Der Antrag der NRW-CDU für den Parteitag der Christdemokraten Ende November in Dresden sieht vor, dass sich die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I bei 15 Beitragsjahren auf 15 Monate, bei 25 Jahren auf 18 Monate und bei 40 Beitragsjahren auf 24 Monate verlängert.
Die SPD hat mit dem Vorstoß des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten offenbar ganz erhebliche Probleme, will sie sich in der großen Koalition doch ihrerseits gerne als als sozialer Part profilieren. Nun wirft Beck Rüttgers "Populismus" vor. Rüttgers wolle lediglich seine "Wahlchancen verbessern", sagte Beck am Montag vor einer Sitzung des SPD-Präsidiums in Berlin und kritisierte: "Das kann nicht Politik sein."
Die CDU müsse sich entscheiden zwischen marktradikalen Positionen, einer verantwortlichen Regierungspolitik und dem "Wiedererstehen Blümscher Positionen". Vizekanzler Franz Müntefering (SPD) kommentierte Rüttgers' Vorstoß mit den Worten: "Vor einem Jahr machte die Union jedenfalls noch voll auf Westerwelle - und wir mussten verhindern, dass die aus dem Sozialstaat Kleinholz machen. Heute eifern einige in der Union wie Jürgen Rüttgers Gysi und Lafontaine nach."
Deren Kollege Klaus Ernst sagte, Rüttgers wolle zwar ältere Arbeitslose länger unterstützen, aber "auf Kosten der jüngeren, bei denen das Geld eingespart werden soll; gleichzeitig fordert Wirtschaftsminister Glos (CSU) ein Ende des Kündigungsschutzes und neue Schikanen für Erwerbslose. Arbeitsminister Müntefering lehnt jede Änderung beim Arbeitslosengeld ab und sieht kein Problem darin, dass Arbeitslose durch Hartz IV enteignet und in Armut getrieben werden".
Natürlich wäre es zu begrüßen, wenn ältere Arbeitslose länger Geld bekommen und höhere Rücklagen fürs Alter behalten dürfen, wie Rüttgers es fordert. Doch das Geld dafür darf nicht den jüngeren Menschen ohne Job weggenommen werden, so Ernst. "Stattdessen sollten die Milliardenüberschüsse der Bundesagentur für Arbeit dafür verwendet werden, denn genau für diesen Zweck sind diese Gelder da." Wie arbeitnehmerfeindlich die Politik der Union in Wahrheit sei, beweise Wirtschaftsminister Michael Glos mit seinem aktuellen Vorstoß für eine radikale Einschränkung des Kündigungsschutzes.
Horn: Versuch, mehr Gerechtigkeit herzustellen
Der Konjunkturforscher Gustav Horn wertet den Vorstoß der nordrhein-westfälischen CDU für eine längere Zahlung des Arbeitslosengeldes I als Versuch, mehr Gerechtigkeit herzustellen. Der Chef des gewerkschaftsnahen des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) sagte der in Halle erscheinenden "Mitteldeutschen Zeitung": "Es ist schon brutal, dass Menschen nach einem Jahr Arbeitslosigkeit in Armut fallen."
Horn sagte, die Verlängerung des Bezugs von Arbeitslosengeld I für Arbeitnehmer, die entsprechend länger eingezahlt haben, könnte aus den Beiträgen für die Arbeitslosenversicherung bezahlt werden. Er fügte hinzu: "Das ist möglich, weil die Bundesagentur für Arbeit Überschüsse macht." Kürzungen bei Arbeitslosen, die nicht so lange eingezahlt haben, seien nicht sinnvoll.
Bauer: "Versicherungsäquivalente Auszahlung" - Entlassung von Älteren
Thomas Bauer vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung warnte in dem Blatt hingegen vor einer Umsetzung der Vorschläge. Wenn die Leistungen der Arbeitslosenversicherung "versicherungsäquivalent" ausgezahlt würden, dann bedeutete dies nicht nur eine Verlängerung für langjährige Einzahler, sondern auch eine Verkürzung für diejenigen, die nicht so lange eingezahlt haben. "Es ist außerdem zu befürchten, dass man gerade älteren Arbeitnehmern einen Bärendienst erweist, weil Arbeitgeber dann Beschäftigungsanpassungen vor allem über die Entlassung von Älteren vornehmen."
Mit der gleichen Argumentation sind die Arbeitgeber gegen den Vorschlag. Dies würde nur die Frühverrentung wieder fördern, so Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt am Dienstag auf dem Deutschen Arbeitgebertag in Berlin. Die Arbeitslosenversicherung sei eine "Risiko-, und keine Ansparversicherung". Dies sollte auch Rüttgers erkennen.
Auch Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) lehnt eine längere Auszahlung des Arbeitslosengeldes I ab. Dieser Vorschlag der NRW-CDU ginge zu Lasten der jungen Beitragszahler, weil deren Ansprüche dadurch weiter verkürzt würden, sagte Milbradt am Dienstag im Deutschlandfunk und fügte hinzu: "Ich sehe da kaum eine praktikable Lösung, ganz davon abgesehen, dass wir auch wieder ein Generationenproblem haben. Die demografische Entwicklung gehe zu Lasten der jungen Generation, die nicht überlastet werden dürfe, sagte Milbradt.
Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Ludwig Georg Braun, sagte zum Verstoß von Rüttgers: "An dieser Stelle ist der Ministerpräsident noch von gestern". Arbeitsmarktpolitisch sei dieser Vorschlag "kontraproduktiv und damit sogar unsozial", sagte Braun. Eine längere Auszahlungsdauer würde die Arbeitslosigkeit tendenziell erhöhen und "die Praxis der Frühverrentung wieder aufleben lassen". Wenn der Anreiz fehle, schnell wieder einen Job anzunehmen, dann drohe "die Abwärtsspirale längere Arbeitslosigkeit und Qualifikationsverlust", argumentierte Braun.
