ngo-online: Sie haben Ende Januar gemeinsam mit Sven Giegold von den Grünen, Katja Kipping von der Linkspartei, Andrea Ypsilanti von der SPD und anderen das Institut Solidarische Moderne gegründet. Wie gefährlich kann das dem real existierenden Neoliberalismus werden?
Hermann Scheer: Zu den Gründungsmitgliedern gehören auch viele Jüngere, etwa die Juso-Bundesvorsitzende Franziska Drohsel, die beiden Vorsitzenden der Jungen Grünen Gesine Agena und Max Löffler, Kolja Müller von der Linkspartei, aber genauso renommierte Wissenschaftler wie Sonja Buckel, Klaus Dörre oder Stephan Lessenich und Personen wie Franz Alt, dem wertkonservativen Kritiker des umweltzerstörenden Marktradikalismus oder Anke Martiny, die den Vorstand von Transparency International angehört.
Das Institut versammelt Kritiker des von Grund auf gescheiterten Neoliberalismus, der selbst in seinem Kernelement, der von ihm beanspruchten Wirtschaftskompetenz, desaströs gestrandet ist. Es geht um einen grundlegenden ideellen und politischen Gegenentwurf zur neoliberalen Heilslehre. Dass deren Bischöfe und Priester und die dahinter stehenden Interessen dies als gefährlich empfinden, liegt auf der Hand.
Wie läuft es derzeit mit dem Gründungsprozess des Instituts?
Hermann Scheer: Wir haben es zunächst einmal mit schnell zu bewältigenden organisatorischen Fragen zu tun, weil wir innerhalb einer Woche bereits auf über 850 Mitglieder gekommen sind.
Warum brauchen wir ein neues Öko-Institut?
Hermann Scheer: Man kann das Öko-Institut in einer Hinsicht als organisatorisches Vorbild nehmen, wie es als Verein gegründet worden war, dessen Mitglieder die Institutsarbeit getragen und ihm die notwendige Unabhängigkeit gesichert haben. Nach meiner Erinnerung kam das Öko-Institut in seiner Gründungsphase auf über 8000 Mitglieder. Dann hört das organisatorische Vorbild schon auf, weil es nicht darum gehen soll und darf, dass ein großer festangestellter wissenschaftlicher Mitarbeiterstamm entsteht. Dieser kann nämlich nur aufrecht erhalten werden, wenn man sich auf den Studienmarkt begibt und Fremdaufträge realisiert, was zwangsläufig auch immer Zugeständnisse auf dem Markt der Studienanbieter bedeutet.
Im Institut Solidarische Moderne wird es darum gehen, dass die dort erarbeiteten neuen politischen Handlungskonzepte und die geistigen Grundlagen dafür von Mitgliedern des Instituts selbst erarbeitet werden, und dadurch eine große Breite an politischen wie wissenschaftlichen Erfahrungen einfließen. So entstehen substanzielle politische Entwürfe mit Strahlkraft, das Zusammendenken von Theorie und Praxis. Es geht also um die Organisierung selbsttätiger Institutsarbeit, nicht um die Erstellung von Studien für Dritte. Es geht um Konzepte für die zukunftsfähige Gesellschaft insgesamt.
Der Kapitalismus hat sich doch letztlich durchgesetzt. Warum finden Sie sich nicht damit ab?
Hermann Scheer: Ein solcher Blick wäre völlig ahistorisch. Nichts hat Bestand, was sich mit den gesellschaftlichen Existenzinteressen und mit dem Naturhaushalt nicht verträgt. Es macht überdies keinen Sinn, in pauschalen Alternativen von Kapitalismus oder Sozialismus zu reden. Es gibt gescheiterte sozialistische und kapitalistische Gesellschaftskonzepte. Und es gibt zahlreiche Differenzierungsmöglichkeiten zwischen diesen.
Wir müssen aber heute zur Kenntnis nehmen, dass die quantitativen wirtschaftlichen Wachstumsmodelle im Absturz stehen, weil sie die vom Naturhaushalt gezogenen Grenzen wie die Ressourcengrenzen missachtet haben, und dass Gesellschaften zerfallen, wenn sie nicht demokratisch und gerecht organisiert sind und die Wirtschaft nicht sozialverpflichtet ist.
Was ist der Kerngedanke einer solidarischen Moderne? Was ist die Alternative zum Neoliberalismus? Können Sie die visionären Kerngedanken einer neuen linken Politik für breite Bevölkerungskreise bereits formulieren oder müssen wir uns auf einen eher künstlichen Prozess des Zusammenwürfelns wahlloser Bausteine gefasst machen?
