529 Abgeordnete stimmten für den Kompromisstext, 98 dagegen, 24 enthielten sich. Der italienische sozialdemokratische Berichterstatter Guido Sacconi sagte, die Hauptschwierigkeit in den Verhandlungen habe darin bestanden, eine faire Balance zu finden zwischen einem hohen Gesundheitsniveau und Umweltschutz auf der einen Seite und Handhabbarkeit auf der anderen, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie sicherzustellen und um ein bürokratisches System zu vermeiden. Teile der Industrie hätten eine massive Lobbyarbeit betrieben, um den Verordnungsentwuf zum Scheitern zu bringen oder zu verwässern. Auch die Positionen von Umweltschützern hätten das Projekt gefährdet. Unlängst hatte Sacconi noch Deutschland massiven Widerstand gegen eine schärfere Chemiepolitik vorgeworfen.
Parlaments-Präsident Josep Borell sagte, mit der heutigen Abstimmung sei einer der "komplexesten Texte in der Geschichte der EU" und ein außerordentlich wichtiges Gesetzespaket verabschiedet worden, das den europäischen Bürgerinnen und Bürgern Schutz biete vor den zahlreichen toxischen Substanzen unseres alltäglichen Lebens.
Von REACH neu erfasst werden Chemikalien, die bereits vor 1981 auf den Markt gebracht wurden und von denen jährlich mehr als eine Tonne produziert oder importiert werden. Dies treffe auf rund 30.000 Stoffe zu. Über diese vor 1981 verwendeten Chemikalien lägen im Gegensatz zu den so genannten "neuen Chemikalien", die nach 1981 auf den Markt gebracht worden seien, nur "unzureichende Informationen" vor.
Ein wichtiges Ziel von REACH ist es nach Angaben des Parlaments, "in bestimmten Fällen sicherzustellen, dass besorgniserregende Stoffe letztendlich durch weniger gefährliche Stoffe oder Technologien ersetzt werden".
"Aus sozioökonomischen Gründen gerechtfertigt"
Die Frage der Zulassung sei lange Zeit zwischen Parlament und Ministerrat heftig umstritten gewesen. Die gefundene Einigung sehe nun vor, dass eine Zulassung nur dann erteilt werde, wenn sich die Risiken bei der Verwendung "angemessen beherrschen" lassen oder "die Verwendung aus sozioökonomischen Gründen gerechtfertigt ist" und keine geeigneten Alternativen zur Verfügung stünden, "die wirtschaftlich und technisch tragfähig sind".
Hersteller und Importeure - und nicht die Behörden - müssten nachweisen, dass die Stoffe sicher seien. Sind "angemessene Alternativen verfügbar", dann müssen diese Stoffe keineswegs anstelle der giftigeren umgehend verwendet werden. Vielmehr soll dann ein "Substitutionsplan" einschließlich eines "Zeitplans" für die "vorgeschlagenen Maßnahmen" vorgelegt werden, um die gefährliche Chemikalie durch die sichere Alternative irgendwann zu ersetzen. Existierten keine Alternativen, müsse ein "Forschungs- und Entwicklungsplan" vorgelegt werden.
Für Stoffe mit persistenten, bioakkumulierbaren und toxischen oder sehr persistenten und sehr bioakkumulierbaren Eigenschaften werde eine Zulassung dann erteilt, wenn "nachgewiesen" werde, "dass der sozioökonomische Nutzen die Risiken überwiegt, die sich aus der Verwendung des Stoffes für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt ergeben, und wenn es keine geeigneten Alternativstoffe oder -technologien gibt".
Zulassungen unterlägen einer befristeten Überprüfung und seien in der Regel an Auflagen, einschließlich einer Überwachung, geknüpft. Die Dauer der befristeten Überprüfungen werde für jeden Einzelfall festgelegt. "Zulassungen werden so lange als gültig angesehen, bis die Kommission beschließt, die Zulassung im Rahmen einer Überprüfung zu ändern oder zu widerrufen, sofern der Zulassungsinhaber mindestens 18 Monate vor Ablauf des befristeten Überprüfungszeitraums einen Überprüfungsbericht vorlegt."
Sacconi schätzt, dass von den 30.000 Alt-Chemikalien mit weitgehend unbekannten Informationen über Gesundheitsrisiken lediglich 2500 bis 3000 "gefährliche Substanzen" zugelassen werden müssen.
Die Chemieindustrie gewinnt für viele Stoffe erst einmal viel Zeit. Innerhalb von 12 Jahre nach Inkrafttreten von REACH werde "geprüft, ob die Verpflichtung zur Durchführung einer Stoffsicherheitsbeurteilung und zur Erstellung eines Stoffsicherheitsberichts auch auf Stoffe angewendet werden soll, die dieser Verpflichtung nicht unterliegen, weil sie nicht registrierungspflichtig sind oder zwar registrierungspflichtig sind, jedoch in Mengen von weniger als 10 Tonnen pro Jahr hergestellt oder importiert werden".
