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Schwerpunkte
Der Krieg ist kein Gesetz der Natur und der Friede ist kein Geschenk. (Bert Brecht)
Oslo 2011 als Gegenentwurf zu Washington 2001
Vor zehn Jahren, am 11. September 2001, fanden in den USA in dieser Größenordnung bis dahin nicht bekannte Terroranschläge statt. Deren Urheber waren Männer saudi-arabischer Herkunft, die rund 3.000 Opfer waren zumeist Angestellte im World-Trade-Center New York und Passagiere von vier zivilen Flugzeugen, die zuvor in die Gewalt der Attentäter gebracht wurden. Auch zehn Jahre nach den Anschlägen liegen die Hintergründe dafür zum großen Teil im Dunkeln; die amtlichen Untersuchungsberichte der US-Regierung enthalten viele Ungereimtheiten und werfen mehr Fragen auf, als dass sie den Tathergang zufriedenstellend aufklären würden.
Die Reaktion der Friedensbewegung auf die Terroranschläge vor zehn Jahren scheint uns heute noch richtig zu sein: „Eine Politik, die den Terrorismus wirksam bekämpfen und eindämmen will, muss ihm den sozialen, politischen und ideologischen Nährboden entziehen, in dem er gedeiht. Ein Klima des Hasses und der Intoleranz und eine Politik, die Gewalt mit Gegengewalt und Gegengewalt mit neuer Gewalt beantwortet, bereitet auch den Boden für Terrorakte, deren Grausamkeit sich jeder menschlichen Vorstellungkraft entziehen.“ (Presseerklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag, 12.09.2001) Die norwegische Regierung hat auf das rassistisch und rechtsradikal motivierte Attentat vom 22. Juli 2011 ähnlich besonnen reagiert. Regierungschef Jens Stoltenberg versprach als Antwort auf das Massaker „mehr Offenheit und mehr Demokratie“. Es ist zu hoffen, dass damit andere Maßstäbe für den „Kampf gegen den Terror“ in die internationale Politik einziehen.
Für die US-Administration leitete 9/11 eine neue Phase der Festigung ihrer einzigartigen Vormachtstellung in der Welt und der Kontrollen der globalen Rohstoff- und Energiereserven ein. Der Epochenwandel selbst war bereits 10 Jahre zuvor mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des übrigen realsozialistischen (Halb-)Weltsystems vollzogen worden. Nach dem Ende der Ost-West-Blockkonfrontation war der Krieg als Mittel zur Durchsetzung politischer und wirtschaftlicher Interessen zurückgekehrt. Der zweite Golfkrieg 1991, die Interventionen in die Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien, die Invasion in Somalia, der NATO-Krieg gegen Rest-Jugoslawien 1999 waren äußere Anzeichen einer veränderten Weltordnung, in der die „einzige Weltmacht“ USA die Richtung vorgab und die anderen Staaten entweder mitspielten oder sich der Gefahr aussetzten, ins Visier der USA zu geraten. Der 11. September 2001 erschien nur insofern als eine weitere Zäsur der Weltgeschichte, als US-Präsident George W. Bush darauf mit seinem „Krieg gegen den Terror“ antwortete und das große US-amerikanische Projekt zur „Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens“ proklamierte.
Prompt wurde z.B. der Krieg gegen Afghanistan beschlossen, obwohl er bereits vielleicht schon vorher beschlossene Sache war. "Ich weiß nicht, was sie getan hätten, wenn der 11. September nicht da gewesen wäre. Man hätte entweder nichts getan oder man hätte einen anderen Anlass gefunden", sagte John C. Kornblum, ehemaliger US-Botschafter in Deutschland, über die Anschläge von New York 2001 und den Irak-Krieg im Gespräch mit dem Fernsehsender Phoenix (Ausstrahlung am 11. September). Die Vorgeschichte zum Afghanistan-Krieg, die mit den gescheiterten Verhandlungen zwischen US- und Taliban-Regierung im Sommer 2011, also vor 9/11 begann, und solche Äußerungen „unverdächtiger“ Zeitgenossen nähren die seither nicht mehr verstummenden Verschwörungstheorien unterschiedlicher Provenienz .
Sog. Antiterrorkrieg forderte ein Vielfaches der Opfer von 9/11
Da wir weder die offizielle Version der Attentate noch die alternativen „Erklärungen“ überprüfen können, halten wir uns an die Tatsachen: Der „Krieg gegen den Terror“, beispielhaft praktiziert in Afghanistan seit 2001 und in Irak seit 2003, wurde selbst zum Terror. Er durchzieht mittlerweile alle Kontinente mit einer breiten Blutspur und wird nur zur besseren propagandistischen Durchsetzung als Kampf für „Menschenrechte und Demokratie“ bemäntelt.
Zwar verbietet sich aus ethischen Gründen eine gegenseitige Aufrechnung der Opfer: Es ist aber nützlich, daran zu denken, dass die von den USA und ihren jeweiligen Verbündeten angezettelten „Antiterrorkriege“ ein Vielfaches der Opfer vom 11. September 2001 gefordert haben.
