Berechtigte Kritik an Apartheid in Israel oder Antisemitismus von Israelkritikern?
Interview mit Rüdiger Heescher
ngo: Was hat sie dazu bewogen sich zur Zeit so aktiv in der Diskussion um den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern einzumischen?
Meine Eindrücke über Israel und Palästina, die ich frisch gewonnen habe, möchte ich gerne teilen, denn was weiss man als Deutscher eigentlich wirklich über die Situation? Wir hören in den Medien nur etwas über Verhandlungen zwischen Palästinensern und Israelis, vielleicht noch etwas zu Gazablockaden und Raketenabschüssen aus dem Gazagebiet. Aber was wissen wir wirklich über die Medien in Deutschland zur alltäglichen Situation und auch der gesellschaftlichen Verhältnisse? Bei uns wird letztlich immer alles darauf reduziert, dass sich beide Parteien einigen müssen zu einer Zweistaatenlösung.
Doch ist das einfach so möglich? Diese Frage lässt sich für mich nach meinen Eindrücken nur verneinen. Das Problem im Konflikt von Israelis und Palästinensern liegt viel tiefer und ist schon alleine in einem Apartheidssystem begründet, was wir glaubten mit Südafrika in der Welt hinter uns gelassen zu haben. Doch schon Nelson Mandela hat uns gewarnt mit seinen Worten: "We know too well that our freedom is incomplete without the freedom of the Palestinians." Was übersetzt heisst: Wir wissen zu gut, dass unsere Freiheit nicht vollständig ist ohne die Freiheit der Palästinenser.
ngo: Warum diskutieren ausgerechnet wir Deutsche so viel und leidenschaftlich über Israel?
Wir verspüren aus unserer historischen Verantwortung heraus eine Aufgabe in der Welt, die sich als Mahner über Unrecht und gegen Rassismus wendet, damit sich so etwas wie bei uns nie wieder wiederholt. Unser Erbe aus der Nazizeit ist also eigentlich immer noch unser Bewusstsein einer Kollektivschuld, die wir abarbeiten müssen. Es ist auch nicht schlechtes an sich. Denn gerade wir haben die Antennen, um Unrecht zu sehen, da wir wirklich sehr gründlich unsere Geschichte aufgearbeitet haben und die Mechanismen über bürokratische Diskriminierungen bis hin zu offenen Rassismus kennen. Es geht gar nicht so sehr um Israel als Staat oder Juden, oder Religion. Es geht mehr um ein moralischen Empfinden, welches wir seit der Aufarbeitung der Nazizeit mit einem Humanismus begründen, der generell Unrecht an Menschen scharf verurteilt.
Israel wird allerdings von anderer Seite immer wieder benutzt und sogar verherrlicht, um Unrecht zu legitimieren und wieder einen neuen Antisemitismus erstarken zu lassen. Felicia-Langer, die nur knapp dem Holocaust entkommen ist, formulierte es sehr treffend, „dass die Deutschen gerade wegen ihrer Vergangenheit besonders klar und deutlich den Mund dort aufmachen sollten, wo Menschenrechte verletzt werden… Wenn Israel die Kritiker seiner Politik gegenüber Palästinensern in die Nähe des Antisemitismus rückt, dann ist das ein Vergehen an den Opfern des Holocaust. Sie werden unredlich benutzt. So eine Haltung kann den wirklichen Antisemitismus nur befördern.”
ngo: Das kann man so sehen, doch wieso dann gerade Israel als ständiger Streitpunkt?
Unser kollektives Bewusstsein sagt, dass wir Verantwortung tragen für das was jetzt Juden machen und ob sie klarkommen macht uns zu Kümmerer. Nur wegen uns wurde ja überhaupt erst Israel gegründet. Das nehmen wir sehr genau und fragen uns sicherlich, ob das alles wirklich so gut war oder ob man es nicht hätte anders lösen können um Schuld abzutragen, denn so wie es sich jetzt darstellt, erzeugen wir ja durch den Nahost Konflikt nur ständig neue Probleme. Denn die Kollektivschuldfrage beschäftigt ja auch selbst heute noch die Nachgeborenen.
