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Schutz der Rohstoffversorgung

Struck: "Herausforderungen und Perspektiven der europäischen Sicherheitspolitik"

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Der Schutz der Energie- und Rohstoffversorgung zählt nach Auffassung des deutschen Bundesministers der Verteidigung, Peter Struck, zu den legitimen gemeinsamen Interessen Europas, die gemeinsames internationales Handeln der europäischen Staaten erfordern können. In seiner Rede vom 9. November 2004 in Berlin auf dem "15. Forum Bundeswehr & Gesellschaft" der Zeitung Welt am Sonntag, plädierte er für eine umfassende europäische Sicherheitsstrategie und Militäreinsätze zur Durchsetzung europäischer Interessen. ngo-online dokumentiert den Redebeitrag mit dem Titel "Herausforderungen und Perspektiven der europäischen Sicherheitspolitik" im Wortlaut (Hervorhebungen durch ngo-online):


Meine Damen und Herren! Herausforderungen und Perspektiven der europäischen Sicherheitspolitik hängen eng mit den Antworten auf drei Fragen zusammen.

Welches Selbstverständnis hat Europa als internationaler sicherheitspolitischer Akteur?

Die erste Frage lautet: Welches Selbstverständnis hat Europa als internationaler sicherheitspolitischer Akteur? In der Europäischen Sicherheitsstrategie heißt es dazu, die EU sei auf Grund ihrer Bevölkerungszahl, ihrer Wirtschaftskraft und ihrer Instrumente "zwangsläufig ein globaler Akteur". Die geografischen und materiellen Grenzen des europäischen sicherheitspolitischen Engagements müssen also bestimmt werden - in Europa, in Afrika und darüber hinaus. Und wir müssen uns auch klarer darüber werden, was die europäischen Interessen, die europäische Verantwortung und die europäischen Ressourcen in diesem Zusammenhang vorgeben. Dieses Prüfraster werden wir künftig bei jedem europäisch geführten Einsatz anlegen müssen. Das dient auch dazu, dem Parlament und der Öffentlichkeit Sinn und Zweck des Engagements zu vermitteln. Niemand wird zum Beispiel die besonderen moralisch-geschichtlichen Verpflichtungen Europas gegenüber zahlreichen Staaten Asiens und Afrikas leugnen wollen. Nicht zuletzt deshalb hat die EU die Operation ARTEMIS im Kongo durchgeführt. Moral und Geschichte reichen sicherlich nicht aus, um in jedem Einzelfall über Europas sicherheitspolitisches Engagement zu entscheiden. Andere Faktoren müssen hinzukommen vorrangig die europäischen Interessen. Ich denke, dass in der Tat die wirtschaftliche Entwicklung Europas im 20. Jahrhundert, die Globalisierung und das Aufkommen neuer Bedrohungen zu gemeinsamen materiellen Interessen der Europäer geführt haben. Sie stehen gleichwertig neben ideellen Verpflichtungen. Zu diesen Interessen gehören der Schutz gegen internationalen Terrorismus oder die Begrenzung der Auswirkungen destabilisierender Konflikte in der europäischen Nachbarschaft. Dazu gehören auch der Schutz vor illegaler Immigration und organisierter Kriminalität oder der Schutz der Energie- und Rohstoffversorgung. Dies sind legitime gemeinsame Interessen, die gemeinsames internationales Handeln der europäischen Staaten erfordern können. Die Europäische Sicherheitsstrategie ist in diesem Zusammenhang ein Meilenstein auf dem Weg zu größerer strategischer Klarheit über außen- und sicherheitspolitische Ansprüche und Ziele des neuen Europa. Dazu gehören Antworten auf die Fragen: Für welche Art Operationen, in welcher Anzahl und Größe, in welchen Regionen soll die EU planen? Was sind ihre wahrscheinlichsten Einsatzoptionen? Diese Antworten könnten in einem Dokument erarbeitet werden, für das sich der Arbeitsbegriff "Verteidigungsstrategie" anbietet. Ein solches Dokument böte den EU-Mitgliedsstaaten auch eine klarere konzeptionelle Grundlage zur Ableitung der eigenen erforderlichen militärischen Fähigkeiten.

Wie wird das Verhältnis Europas zu Amerika, von EU zur NATO gestaltet?