Lafontaine: 60.000 Euro einzahlen - 10.000 Euro bekommen
Linksfraktionschef Oskar Lafontaine sagte, die Koalition müsse die Zahldauer des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitnehmer verlängern. "Ein Durchschnittsverdiener zahlt in 40 Jahren 60.000 Euro in die Arbeitslosenversicherung ein und erhält jetzt ganze 10.000 Euro Arbeitslosengeld. Das ist unhaltbar."
Die Koalitionsparteien, die die Arbeitslosenversicherung zerstört und ihres solidarischen Charakters weitgehend beraubt hätten, dürften nicht länger zögern, diese verhängnisvolle Entwicklung rückgängig zu machen, fordert Lafontaine. Nicht nachvollziehbar sei die Haltung der SPD. Während sich in der Union die Stimmen mehrten, die die Dauer der Beitragsleistung bei der Auszahlung des Arbeitslosengeldes wenigstens ansatzweise berücksichtigen wollten, stelle sich die SPD stur und weigere sich, "die Enteignung der Arbeitnehmer rückgängig zu machen".
Müntefering: 1,2 Milliarden Euro für Arbeitslose sind "nicht finanzierbar"
Die von Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) verlangte Revision der "Hartz"-Reform würde nach Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums jährlich 1,2 Milliarden Euro kosten. Neben der inhaltlichen Ablehnung seien die Pläne damit auch nicht finanzierbar, sagte ein Sprecher von Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) am Montag in Berlin.
Da sich die Koalition gerade erst verständigt habe, mit 2,5 Milliarden Euro den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung stärker abzusenken als geplant, sei die "Finanzierbarkeit weiterer Maßnahmen erschöpft", betonte er. Rüttgers hatte vorgeschlagen, die Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I stärker an die Zeit der Beitragszahlung zu koppeln.
Regierungssprecher Ulrich Wilhelm fügte hinzu: "Niemand in der Koalition will den gleichen Euro zweimal ausgeben." Eine Lösung, die die beschlossene Beitragssenkung gefährde, könne es nicht geben. Den Verfechtern des Konzepts, zu denen auch CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla gehört, sei klar, dass eine Änderung nur ohne zusätzliche Kosten möglich sei. Wenn der CDU-Parteitag Ende November das Konzept annehme, werde in der Koalition besprochen, "ob das Teil des Regierungshandelns werden kann".
Müntefering hatte dies bereits kategorisch ausgeschlossen. Die verlängerte Bezugsdauer für Ältere würde laut Ministerium rund 700 Millionen Euro im Jahr kosten, die Aufstockung der so genannten Altersschonvermögen 500 Millionen. Der Sprecher betonte, Rüttgers Konzept widerspreche laufenden Arbeitsmarkt-Maßnahmen und werde nicht von der SPD geteilt.
40 Milliarden Euro - 10 Milliarden Euro - 29 Milliarden Euro
Die Äußerungen, 1,2 Milliarden Euro für Arbeitslose seien "nicht finanzierbar", sind bemerkenswert vor dem Hintergrund der aktuellen Steuerschätzung. Dank der guten Konjunktur dürfen Bund, Länder und Gemeinden auf einen wahren Geldsegen hoffen. Die Hüter der öffentlichen Kassen können laut aktueller Steuerschätzung bis 2007 insgesamt mit zusätzliche Einnahmen von 39,5 Milliarden Euro rechnen.
Auch macht die Bundesagentur für Arbeit in diesem Jahr kräftige Überschüsse. Der diesjährige Überschuss der Bundesagentur könnte laut BA-Chef Frank-Jürgen Weise die Marke von zehn Milliarden Euro übersteigen. Er schließe nicht aus, dass unter günstigen Bedingungen ein zweistelliger Milliardenbetrag erreicht werde, so Weise. Bislang wird erwartet, dass der Überschuss zwischen 8,8 und 9,6 Milliarden Euro liegt.
Neben diesen zusätzlichen milliardenschweren Einnahmen hat die Bundesregierung jüngst auch milliardenschwere Ausgaben an anderer Stelle als finanzierbar angesehen. So haben sich die Finanzexperten von Union und SPD unlängst auf eine Unternehmenssteuerreform verständigt. Die Steuerbelastung für Kapitalgesellschaften soll danach um rund neun Prozentpunkte auf 29,83 Prozent gesenkt werden.
Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) sagte, die geplanten Maßnahmen sowie eine neue Abgeltungssteuer von 25 Prozent ab 2009 hätten ein Entlastungsvolumen von rund 29 Milliarden Euro, von denen rund 24 Milliarden Euro durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und höhere Anreize, Gewinne in Deutschland zu versteuern, gegenfinanziert werden könnten. Die Einnahmeausfälle für den Staat würden damit in den ersten Jahren auf fünf Milliarden Euro begrenzt.
Der erfolgreiche Abschluss der Arbeiten sei ein Beleg für die Gestaltungsfähigkeit der großen Koalition. "Wir liefern ab", betonte Steinbrück. In allen entscheidenden Fragen sei Einigkeit erzielt worden. Lediglich technische Details müssten nun im Gesetzgebungsverfahren geklärt werden, das bis zur Sommerpause 2007 beendet sein solle. Die Reform soll zum 1. Januar 2008 in Kraft treten.
Für Arbeitslose sind allerdings 1,2 Milliarden Euro laut Müntefering "nicht finanzierbar".