Wie Henryk M. Broder es einmal sehr gut auf den Punkt gebracht hat, aber sicherlich kein anderer als er sich diese Frage öffentlich hätte stellen dürfen, war nur ehrlich, als er sagte: „Gewiss, wäre es mit historischer Gerechtigkeit zugegangen, hätte der Staat der Juden in Deutschland gegründet werden müssen, am besten in Schleswig-Holstein, das etwas kleiner als das heutige Israel ist... Es wäre eine halbwegs angemessene Entschädigung für den Raubzug im Osten gewesen und nebenbei auch das größte Mahnmal gegen das Vergessen... 'Warum sollen wir für die Verbrechen anderer bezahlen?' fragen die Araber – aus ihrer Sicht vollkommen zu Recht. Warum sollen sie auf einen Teil ihres Landes verzichten, weil die Deutschen vor über sechzig Jahren der Wahnidee verfallen sind, Europa judenrein zu machen?“
ngo: Na, das ist mal sehr ungewöhnlich ausgerechnet Henryk M. Broder zu zitieren, der sicherlich nicht ihr Freund ist, sondern in der heutigen Israeldebatte ihr politischer Gegner. Diese Position und Aussage würde er doch heute sicherlich nicht mehr vertreten oder?
Das ist richtig. Und das ist auch das fatale an der heutigen Diskussion. Es wird nicht mehr historisch argumentiert, sondern es wird heute letztlich nur noch tagespolitisch argumentiert und es dreht sich alles nur noch darum, ob man für oder gegen Israel ist, weil sich die weltpolitische Lage immer mehr zugespitzt hat im “Krieg gegen den islamischen Terrorismus”, dass alles was gegen Israel kritisch benannt als feindliche Aussage gegen Israel und pro islamische Welt gesehen wird. Als wenn alle, die sich kritisch zu Israel äussern schon selber Jihad Kämpfer wären. Durch die grassierende Islamophobie in weiten Teilen der Gesellschaft und der weit verbreiteten Vorstellung, dass wir es heute mit einem “Clash of civilization” nach Huntington zu tun haben, verschärft die Debatten, vertieft die Gräben und führt unsere eigene Geschichtsaufarbeitung ad absurdum und pervertiert sie letztlich.
Es ist nicht von ungefähr so, dass eine Frau Steinbach (CDU MdB) jetzt eine Verdrehung der historischen Wahrheiten vollziehen kann, indem sie twittert, dass die NSDAP eine linke Partei gewesen sein soll. Jeder schulgebildete Mensch weiss, dass es falsch ist, aber es wird dennoch versucht historische Fakten zu verdrehen, um eigene Positionen zu rechtfertigen.
ngo: Denken sie also, dass somit die Diskussion über Israel letztlich eine ganz andere Diskussion ist, die mit unserer innerpolitischen Verfasstheit zu tun hat?
Ganz sicher ist das so. Es hat eine völlig neue Qualität bekommen, die weit ab von unseren bisherigen historischen Diskussionen über Israel eine Rolle spielte. Denn wenn man sich auch gerade in anderen europäischen Ländern anschaut, was dort für Diskussionen über den Islam geführt werden und zum Teil sogar offen rassistisch, aber immer mit dem Hinweis versehen, dass man an der Seite Israels stehe und somit ganz sicherlich nicht rassistisch oder rechtsextrem wäre, so sieht man, dass hier eine Israeldiskussion nur dazu dient, um sich zu rechtfertigen und legitimieren für seine offen rassistisch-fremdenfeindliche Gesinnung. Wenn es dann auch noch zu inhaltlichen Fragen der Apartheidspolitik Israel kommt, dann dient es somit auch zur Rechtfertigung der eigenen Anschauung, wie man mit Muslimen verfahren solle und bemüht ein demokratisches Image, welches auch rechtlich durch Gerichtsbeschlüsse standhält. Doch genau diese Vorgehensweise ist ja auch in Südafrika gemacht worden.