Hermann Scheer: Um wahllose Bausteine darf es nicht gehen. Dass die Tragelemente für eine nicht nur kurz-, sondern auch mittel- und langfristig gesicherte Gesellschaftsfähigkeit brüchig geworden sind, hängt mit dem Verlust des universellen und damit untrennbaren Zusammenhangs der Dinge zusammen. Dies beginnt schon im modernen Wissenschaftsbetrieb, in dem die Gegenstände immer mehr partikularisiert worden sind, so dass man vielleicht noch einzelne Bäume analysiert, aber nicht mehr den Wald.
Es setzt sich fort in die Politik, die überwiegend nur noch punktuell und sektoral arbeitet, bis in die Wirtschaft, in der es offenbar nur noch um Betriebswirtschaften geht und nicht mehr um die Volkswirtschaft und um wirtschaftssoziologische Fragen. Das Wesentliche ist, diese Zusammenhänge wieder herzustellen und von dieser Grundlage aus zu einzelnen Handlungskonzepten zu kommen, die Gerechtigkeitspostulaten verpflichtet und gemeinwohlorientiert sind. Das ist eine geistige und eine praktische Herausforderung an Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.
Sie sagten einmal sinngemäß, man müsse in Deutschland erst noch die Demokratie herstellen. Was meinen Sie damit?
Hermann Scheer: Ich habe in meinem 2003 erschienenen Buch, das den Titel "Die Politiker" hat und in dem ich den Zustand unserer politischen Kultur als "Verkümmerung des Politischen" und als "Minima Politica" - in Anlehnung an Adornos Schrift "amnima moralia" - beschreibe, auch eine anstrebenswürdige "Maxima Politica" formuliert. Dazu gehört als eine Voraussetzung, was ich bewusst provokativ als "die Wiedereinführung der parlamentarischen Demokratie" bezeichnet habe. Damit ist gemeint: Wir haben diese formal, wie sie von der Verfassung vorgegeben ist, aber sie verkümmert zunehmend in ihrer Ausübung.
Woran krankt der Parlamentarismus in Deutschland?
Hermann Scheer: Er krankt an einer faktischen Entparlamentarisierung der Entscheidungsprozesse unter dem Diktat regierungstechnokratisch durchgesetzter Gesetze und der Regierung, der ungeprüften Gefolgschaftsbereitschaft in den Regierungsfraktionen, dem damit verbundenen freiwilligen Verzicht auf kritische Fragen und Korrekturen. Dies alles führt zwangsläufig zu einer Marginalisierung der Parteien, die zu Gefolgschaftsorganisationen werden und in denen politische Mitbestimmung der Basis als störend und lästig empfunden wird.
Der notorische Satz "Es gibt keine Alternative." ist nicht nur absurd falsch. Er will auch allen sagen: Gebt es auf. Über Alternativen nachzudenken: Vögel fresst oder sterbt.
Woran krankt das Parteiensystem?
Hermann Scheer: Es krankt genau daran, dass es wegen des beschriebenen Prozesses immer weniger Menschen gibt, die unter diesen Bedingungen zur kritischen und konstruktiven Mitwirkung noch motiviert werden können. Sie haben das Gefühl, dass solche Versuche ins Leere laufen. Wir haben heute ein Parteiensystem, in dem die Parteien zunehmend mehr zu Kaderparteien degenerieren - und das in einer offenen pluralistischen Gesellschaft.
Welche Bevölkerungskreise wollen Sie mit dem Institut Solidarische Moderne ansprechen? Industriearbeiter und Hartz IV-Empfänger?
Hermann Scheer: Wir sprechen damit alle an, die wissen, dass die Gesellschaft wieder tragfähigen Boden unter ihren Füßen braucht. Die meisten wissen oder ahnen schon längst, dass die Daseinsgrundlagen brüchig geworden sind, so dass sich wegen des Gefühls, man könne sowieso nichts ändern, nicht zufällig Apathie ausbreitet. Jede Erfahrung zeigt, von der Biologie bis zur Gesellschaft, also in allen lebenden Systemen, dass es keine linearen Entwicklungen gibt, wenn es zu wenig Sensibilität für die Veränderungen innen wie außen gibt und man sich nicht in überlebensfähiger Weise darauf einstellt. Jede lineare Entwicklung erreicht ihren Bruchpunkt früher oder später. Entweder durch Selbstüberforderung mit katastrophalem Ende oder durch bewusst und rechtzeitig hervorgerufenen Umbruch.
