DIE Internet-Zeitung
Gentechnik durch die Hintertür

Was bringt die GVO-Kennzeichnungspflicht?

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Mögen Sie Tomaten? Dann kaufen Sie nie mehr als 111 Stück ? die Hundertzwölfte könnte gentechnisch verändert sein. Nach der Kennzeichnungsverordnung der EU müsste sie aber nicht gekennzeichnet werden, weil sie nämlich zufällig dazwischen gekommen ist. Wenn dagegen schon die Hundertelfte eine Gen-Tomate ist, dann muss das künftig draufstehen. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht: Bisher konnten Sie nur 99 Tomaten kaufen. Der Grenzwert wurde gerade von 1 auf 0,9 Prozent "verschärft". Pech, dass bei diesem Spiel leider auch schon die erste Tomate aus dem Gen-Labor stammen kann. Die Wahrscheinlichkeit wäre etwa doppelt so groß wie ein Dreier im Lotto.


Überall wo Gentechnik drin ist, soll auch "Gentechnik" drauf stehen, sagt die EU. Dies gilt neuerdings auch für solche Lebensmittel, in denen die Spuren der gentechnischen Veränderung nach der Verarbeitung nicht mehr nachgewiesen werden können, etwa im Pflanzenöl oder in Mais- und Kartoffelstärke. Grosso modo bietet die neue Kennzeichnungsverordnung Verbrauchern künftig effektiv die Möglichkeit, den Verzehr von Gentechnik zu vermeiden und ihr so einen Riegel vorzuschieben. Dagegen ist selbst US-Präsident Bush machtlos.

Für den Supermarkt um die Ecke stellt sich die Lage so dar: Für alle Produkte, die gentechnisch verändertes Material enthalten können, und das sind immerhin mehr als 60 Prozent (vor allem wegen der allgegenwärtigen Soja-Lezitin-Emulgato­ren in Fertigprodukten) muss eine Garantie des Lieferanten vorliegen, dass keine Zutat zu mehr als 0,9 Prozent aus gentechnisch veränderten Organismen (GVO) besteht. Es wird in Zukunft also eine Menge Formulare geben, die vor allem jene nerven und mit Haftungs-Risiken belasten, die keine Gentechnik haben wollen. Und das sind in Europa nicht nur 70 Prozent der Verbraucher und Bauern, sondern auch die meisten Supermärkte.

Am Anfang steht der Bauer. Weiß der, ob seine Ernte GVO enthält? Dazu muss er zuerst wissen, ob sein Saatgut sauber ist. Doch ausgerechnet das will die EU-Kom­mission jetzt mit einer speziellen, angeblich "rein technischen" Richtlinie verhindern. Die geplante Richtlinie führt gesonderte Grenzwerte ein, unterhalb derer das "zufällige Vorhandensein" gentechnisch veränderter Samen in Saatgut nicht erwähnt werden muss: 0,3 Prozent bei Raps, 0,5 Prozent bei Mais, Kartoffeln, Tomaten, Chicoree und Rüben, 0,7 Prozent gar bei Soja. Weitere Grenzwerte sollen nach Bedarf folgen. Motto: Wie viel GVO kann gerade noch im Saatgut sein, ohne dass dann die Ernte den Lebensmittelgrenzwert von 0,9 Prozent überschreitet?

Im Falle unserer Tomaten darf also jeder Zweihundertste Tomatensamen ein GVO sein, ohne dass dies auf der Samentüte stehen muss. Aus diesem Gentech-Samen wächst nun freilich eine ganze Tomatenstaude, die ihrerseits benachbarte Stauden befruchten und so deren Früchte ebenfalls zu GVOs machen kann. Vieles hängt davon ab, wie gerade der Wind beim Pollenflug steht. Und ob die Gen-Tomate vermehrungsfreudiger ist als die normale. Was werden Bienen und Hummeln machen? Wo wird der Vogel, der von Gentech-Früchten genascht hat, die unverdauten Samen lassen? Wird der Gentechnik-Samen mit wilden Verwandten fremdgehen?