Es ist nur den meisten Menschen kaum noch in Erinnerung. Südafrika war ein demokratisches Land. Es war keine Diktatur. Es war nur von seinem Rechtssystem her so ausgelegt, dass Apartheidspolitik nach aussen hin durch rechtliche Absicherung als legitim erschien. Nichts anderes macht heute Israel und genauso möchten es Rechtspopulisten heute wieder in Deutschland einführen. Der Unrechtsstaat als solches darf damit also nicht erkannt werden, denn es soll ja offiziell immer noch eine freiheitliche Demokratie sein.
ngo: Dann dient also Südafrikas Apartheidspolitik letztlich auch für heutige Rechtspopulisten als Vorbild?
So könnte man es sehen. Es darf sich nicht alles genauso wiederholen. Man wird sicherlich geschickter vorgehen, wie es auch noch rechtfertigenderweise Unterschiede zum israelischen Apartheidsystem gibt - aber letztlich schon. Das perfide an der ganzen Sache ist, dass auch hier ein Umkehrung vollzogen wird von historischen Fakten. Man stellt von rechtspopulistischer Seite her es so da, als wenn Kritiker Israels Regierung, Israel und damit auch Juden diffamieren und diskriminieren würden. Ich frage mich nur, ob man damals zur Apartheidspolitik in Südafrika auch auf die Idee gekommen wäre zu behaupten, dass Buren diskriminiert werden. Es ist also eine völlige Verdrehung von Tatsachen.
ngo: Was schlagen sie also vor um wieder eine sachliche Diskussion führen zu können?
In erster Linie sollten gerade wir als Deutsche unserer geschichtlichen Verantwortung wieder bewusst werden und nicht in eine populistische Debatte hineinziehen lassen, die letztlich nur der Vorgabe und Regie eines “Clash of civilization” nach Huntington folgt. Unsere Lehre aus dem Nationalsozialismus war es menschliches Unrecht, Diskriminierung, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit zu ächten und Menschenrechte zu verteidigen. Das bezog sich ja nicht nur aus unserer historischen Erfahrung auf Juden, die sicherlich die grössten Leiden aus unserer Geschichte zu tragen haben, sondern auch z.B. auf Roma und Sinti, die wir heute völlig vergessen haben und wir auch kein Bewusstsein mehr haben für das, was gerade jetzt z.B. in Ungarn mit ihnen geschieht. Wir werden sicherlich nicht Israel als ganz normalen Staat betrachten können, weil wir uns selbst für die Enstehung dieses Staates zu Recht verantwortlich fühlen, aber wir müssen schon sehen, dass auch an Israel die gleichen Maßstäbe von Menschenrecht und Demokratie gefordert werden, wie wir sie auch in Europa verwirklicht sehen.
Hiermit möchte ich wieder mit einem Zitat von Henryk M. Broder von 1979 diesen Wunsch abschliessen: "30 Jahre, die den Charakter um 180 Grad gedreht haben. Ohne Israel, das heißt ohne die Möglichkeit nach Israel gehen zu können, hätten es die Juden überall viel schwerer und die Judenhasser viel leichter. Deswegen schulden wir Israel viel, aber wir dürfen auch einiges von Israel erwarten: daß es sich nicht wie ein Sheriff im Wilden Osten aufführt, daß es die Traditionen bewahrt, die das europäische Judentum bis zu seiner Ausrottung ausgezeichnet haben, vor allem Pluralismus nach innen und Toleranz nach außen und daß es sich als ein Teil der Nah-Ost-Region begreift und nicht als ein Vorposten Europas in Asien."
ngo: Möge man ihren Rat beherzigen. Ich danke ihnen für dieses Interview, auch wenn es ungewöhnlich ist hier mit Henryk M. Broder zu argumentieren.