Der Finanzminister beklagte, "wie ersichtlich interessengeleitete Forderungen immer dringlicher - um nicht zu sagen: dreister - an die Politik herangetragen werden". Dabei würden - zum Teil nicht ungeschickt - Partikularinteressen mit dem Allgemeinwohl scheinbar gleichgesetzt, was nur von der eigenen Weigerung ablenken soll, seinen eigenen, angemessenen Teil "zur Verbesserung des Ganzen" zu erbringen.
Nicht verschwiegen sei in diesem Zusammenhang, dass die Politik diesen Versuchen, Einzelinteressen durchzusetzen, entschieden zu häufig nachgebe.
Steinbrück nannte zwei Beispiele: "Nehmen Sie die jüngsten Fälle der Erhöhung der Dienstwagenbesteuerung oder des Stichtags der Abschaffung der steuerlichen Förderung bestimmter Verlust zuweisender Fonds. Hier wurde die Politik einem massiven Druck der betroffenen Interessengruppen ausgesetzt, diese Vergünstigungen nicht einzuschränken. Aber durchgesetzt hat sich am Ende die politische Vernunft: Warum, bitte, sollte der Steuerzahler einen so genannten Dienstwagen subventionieren, der noch nicht einmal zur Hälfte beruflich genutzt wird?"
Besonders ärgerlich sei, dass aus gleichem Munde, und oft im selben Atemzug, der unbedingte Erhalt von staatlichen Leistungen und die zügige Konsolidierung gefordert werde.
"Lobbyisten in die Produktion"
"In Anlehnung an die Bürgerrechtler in der damaligen DDR müsste ich an dieser Stelle eigentlich die Forderung erheben: Lobbyisten in die Produktion", so Steinbrück. "Ich will aber nur deutlich machen, dass eine zukunftsfähige Haushalts- und Finanzpolitik ein robustes Immunsystem entwickeln muss gegen die Attacken organisierter Einzelinteressen. Ich habe nichts gegen seriösen Lobbyismus als Teil der politischen Entscheidungsfindung, aber maßlose Drohungen und penetrante Scheinheiligkeiten aller Art werden wir beim Namen nennen und immer dann in die Schranken weisen, wenn Einzelinteressen für Gemeinwohlinteressen ausgegeben werden."
Allein um das Berliner Gesundheitsministerium seiner Kollegin Ulla Schmidt hätten sich 430 Lobby-Verbände angesiedelt, kritisierte der Finanzminister.
Kritik an Kritik von Managern und Gewerkschaftsbossen
Schließlich kritisierte der Politiker auch noch die Manager und Gewerkschaftsbosse: "Verantwortung für unser Land bedeutet auch, dass in der Öffentlichkeit nicht der falsche Eindruck vermittelt wird, die Politik versage durchweg und treffe meistens fehlerhafte oder unzureichende Entscheidungen – natürlich ganz anders als die fehlerfrei arbeitenden Vorstandsetagen, Geschäftsführungen oder Gewerkschaftsleitungen."
Selbstredend mache auch die Politik Fehler. Aber die Bereitschaft, der politischen Klasse in Deutschland Unfähigkeit zu attestieren, die Versessenheit, das Haar in der Suppe zu finden, der "thrill", den schlechte Nachrichten auszulösen vermögen, weil der Gesprächswert von Ängsten und vom Scheitern höher ist als der vom Gelingen, oder die verbreitete Empörungskultur, auch und gerade auf dem medialen Resonanzboden - all das trage nicht zur Zuversicht bei und sei bei unseren europäischen Nachbarn selten oder gar nicht zu finden.
Wer in einem höchst komplexen Umfeld immer den großen Wurf, immer den Durchbruch fordere und dabei verschweige, dass der doch nur um den Preis von Benachteiligungen oder Verwerfungen an anderer Stelle zu haben wäre, der verkenne nicht nur den Charakter politischer Prozesse, der verunsichere auch die Menschen und verhindere damit ihre Einbindung und ihre Aufgeschlossenheit für weitere "Reformschritte".