Wollen Sie die Leute auf die Straße bringen oder an die Wahlurnen?
Hermann Scheer: Wir müssen die kritische Demokratie revitalisieren, Kreativität für Mut und die eine tragfähige solidarische Alternative.
Ist es ein rot-rot-grünes Projekt?
Hermann Scheer: Ein rot-rot-grünes Projekt könnte nur ein Parteiprojekt sein. Aber die Gründungsmitglieder des Instituts, die Parteien angehören, sitzen dort nicht als Vertreter ihrer Parteien. Diejenigen, die keiner Partei angehören, wollen dort keine parteitaktischen Diskussionen haben. Vielmehr geht es darum, die geistige und kulturelle Hegemonie des Neoliberalismus zu brechen und - was in diesem Fall tatsächlich die treffende Beschreibung ist - die geistig-moralische Wende zu einer sozial-ökologisch fundierten demokratischen Hegemonie zu erreichen.
Sowohl die SPD wie auch die Grünen und die Linkspartei sind mehr oder weniger auf diese Herausforderung noch nicht ausreichend eingestellt. Wenn das Institut einen breiten Wirkungserfolg hat und neue Maßstäbe an das Politische entstehen, so dass daran niemand mehr vorbeigehen kann, wird es wahrscheinlich im praktischen Ergebnis ein rot-grün-rotes Regierungsprojekt erleichtern. Im jetzigen Verhältnis von SPD, Grünen und Linkspartei zueinander gibt es mehr Gezänk über die Unterschiede, die hochgespielt und übertrieben werden, als eine Besinnung auf tragfähige Gemeinsamkeiten, was sich in ihrer Programmatik widerspiegeln muss.
SPD und Grüne sind für Kriegseinsätze der Bundeswehr, die Linke ist als einzige Fraktion im Bundestag bislang konsequent dagegen. Wie soll das zusammenpassen?
Hermann Scheer: SPD und Grüne sind aus ihrer gemeinsamen Regierungszeit in den Afghanistan-Einsatz verstrickt, so wie es auch im Kosovo-Krieg der Fall war. Woran es beiden gemangelt hat und bis heute mangelt, ist eine Perspektive für eine internationale Ordnung, die Kriege als Mittel der Politik ausschließbar macht. Das geht nur über ein internationales Gewaltmonopol, so wie es unstrittig ist, dass es für das innere Verhältnis einer Gesellschaft ein staatliches Gewaltmonopol geben muss. Ein solches internationales Gewaltmonopol kann nur von der Uno übernommen werden, die dafür die Kompetenzen und die Ausstattung bekommen muss.
Das heißt aber auch, dass die Linkspartei denselben Mangel hat. Denn das Ausschließen jeglicher militärischen Aktion in internationalen Konflikten, auch wenn es gegen untolerierbare Gewalthandlungen geht, bedarf genau der Schaffung eines internationalen Gewaltmonopols. Insofern sind in letzter Konsequenz beide Positionen, die der SPD und der Grünen wie auch die der Linkspartei, nicht zu Ende gedacht.
Glauben Sie, die Linken in SPD, Grünen und Linken können sich wirklich durchsetzen? Wird vor der nächsten Wahl nicht doch wieder der nächste neoliberale Basta-Kanzlerkandidat durchgesetzt?
Hermann Scheer: Das Wort Basta-Politik ist eigentlich unscharf. Denn Basta funktioniert nur, wenn auch widerwillig abgenickt wird. Deshalb war das Problem mehr die Abnick-Bereitschaft. Ich glaube nicht, dass zum Beispiel Gerhard Schröder eine seiner vielen Rücktrittsdrohungen wahr gemacht hätte, wenn die SPD-Fraktion inhaltlich geltend gemacht hätte, was in vielen Fragen die tatsächliche Mehrheitsmeinung war.
Damit sind wir wieder beim Punkt der demokratischen Wiederbelebung. Inzwischen hat doch jeder gemerkt, allen voran die SPD, dass es geradezu selbstmörderisch ist, wenn man inhaltlich selbstvergessen wird und die eigene Partei und ihre Wähler überfährt.
Ich möchte noch mal nachhaken: In der Opposition geben sich linke Parteien gerne links, um Wählerinnen und Wähler anzusprechen, kaum in der Regierung bedient man die Großkonzerne ...
Hermann Scheer: Das beleuchtet genau den weit verbreiteten Widerspruch von links reden und rechts handeln. Wer links redet, um Wahlen zu gewinnen, gibt damit ja zu, dass die Mehrheit der Gesellschaft eine linkere als die angebotene Politik will. Wer anschließend rechts handelt, riskiert damit die Erosion seiner Wählerbasis.