Für Stoffe, die die Kriterien für die Einstufung als krebserzeugend, erbgutverändernd oder fortpflanzungsgefährdend erfüllen, sei die Überprüfung innerhalb von sieben Jahren vorzunehmen. "Bei der Überprüfung berücksichtigt die Kommission die den Herstellern und Importeuren durch die Erstellung des Stoffsicherheitsberichts entstehenden Kosten, die Aufteilung der Kosten zwischen den Akteuren der Lieferkette und den nachgeschalteten Anwendern sowie den Nutzen für die menschliche Gesundheit und die Umwelt."
Umweltbundesamt vermisst "die notwendige Konsequenz"
Nach Auffassung des Umweltbundesamtes (UBA) ist positiv, dass nun die Hersteller und Importeure die Sicherheit der Chemikalien und der aus diesen hergestellten Produkten hinsichtlich der menschlichen Gesundheit und der Umwelt "nachweisen" müssten.
"Was bei elektrischen Geräten oder Automobilen schon lange gang und gäbe ist, gilt endlich auch für Chemikalien und die daraus hergestellten Produkte: Sie sind auf ihre Sicherheit geprüft", meint der Präsident des Umweltbundesamtes Professor Andreas Troge. REACH werde den Gesundheits- und Umweltschutz in der EU entscheidend verbessern, so Troge einerseits. Andererseits kritisiert er, dass "ausgerechnet bei besonders gefährlichen Stoffen" REACH die notwendige Konsequenz vermissen lasse.
Leider setze sich das Prinzip der Hersteller-Verantwortlichkeit bei den Sicherheitsnachweisen gerade bei besonders kritischen Chemikalien nicht konsequent fort. Das Umweltbundesamt schlage schon seit Jahren vor, besonders langlebige Chemikalien, die sich in Organismen anreicherten und giftig seien, möglichst zu ersetzen. "Es handelt sich dabei um Stoffe mit persistenten, bioakkumulierenden und toxischen (PBT) Eigenschaften, also um so genannte PBT-Stoffe." Diese seien zwar nach REACH zulassungspflichtig, was bedeute, dass die EU-Kommission ihren Einsatz "genehmigen" müsse. "Aber: Einige PBT-Stoffe sind mit den REACH-Kriterien gar nicht als kritisch erkennbar."
Zum Kompromisspaket gehöre auch die Verpflichtung, besonders kritische, zulassungspflichtige Chemikalien durch weniger gefährliche Stoffe zu ersetzen. "Diese Regel gilt jedoch nicht für Chemikalien, die auf das Hormonsystem wirken." Sie dürften weiter zum Einsatz kommen, falls die Risiken für Mensch und Umwelt "angemessen beherrschbar" sein sollten. "Was aber bedeutet angemessen beherrschbar?", fragt das Umweltbundesamt. "Und wer kontrolliert dies? Hier bleibt REACH noch immer hinter den eigenen Ansprüchen zurück." Positiv sei, dass der Kompromiss wenigstens vorsehe, auch diese Regelung nach sechs Jahren auf EU-Ebene zu überprüfen.
Ein dritter Aspekt sei leider bei den Verhandlungen auf der Strecke geblieben: Für Stoffe mit einer jährlichen Produktions- oder Importmenge unter zehn Tonnen - das sei etwa das Fassungsvermögen eines mittelgroßen Lkw - müssten die Hersteller und Importeure nicht generell, sondern nur bei konkreten Hinweisen auf eine besondere Gefährdung Daten zu den Wirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt vorlegen. "Wie aber lassen sich Gefährdungen ohne diese Informationen erkennen?", fragt die Fachbehörde. "Bei diesen Stoffen müssen - im Gegensatz zum Prinzip von REACH - nicht die Hersteller oder Importeure, sondern wieder die Behörden nachweisen, dass die Stoffe potenziell gefährlich sind."
Diese Unzulänglichkeiten sollten nach Auffassung des Umweltbundesamtes "jedoch nicht die Gesamtbilanz trüben: REACH ist ein Sprung nach vorne zu mehr Chemikaliensicherheit für Gesundheit und Umwelt. Endlich wird es nicht mehr belohnt, über einen Stoff möglichst wenig zu wissen; und die Stoffanwender erhalten echte Informationen über die Risiken der Stoffe, mit denen sie umgehen."