Meine Damen und Herren! Die zweite Frage, die für die Perspektiven europäischer Sicherheitspolitik von großer Bedeutung ist, lautet: Wie wird das Verhältnis Europas zu Amerika, von EU zur NATO gestaltet? Dies ist eine politische und strategische Kernfrage. Klar ist, dass unnötige Rivalität und Duplizierung von Fähigkeiten für beide Seiten nur von Nachteil sein können. Es gibt nicht nur hohe Übereinstimmung in den Grundwerten zwischen den transatlantischen Partnern. Es gibt auch eine Agenda zur Bewältigung globaler Herausforderungen, die gemeinsames Handeln zwingend erforderlich macht. Kaum eine politische und sicherheitspolitische Herausforderung von Gewicht kann heutzutage im nationalen Alleingang gelöst werden. Auch für die USA heißt dies, dass multilaterales Vorgehen, gerade mit den europäischen Partnern, zur Bewältigung globaler Sicherheitsprobleme in aller Regel die bessere Option darstellt. Es heißt aber auch: Die USA als politische und militärische Weltmacht mit besonderen Verpflichtungen und Interessen setzen auf Unterstützung und auf Mitverantwortung der europäischen Partner beim Management von Krisen und Konflikten. In Europa, aber auch außerhalb. Die viel beachtete Studie "Transatlantic Trends 2004" des German Marshall Fund vom September unterstreicht dies. Danach möchten 79 Prozent der Amerikaner, dass die Europäische Union in internationalen Angelegenheiten eine starke Führungsrolle übernimmt. Ein handlungsfähiges und zur Übernahme von Verantwortung bereites Europa wird seinen Einfluss auf die amerikanische Supermacht besser geltend machen können. Umgekehrt heißt das aber auch, dass rhetorischer Anspruch auf Gehör und Mitsprache nicht zu trennen ist von der Bereitschaft, gemeinsam mit den Amerikanern zu handeln.

Heute sind allein weit über 25.000 europäische Soldaten auf dem Balkan, in Afghanistan und an anderer Stelle im Einsatz. Die Ablösung von SFOR durch die EU-Operation ALTHEA ist ein weiteres Beispiel für eine strategische Partnerschaft zwischen Europa und Amerika. NATO und EU arbeiten hier eng zusammen. Wer das Zusammenwirken von NATO und EU organisiert, weiß: Zusammenarbeit und Arbeitsteilung zwischen NATO und EU sind nicht statisch. Denn sowohl die EU als auch die NATO befinden sich in tiefgreifenden Prozessen der Anpassung an veränderte Bedingungen. Die Entwicklung der ESVP kann nicht losgelöst betrachtet werden von der NATO der Zukunft. Die Anpassung beider Sicherheitsinstitutionen kann nur komplementär vorangetrieben werden - auf der Grundlage von Vertrauen und Transparenz. Unerlässlich erscheint auch ein gemeinsames strategisches Grundverständnis der Europäer und ihrer amerikanischen Bündnispartner über die sicherheitspolitische Agenda. Dieses scheint bisweilen, wie im Falle des Irak-Krieges deutlich wurde, zu fehlen. Die NATO muss daher wieder stärker zum Forum der strategischen Diskussion genutzt werden. Hier vor allem muss der transatlantische Dialog geführt werden. Gleichermaßen muss die angestrebte strategische Partnerschaft zwischen NATO und EU auch einen strategischen Austausch über globale Sicherheitsfragen umfassen.

Sind die Europäer wirklich bereit, ihre sicherheitspolitischen Ziele mit entsprechenden Taten und Anstrengungen zu untermauern?