Zur Beantwortung dieser Fragen gibt es bisher nicht viel mehr als wissenschaftliche Spekulation und ein Computer-Simulationsprogramm, von dem ihre Erfinder schreiben: "Die absoluten Werte des Modells müssen mit Vorsicht behandelt werden, da sie noch nicht vollständig mit Feld-Daten validiert wurden." Schlechte Aussichten für Bauern, denen die Wissenschaftler denn auch gleich zum Abschluss einer GVO-Versicherung raten, da Überschreitungen des Grenzwerts regelmäßig zu erwarten seien: spätestens, wenn GVOs in Europa in großem Stil angebaut werden. Die dann erforderlichen Schutz- und Vermeidungsmaßnahmen werden die Anbaukosten für alle Landwirte bis zu 10 Prozent erhöhen. EU-Kommissar David Byrne scheint all dies nicht anzufechten. Seine wissenschaftlichen Autoritäten meinten bereits verräterisch: "Zu gegebenem Zeitpunkt könnte der Grenzwert ... revidiert werden." Damit meinen sie eine Erhöhung, "wenn der GVO-Anbau in Europa sich ausweitet."

In jedem Fall werden Bio-Großhändler und Lebensmittelfirmen aufwändig nachmessen müssen, wenn sie wissen wollen, was nun wirklich drin ist im Essen. Ein so genannter PCR-Gentest, mit dem bald zigtausendfach an kritischen Punkten der Lebensmittel-Kette der GVO-Gehalt bestimmt werden muss, kostet zwischen 100 und 300 Euro. Ein Test bestimmt aber nur den Anteil eines ganz bestimmten GVO. Je mehr GVO auf den Markt kommen, desto länger wird die Batterie der nötigen Tests. Wer soll das bezahlen? "Nicht die Bauern! Nicht die Verbraucher!" rufen die Lobbyisten. Also die Gentechnik-Konzerne, die das Zeug auf den Markt bringen? Dafür gibt es bisher weder europäische noch nationale Vorschläge. "Rechtlich ausgesprochen schwierig," orakeln die Fachleute in den Ministerien.

Sicherer, einfacher und billiger wäre es, das Saatgut als Ausgangsprodukt der Landwirtschaft kategorisch sauber zu halten. Das gäbe nicht nur den Landwirten Sicherheit, sondern auch dem Gesundheits-, Umwelt- und Naturschutz. Der ganze Mess-Aufwand müsste nur für einen Bruchteil der Menge veranstaltet werden. Beispiel: 5.000 Tonnen Raps-Saatgut schwellen in Deutschland jährlich zu einer Erntemenge von 1,4 Millionen Tonnen an. Die an strenge Kontrollen gewöhnten Saatguthersteller müssen ohnehin wissen, wie viel GVO in ihren Produkten sind.

In Österreich ist seit zwei Jahren die GVO-Freiheit im Saatgut gesetzlich vorgeschrieben. Mit Erfolg: Österreichische Mais-Sorten sind ein Exportschlager, die Anbaufläche hat sich verdoppelt. Das Wiener Reinheitsgebot wird sogar von US-Saatgutherstellern eingehalten. Nur bei uns schreien Bayer, Monsanto und Co. mit ihren politischen Freunden von CDU, FDP und SPD Zeter und Mordio. Dass die geplante Verunreinigungs-Richtlinie für das Saatgut allein bei Raps und Mais zur unkontrollierten Freisetzung von mehr als 7 Milliarden Gentech-Pflanzen per anno führt, wird frech ignoriert. Ein bisschen "guter Wille" sei schon nötig, um zu einer friedlichen "Ko-Existenz" zu kommen. Aber wie soll ein GVO, sollte er unerwünschte Nebenwirkungen zeitigen, je wieder aus dem Verkehr gezogen werden, wenn er sich erst mal unentdeckt und flächendeckend im Saatgut verbreitet hat?

Verbraucher-Souveränität und viel beschworene Wahlfreiheit im Umgang mit der Gentechnik könnten durch die Hintertüre systematischer Saatgut-Verunreinigung ad absurdum geführt werden. Noch ist Europas Saatgut sauber. Es lohnt sich, in einer breiten Koalition des gesunden Menschenverstandes dafür zu streiten, dass es so bleibt.

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