmann und Campe Verlag. Fleck wurde sowohl für „GO!“ als auch für das“Tahiti-Projekt“ mit dem Deutschen Science Fiction Preis ausgezeichnet