Meine Damen und Herren! Die dritte Frage, die sich mit Blick auf die Perspektiven der europäischen Sicherheitspolitik stellt, ist: Sind die Europäer wirklich bereit, ihre selbst gesteckten sicherheitspolitischen Ziele mit entsprechenden Taten und Anstrengungen zu untermauern? Nach der erwähnten Studie "Transatlantic Trends 2004" des German Marshall Fund sind zwar über 70 Prozent der Europäer dafür, dass die EU eine Supermacht wie die USA werden sollten. Aber nur gut 20 Prozent wären bereit, dafür höhere Militärausgaben zu akzeptieren. Der politische Anspruch, den Europa formuliert, muss in der Realität eingelöst werden. Und dies gilt für verschiedene Handlungsebenen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten. Eine Ebene sind die militärischen Fähigkeiten der EU. Sie müssen in Übereinstimmung mit den strategischen Zielen der Europäischen Sicherheitsstrategie - weiter entwickelt werden. Dies sollte ohne unnötige Duplizierungen mit der NATO geschehen, aber mit dem Ziel, einen eigenständigen Beitrag leisten zu können, wenn dies erforderlich ist und es die eigenen Interessen gebieten. Im Ergebnis wird die sicherheitspolitische Handlungsflexibilität von Amerikanern und Europäern erhöht. Für die Europäische Union heißt das konkret die Weiterentwicklung der europäischen Streitkräfteziele (das European Headline Goal 2010) unter Berücksichtigung der realen Krisenmanagement-Erfordernisse. Quantitativ wurde das European Headline Goal bis 2003 erfüllt. Qualitativ bestehen weiterhin erhebliche Fähigkeitslücken, vor allem in den Bereichen strategischer Transport, strategische Aufklärung und Führungsfähigkeit. Auch zeigen die Erfahrungen aus bisherigen Operationen, dass höhere Flexibilität, Mobilität und Interoperabilität von Kräften dringend erforderlich sind. Nur so kann das gesamte Spektrum möglicher Operationen gemäß EU-Vertrag abgedeckt werden. Mit dem Headline Goal 2010 wird die EU in die Lage versetzt, zeitgleich mehrere kleinere und mittlere Operationen durchzuführen. Zu Verbesserung der Fähigkeiten der EU zur raschen Bewältigung von Krisen gehört auch eine vernünftige Ausgestaltung des "Battlegroups"-Konzepts. Das Konzept ist anspruchsvoll, denn die Battlegroups müssen wegen der angestrebten raschen Verfügbarkeit schon vor dem Einsatz optimal auf schwierige Einsätze vorbereitet sein. Dies verlangt gute gemeinsame Ausbildung, genau abgestimmte Verfahren sowie Kompatibilität von Ausrüstung und Ausstattung. Das Battlegroups-Konzept ist auf breite Unterstützung in der EU gestoßen.

Am 22. November werden im Rahmen des Treffens der EU-Verteidigungsminister verbindliche Zusagen der Nationen zu ihrer Beteiligung in den nächsten Jahren erwartet. Deutschland wird sich angemessen an der Umsetzung des Konzepts zu beteiligen. Schon in der Übergangsphase 2005 und 2006 werden wir begrenzte nationale Fähigkeiten einbringen. Ab 2007, dem Zeitpunkt, ab dem das Konzept vollständig greifen soll, ist die Beteiligung - grundsätzlich in Kooperation mit unseren europäischen Partnern vorgesehen. Das heißt nach dem gegenwärtigen Stand der Planung:

Ab 2007 wird Deutschland zusammen mit den Niederlanden unter Beteiligung von Finnland eine Battlegroup bilden. Ab Mitte 2008 wird die Deutsch-Französische Brigade den Kern einer weiteren gemeinsamen Battlegroup bilden, an der sich voraussichtlich auch Belgien, Luxemburg und Spanien beteiligen werden. Polen hat seine Bereitschaft signalisiert, ab 2009 die Führung einer Battlegroup mit deutscher, lettischer und slowakischer Beteiligung zu übernehmen. Ein drittes zentrales Projekt, das ich erwähnen möchte, um die EU als sicherheits- und verteidigungspolitischen Akteur voranzubringen, ist die Einrichtung der Europäischen Agentur für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten. Mit der im Verfassungsvertrag verankerten und jetzt zunehmend arbeitsfähigen Verteidigungsagentur werden die Europäer den materiellen Bedarf ihrer Streitkräfte stärker bündeln können.

Ich bin sicher, dass die Agentur einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der militärischen Fähigkeiten der EU und damit zur Weiterentwicklung europäischer Außen- und Verteidigungspolitik leisten wird.