Die Regierung Schröder hat nach Ansicht des Finanzministers "erste, wichtige Schritte eingeleitet, um den Reformstau im Lande aufzulösen". Zur Fähigkeit, neue Wege zu gehen, müsse nun auch die Bereitschaft kommen, bereits erzielte Fortschritte anzuerkennen. Steinbrück: "Wie sagt man in meiner rheinischen Wahlheimat: 'Man muss auch joenne koenne'. Sie glauben gar nicht: Das hebt die Stimmung."
"Deutschland hat neben der Slowakei die geringste Steuerquote in der EU"
"Sie sehnen sich nach weiteren guten Nachrichten?", fragte der Finanzminister die in Frankfurt versammelten Manager und nannte Beispiele: "Mit dem Aufbau der Kapitalgedeckten privaten Altersversorgung sind wir weiter, als viele glauben." Allein im letzten Jahr hätten sich die Riester-Rentenverträge verdoppelt.
Die letzte Bundesregierung habe die bisher umfangreichste Steuerreform in der Geschichte unseres Landes umgesetzt. Seit dem 1. Januar 2005 hätten die Einkommensteuersätze Tiefstände erreicht.
Genauso profitierten deutsche Unternehmen von der günstigen Entwicklung bei den Lohnstückkosten. Die hätten sich seit 1995 deutlich zurückhaltender entwickelt als bei vielen Handelspartnern im Euroraum, aber auch als im Osten Europas. "Das bedeutet: Jedes Jahr nimmt die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland ein Stückchen zu statt ab."
Mit unter 20 Prozent sei die deutsche Steuerquote 2005 signifikant unter ihren langfristigen Durchschnitt von 23 Prozent gefallen. Damit habe Deutschland – neben der Slowakei – die geringste Steuerquote in der EU. Der Durchschnitt liege bei rund 29 Prozent. Das oft als Vorbild für den "bescheidenen Staat" gepriesene Vereinte Königreich verharre hingegen auf 29,4 Prozent.
Selbst bei Betrachtung der Abgabenquote, die die relativ hohen Sozialabgaben einschließe, sei Deutschland mit 34,6 Prozent im unteren Mittelfeld positioniert – bei einem EU-Durchschnitt von 40,5 Prozent. Auch hier sei die Belastung im Vereinigten Königreich mit 36,1 Prozent höher als bei uns. "Und all dies trotz der finanziellen Belastung durch den jährlichen innerstaatlichen Transfer von West nach Ost in Höhe von 4 Prozent des BIP."
"Unsere ach so hohe Staatsquote"
"Wie steht es um die angeblich ungebremste Subventionitis des Bundes und unsere ach so hohe Staatsquote – nicht auszuhalten, oder?", fragte Steinbrück. "Hier die Fakten: Subventionen und konsumtive Ausgaben wurden konsequent gekürzt, die Finanzhilfen im Vergleich zu 1998 nahezu halbiert. Die Gesamtausgaben des Bundes sind von 1999-2004 lediglich um rd. 0,4 Prozent gestiegen. Real bedeutet dies einen Ausgabenrückgang. Zum ersten Mal in den letzten sechzig Jahren. Auch dadurch ist die Staatsquote im vergangenen Jahr auf den niedrigsten Stand seit 1991 gesunken." Der direkte Vergleich mit den Wettbewerbern spreche eine klare Sprache: "Seit 1995 haben wir unsere Staatsquote um gut 3 Prozentpunkte zurückgefahren - in Frankreich und dem Vereinigten Königreich war es jeweils gerade einmal ein Viertel davon."
Und nicht zuletzt gebe Deutschland mit 6,3 Prozent des BIP deutlich weniger für die öffentliche Verwaltung aus als andere EU-Staaten wie Italien mit 9,1 Prozent, die Niederlande mit 8,1 Prozent, Polen mit 7 Prozent und Frankreich mit 7,1 Prozent.
"Wir haben deshalb", so Steinbrück, "entgegen vielerlei Einwendungen und trotz der Aufwendungen, die wir für die Vollendung der Deutschen Einheit gerne leisten – auf der Ausgabenseite kein Niveauproblem, sondern ein Strukturproblem. Die Zusammensetzung, die Verkarstung auf der Ausgabenseite, die ist das Problem."