Bulling-Schröter: "Insbesondere die Bundesrepublik hat an der Verwässerung mitgewirkt"
Die Linksabgeordnete im Deutschen Bundestag, Eva Bulling-Schröter, sagte, aus einem "vormals weitgehend fortschrittlichen Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission" sei ein im Wesentlichen an den Interessen der Chemieindustrie ausgerichtetes Gesetz geworden. "Insbesondere die Bundesrepublik hat an der Verwässerung mitgewirkt."
Vertreter der Bundesregierung und EU-Spitzenbeamte aus Deutschland seien im Rat und in der EU-Kommission als Repräsentanten der heimischen chemischen Industrie aufgetreten. "Ähnlich verhielten sich die Abgeordneten von Union, SPD und FDP im EU-Parlament. Sie haben die wirtschaftlichen Interessen der Chemiekonzerne gegen die Interessen von Mensch und Umwelt weitgehend durchgesetzt", meint Bulling-Schröter.
Bislang seien nur etwa 4.000 Stoffe darauf geprüft worden, ob sie Gesundheit oder Ökosysteme schädigten. Mit der neuen Chemikalienverordnung sollten nun 12.000 gründlich überprüft werden. Auf dem EU-Markt befänden sich aber rund 100.000 so genannter Altstoffe, die vor 1981 auf den Markt gekommen seien - etwa 30.000 davon würden gegenwärtig mit mehr als einer Tonne Jahresproduktion eingesetzt.
Breyer: "Handschrift der deutschen Chemieunternehmen"
Die grüne Europaabgeordnete Hiltrud Breyer sagte, es sei "beschämend, dass das Europaparlament REACH zur Mogelpackung gemacht hat". Eine giftfreie Zukunft für Umwelt- und Bürger in Europa sei damit in weite Ferne gerückt. "Die Abgeordneten sind in die Knie gegangen vor dem Lobbydruck der europäischen Chemieindustrie. Die Verordnung ist ein fauler Kompromiss, der ganz klar die Handschrift der deutschen Chemieunternehmen trägt. Diese haben umfangreiche Zugeständnisse bekommen."
Das Herzstück der "verpflichtenden Substitution" sei "herausgerissen" worden. Es werde für Industrieunternehmen nur wenig Anreize geben, hochgefährliche Chemikalien durch harmlosere zu ersetzen. "Es ist unverantwortlich, diesen Stoffen eine Autorisierung zu geben und sie am Markt zu belassen, selbst wenn es weniger schädliche machbare Alternativen gibt", meint Breyer. "Daher ist auch der geplante Substitutionsplan und adäquate Kontrolle reine Augenwischerei. Europäische Industriegifte werden weiter da auftauchen, wo sie nichts zu suchen haben, nämlich im Blut von Kinder und Erwachsenen, in der Muttermilch, im Trink- und Grundwasser und im Fettgewebe der Eisbären."
Umweltverbände: Bundesregierung hat verbindlichen Ersatz verhindert
Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Greenpeace und WECF (Women in Europe for a Common Future) kritisierten, dass Krebs erregende, die Fruchtbarkeit schädigende und hormonell wirksame Chemikalien weiter vermarktet werden dürften, selbst wenn sichere Ersatzstoffe vorhanden seien. Der Bundesregierung warfen die Verbände vor, den verbindlichen Ersatz besonders gefährlicher Risiko-Chemikalien verhindert zu haben.
Die Testanforderungen seien für ungefähr 20.000 der 30.000 von REACH erfassten Chemikalien auf Druck der Industrie stark abgeschwächt worden: "Dank der gemeinsamen Bemühungen der deutschen Industrie und der Bundesregierung ist aus dem Löwen REACH ein zahmes Kätzchen geworden", meint Greenpeace-Sprecherin Corinna Hölzel. "Über die Gefährlichkeit vieler Stoffe wird man auch künftig erst durch Chemieskandale etwas erfahren. Solange giftige Chemikalien weiter vermarktet werden dürfen, besteht für die Industrie kaum Anreiz, Geld in die Entwicklung sicherer Alternativen zu investieren."
Nach der neuen Chemikalienverordnung blieben Risiko-Chemikalien erlaubt, "wenn die Hersteller behaupten, sie angemessen zu kontrollieren" seien. Daniela Rosche vom WECF betrachtet es als "Skandal, dass Stoffe, die Fehlgeburten oder Entwicklungsstörungen bei Föten hervorrufen können, nicht ersetzt werden müssen. Damit werden auch nachkommende Generationen mit den gefährlichen Stoffen belastet."
Die Verbände werten positiv, dass in Zukunft wenigstens die nicht abbaubaren und sich im menschlichen Körper anreichernden Stoffe durch Alternativen ersetzt werden müssten, sobald diese vorhanden seien. Auch könnten Stoffe, die in sehr großen Mengen hergestellt werden, nicht mehr ungetestet vermarktet werden.