Was als „Erhalt unserer Werteordnung und des politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Systems“ daherkommt, verkommt immer mehr zur alten Politik der Erpressung, Unterdrückung und des Krieges mit überlegenen und inzwischen immer bedrohlicheren Waffen. Die „westliche Wertegemeinschaft“ regelt Konflikte zunehmen militärisch und mit Gewalt auch dort, wo politische Lösungen möglich wären. Sie ist von Streben nach Ressourcen, Profit sowie Ausbeutung von Mensch und Natur geprägt.
Der „Krieg gegen den Terror“ hatte aber nicht nur tausende Tote, Mord, Folter, Hinrichtungen, Hunger, Drogenhandel und Zerstörung zur Folge. Auch die Prinzipien des Völkerrechts und der Charta der Vereinten Nationen werden mit Füßen getreten. Das neue Feindbild „islamistischer Terror“ wurde zum Hintergrund für die Ausweitung der Überwachung und dem Abbau demokratischer Grundrechte. Neonazismus, Rassismus, Islamfeindlichkeit und Antisemitismus weiten sich aus und überziehen Europa wie ein schleimiger Vorbote kommenden Unheils. Rechtspopulistische und rassistische Parteien erhalten Zulauf und Zuspruch nicht nur von den rechten Rändern, sondern auch aus der Mitte der Gesellschaft; in einigen Ländern sind sie bereits an der Macht (Ungarn) oder stehen auf dem Sprung dazu (Finnland, Litauen, Niederlande).
Auf der anderen Seite ist nicht mehr zu übersehen, dass die seit mehr als 20 Jahren scheinbar siegreiche westliche Ordnung zunehmend mit den von ihr selbst produzierten Widersprüchen in Konflikt gerät. Dadurch werden sich z.B. die Rivalitäten in der Europäischen Union, zwischen Europa und den USA, vor allem aber zwischen der reichen Welt des Nordens und der armen Welt des Südens verschärfen. Die arabischen Revolten könnten Vorbote dafür sein, dass die Völker nicht mehr bereit sind, sich von kleptokratischen Mächten gängeln und vom Westen Vorschriften machen zu lassen.
Bundeswehr raus aus Afghanistan - sofort und bedingungslos
Die Bundesregierung hält sich aus dem gegenwärtigen kriegerischen Geschehen zwar von Fall zu Fall heraus. Im Wesentlichen ist Deutschland aber Kriegspartei in zahlreichen bewaffneten Konflikten, worunter der Afghanistankrieg eine bevorzugte Rolle spielt. Aber auch die Kriege, an denen Deutschland offiziell nicht beteiligt war bzw. ist (Irak, Libyen), werden in Wahrheit nur durch die deutsche logistische Unterstützung ermöglicht. Die Bundesrepublik Deutschland ist Drehscheibe und Kommandozentrale; von hier aus operieren US-amerikanische Truppen; auf deutschem Boden befinden sich strategisch wichtige Stützpunkte der USA und anderer NATO-Staaten. Daher ist die Bundesregierung der wichtigste politische Adressat der Friedensbewegung.
Wir trauerten 2001 um die Toten der Terroranschläge vom 9. September. Wir trauern aber genauso um die Hunderttausenden Opfer des „Antiterrorkrieges“. Mit diesem untauglichen Mittel zur Bekämpfung des Terrorismus muss endlich Schluss gemacht werden. Die Bundeswehr muss sofort und bedingungslos aus dem Afghanistankrieg abgezogen werden. Unabhängige internationale Kommissionen müssen 9/11 und das offenkundige Kriegsverbrechen von Kundus vom 4. September 2009 untersuchen.
Wir wollen Waffenstillstände und Frieden an allen Fronten. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr sind sofort zu beenden. Waffenhandel ist zu verbieten. Die annähernd 30 „Antiterrorgesetze“ – vor kurzem aufs Neue verlängert - müssen zurückgenommen werden.
Wer den Opfern des 11. September im nachhinein Gerechtigkeit widerfahren lassen will, muss dafür eintreten, dass dem terroristischen und staatsterroristischen Treiben ein Ende gesetzt wird. Vor zehn Jahren haben wir in der oben erwähnten Stellungnahme geschrieben: „Wann endlich begreifen die Politiker, die jetzt wieder nach mehr Rüstungsausgaben, Waffen und Militär verlangen, dass Sicherheit erst dann gegeben ist, wenn die Sicherheit des Anderen gewährleistet ist? Dass Sicherheit heute nicht mehr nur militärisch, sondern vor allem sozial, kulturell, ökonomisch und politisch begriffen werden muss? Dass Sicherheit letztlich eine Frage der Gerechtigkeit ist?“ Auch das ist bis heute unverändert richtig.
Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Peter Strutynski, Kassel (Sprecher) Horts Trapp, Frankfurt a.M.