Selbst in die Linke regieren die Medien inzwischen kontinuierlich hinein, rücken wie einst bei den Grünen systematisch die angeblichen Pragmatiker in ein positives Licht, die sich dann in Folge auch innerparteilich leichter durchsetzen können. Auf diese Weise bestimmen doch die Medien maßgeblich mit, wer bei SPD, Grünen und Linken in Spitzenpositionen kommt. Was wollen Sie dagegen tun?
Hermann Scheer: Das einzige Mittel dagegen ist, dass die Parteien wieder dazu übergehen, die Auswahl ihres Spitzenpersonals nach eigenem Ermessen vorzunehmen - und nicht nach dem Kriterium, wer von den Medien dazu gekürt worden ist. Solange das so ist, führt das dazu, dass die Parteien immer mehr fremdbestimmt werden und dass die Medien von ihrer Rolle als kritische Betrachter des Geschehens in die Rolle des politischen Gestalters rücken. Dieser Mechanismus vollzieht sich über die Personalauswahl durch die Medien, die die Parteien dann übernehmen, selbst wenn sie aus sich heraus eine andere Personalauswahl getroffen hätten.
Hätte die SPD 1998 über die Frage Lafontaine oder Schröder als Kanzlerkandidat abgestimmt, wäre es Lafontaine geworden. Schröder wurde es, weil die SPD einschließlich Lafontaine selbst die Vorauswahl durch die Medien akzeptiert hat. Das beste Gegenmittel dazu wäre eine Wahl von Kanzlerkandidaten durch die Parteimitgliedschaft, natürlich verbunden mit einer Auswahlmöglichkeit.
Sie wissen, dass Ihnen seitens der Medien ein eisiger Wind entgegenschlagen wird, sollte es Ihnen gelingen, eine breite gesellschaftliche Mehrheit zu mobilisieren. Was setzen Sie dem entgegen?
Hermann Scheer: Wenn die neu formulierten Antworten problemgemäßer und damit gesellschaftsfähiger sind, kann niemand auf Dauer daran vorbeigehen. Ich erinnere an den Satz von Abraham Lincoln, dass man eine Mehrheit für eine bestimmte Zeit zu Falschem verführen kann, aber niemals auf Dauer.
Dies hat das Beispiel Tony Blair allen vor Augen geführt. Er war ein begnadeter Blender, der mit zivilreligiösen Predigten einige Jahre lang vertuschen konnte, dass er praktisch das Gegenteil seiner verkündeten Werte macht, bis ihm keiner mehr glaubte.
Nehmen wir mal an, es gibt eine politische Alternative mit einer pragmatisch-visionären Sozialdemokratin an der Spitze. Würden die USA eine linke Regierung in Deutschland zulassen?
Hermann Scheer: Ich glaube, dass es die USA so nicht gibt. Ich habe zum Beispiel großes Vertrauen in die persönliche Glaubwürdigkeit von US-Präsident Obama, dass er also tatsächlich anstrebt, was er sagt. Aber er steht einer geballten Macht rücksichtsloser mächtiger Interessengruppen gegenüber, deren Einfluss weit in die Reihen demokratischer Kongressabgeordneter reicht. Wenn er sich demgegenüber nicht durchsetzen kann und dadurch in Glaubwürdigkeitskrisen kommt, so liegt es nicht in ihm oder an ihm, sondern an denen, die seine politischen Vorhaben in verderblicher Weise durchkreuzen.
Was bedeutet das für eine potenzielle deutsche linke Politik?
Hermann Scheer: Ähnliche Probleme gibt es auch in Deutschland, nur dass diese Interessengruppen weniger unverblümt auftreten, sondern ihre Einflussmechanismen häufig diskreter wirken lassen. Und wenn sie es öffentlich tun, es mit populären Worten garnieren.
Dass sie eine wirkliche Alternative mit allen Mitteln verhindern wollen, mit ihren verlängerten Armen, auch in die SPD, haben wir in Hessen erlebt. Bis zu dem perfiden immer noch anhaltenden Versuch, in der Öffentlichkeit das Opfer ihrer Machenschaften - Andrea Ypsilanti - als Täterin anzuprangern.
Die Tat war, dass gewagt wurde, eine Alternative gegen das etablierte Einflusskartell durchzusetzen. Das war der eigentliche "Fehler", der begangen und abgestraft wurde.