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Atommüll-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts

Atomkritiker sehen "objektiv-rechtliche Verpflichtung" der Verfasssungsrichter

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Für die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW ist der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 12. November zur Nichtannahme der Verfassungsbeschwerden gegen mehrere Atommüll-Zwischenlager nicht nachvollziehbar (ngo-online berichtete). Nach Auffassung der Atomkritiker verweist das Bundesverfassungsgericht zwar zu Recht auf den verfassungsmäßigen Grundsatz einer "bestmöglichen Risikovorsorge und Gefahrenabwehr". Dennoch spreche das Gericht aber den Beschwerdeführern einen Anspruch auf eine "bestmögliche" Lagerung des Atommülls in terrorsicheren Lagerhallen ab. "Die Lagerung des Atommülls in unsicheren Leichtbauhallen widerspricht selbstverständlich dem Verfassungsgrundsatz einer 'bestmöglichen' Risikovorsorge und Gefahrenabwehr", meint die IPPNW.


Die IPPNW bemerkt weiterhin, dass das Bundesverfassungsgericht zur Recht feststelle, dass wegen eines noch immer fehlenden Endlagers die weitere Nutzung der Atomenergie möglicherweise nicht mehr "verantwortet" werden könne. Nicht nachvollziehbar sei aber die Auffassung, dass diese Frage ausschließlich vom Gesetzgeber zu beantworten wäre. Denn nach dem "Kalkar-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts sei es die "objektiv-rechtliche Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" - also auch die des Bundesverfassungsgerichts -, in Hinblick auf die Gefahren der Kernenergie die Grundrechte zu schützen und "alle Anstrengungen zu unternehmen, um mögliche Gefahren frühzeitig zu erkennen und ihnen mit den erforderlichen, verfassungsmäßigen Mitteln zu begegnen." Angesichts des Einflusses der mächtigen Atomindustrie auf den Gesetzgeber wäre es nach Auffassung der Atomkritiker daher "die Verpflichtung des Bundesverfassungsgerichts gewesen, die Bevölkerung zu schützen".

Das Bundesverfassungsgericht weise in seinen Beschluss zunächst zutreffend darauf hin, dass nach seinem Kalkar-Urteil jenseits des "menschlichen Erkenntnisvermögens" "Ungewissheiten" als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen seien. Hierbei handele es sich um das so genannte "Restrisiko". Nicht nachvollziehbar ist für die Organisation aber, dass das Gericht in seinem Beschluss implizit Terroranschläge, die beispielsweise in Form von Flugzeugangriffen, Sprengstoffanschlägen oder durch Beschuss jahrelang Gegenstand umfangreicher gutachterlicher Untersuchungen gewesen seien, in den Bereich des "Restrisikos" und damit als "Ungewissheiten jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens" zuordnee. Tatsächlich sei "festzustellen, dass die in Zusammenhang mit den atomaren Zwischenlagern diskutierten Risken und Gefahren nach der Definition des Kalkar-Urteils des Bundesverfassungsgerichts definitiv kein Restrisiko darstellen, welches von der Bevölkerung zu akzeptieren wäre".

Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts sollten die Beschwerdeführer und die Allgemeinheit die Lagerung des Atommülls in Leichtbauhallen akzeptieren, weil ein darüber hinausgehender grundrechtlich verbürgter Anspruch auf "Restrisikominimierung" den Beschwerdeführern nicht zustehe. Eine "Restrisikominimierung" könne es allerdings - nach der Definition des Restrisikos im Kalkar-Urteil durch das Bundesverfassungsgericht selbst - überhaupt nicht geben, so die IPPNW, weil man "Ungewissheiten jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens" selbstverständlich nicht minimieren kann. "Wie soll man Gefahren, die man überhaupt nicht kennt, minimieren können?", fragt die Organisation.

Folgerichtig habe auch das Bundesverwaltungsgericht in einem aktuellen Urteil vom 10. April 2008 völlig zu Recht die Möglichkeit einer "Restrisikominimierung" verneint, "da das Restrisiko durch einen nicht weiter minimierbaren, "unentrinnbaren" Rest gekennzeichnet ist". Für die Atomkritiker ist es nicht verständlich, "dass diese zutreffende Argumentation in dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts unberücksichtigt blieb".

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