Die EU trägt zum Frieden in der Welt bei

Meine Damen und Herren! Die künftige Sicherheitspolitik der EU muss der in der Europäischen Sicherheitsstrategie geforderten Bereitschaft entsprechen, "Verantwortung für die globale Sicherheit" und für die "Schaffung einer besseren Welt" zu übernehmen. Dieser Anspruch reicht weit über die Anwendung militärischer Instrumente hinaus. Wer wollte bestreiten, dass zur Beseitigung von Konfliktursachen und zum gesellschaftlichen Wiederaufbau Polizeikräfte, wirtschaftliche Unterstützung, die Förderung verantwortungsvoller Staatsführung und viele andere Faktoren gehören? Die EU verfügt über einen breiten Fächer diplomatischer, entwicklungs-, handels- und wirtschaftspolitischer sowie humanitärer, polizeilicher und militärischer Instrumente. Es muss ihr aber gelingen, dieses Spektrum von Handlungsoptionen in eine ganzheitliche Strategie einzubinden. Meine Damen und Herren! Institutionelle Regelungen und militärische sowie zivile Fähigkeiten können einen gemeinsamen politischen Willen zum außen- und sicherheitspolitischen Handeln nicht ersetzen. Der Irak-Krieg hat grundsätzliche Interessendivergenzen auch innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft offenbart, die für viele ernüchternd waren. Allerdings hat der Irak-Krieg 2003, wie zuvor schon der Kosovo-Krieg 1999, zu neuen Impulsen für die weitere Entwicklung der ESVP geführt. Es ist deshalb richtig und zeigt den Willen, die eigenen Möglichkeiten zu nutzen, wenn Deutschland, Großbritannien und Frankreich mit Rückendeckung sämtlicher EU-Mitglieder auch weiterhin dazu beitragen, in Teheran die nuklearen Gespenster zu vertreiben. Es ist richtig, wenn die EU versucht, eine Rolle im komplizierten Nahost-Konflikt zu übernehmen, um den politischen Prozess voranzubringen. Es ist auch richtig, wenn die EU die Afrikanische Union unterstützt, um die unerträgliche Situation im Sudan zu verbessern.

Wir sollten davon ausgehen, dass die Situationen, in denen die EU über die Art ihres sicherheitspolitischen Engagements entscheiden muss, zukünftig nicht weniger werden. Europa hat keine andere Wahl. Die vergrößerte EU rückt näher an die Krisengebiete im Osten und Süden heran. Das europäische Interesse an deren Stabilisierung wird zunehmen. Den Herausforderungen und Bedrohungen in der globalisierten Welt kann nur durch aktives Engagement, nicht durch sicherheitspolitische Abstinenz begegnet werden. Je handlungsfähiger die EU wird, desto mehr kann sie auch die Vereinten Nationen unterstützen und in deren Auftrag so wie es zum Beispiel das Battlegroups-Konzept vorsieht - zum Frieden in der Welt beitragen.

Schlusswort

Meine Damen, meine Herren! Deutschland hat ein elementares Interesse daran, dass NATO und Europäische Union die gewünschte aktive Rolle in der Gefahrenabwehr und in der Sicherung des Friedens wahrnehmen können. Die europäische Integration in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist weder Selbstzweck noch Selbstläufer. Damit die selbst gesteckten Ziele erreicht werden, bedarf es aber der Anstrengungen jedes einzelnen Landes, seine Streitkräfte im Sinne der gemeinsamen Vorgaben zu modernisieren. Dies gilt natürlich auch für Deutschland und die Bundeswehr. Gerade die größeren europäischen Nationen haben für die Entwicklung Europas zu einem sicherheitspolitischen Akteur eine besondere Verantwortung und Leitbildfunktion. Ich denke, dass wir dieser Verantwortung künftig stärker gerecht werden können, wenn die Bundeswehr Kurs und Tempo ihrer Umgestaltung beibehält.

Die Transformation der Bundeswehr und Deutschlands Engagement und Verpflichtungen in NATO und EU sind zwei Seiten einer Medaille. Wir sind hier auf gutem Wege. Das vor wenigen Tagen vorgelegte neue Stationierungskonzept ist ein weiterer zentraler Baustein des vor knapp zwei Jahren eingeleiteten neuen Kurses für unsere Streitkräfte. Damit stellen wir sicher, dass die Bundeswehr buchstäblich richtig aufgestellt ist, um zusammen mit unseren Verbündeten und Partnern in NATO und EU neue Aufgaben bewältigen und neuartigen Bedrohungen begegnen zu können. Ich danke Ihnen.

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