DIE Internet-Zeitung
Rudolf Scharping

Die sicherheitspolitischen Ziele Deutschlands

Am

In einem Vortrag vor der Heidelberger Universität definierte der damalige Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping 27. November 2001 sieben sicherheitspolitische Ziele Deutschlands. Der Redebeitrag liest sich wie eine Ankündigung derzeitiger und künftiger Kriege zur Durchsetzung der wirtschaftslichen Interessen Deutschlands: "Ein Beispiel hierfür wäre der Kaspische Raum – das Dreieck zwischen Zentralasien, dem Kaukasus und dem Mittleren Osten – der als Folge eine Reihe destabilisierender Faktoren wie religiöser Fundamentalismus, Terrorismus, Drogen oder die strittige Nutzung und Verteilung der strategischen Ressourcen Öl und Gas leicht zur Krisenregion der nächsten Jahrzehnte werden kann." ngo-online dokumentiert den Redebeitrag im Wortlaut:


Erstes Ziel

Die euro-atlantische Gemeinschaft fortentwickeln

Die transatlantische Partnerschaft bleibt auch unter den veränderten politischen Bedingungen in Europa Grundlage unserer Sicherheit. Die USA waren auf Grund ihrer Geschichte, ihrer Werte, ihrer Interessen und ihrer Verantwortung immer auch eine europäische Macht. Gemeinsame Sicherheit in Europa lässt sich ohne den amerikanischen Anker in Europa nicht denken.

Wenn wir Europäer unsere außen- und sicherheitspolitische Rolle ausbauen und den Stabilitätsraum Europa festigen und erweitern wollen, geschieht dies immer nur vor dem Hintergrund und unter Berücksichtigung unserer Sicherheitspartnerschaft mit den USA.

Die euro-atlantische Staatengemeinschaft befindet sich allerdings in einer neuen Phase ihrer historischen Entwicklung.

Fest steht, dass sowohl Amerika wie Europa sich den Herausforderungen der Globalisierung, die sowohl Chancen wie Risiken umfassen, stellen müssen.

In dieser durch viele und vielschichtige Instabilitäten geprägten Welt ist die euro-atlantische Staatengemeinschaft zum wichtigsten Faktor demokratischer Stabilität und wirtschaftlicher Prosperität geworden – weit über die Grenzen von NATO und Europäischer Union hinaus.

Die Staaten auf beiden Seiten des Atlantiks, die verbunden sind durch eine unvergleichliche wirtschaftliche Verflechtung beider Regionen, die verknüpft sind durch gemeinsame Geschichte, gemeinsame Werte und gemeinsame Leistungen, sehen sich gemeinsamen Problemen gegenüber, die sie zu gemeinsamen Strategien zwingen.

In diesem Verständnis müssen wir die euro-atlantische Gemeinschaft im 21.Jahrhundert auf allen Ebenen fortentwickeln und stärken. Dies ist zweifelsohne eine der großen Aufgaben, die wir jenseits aller tagespolitischen Dissonanzen zwischen den Partnern unbeirrt und mit großem Einsatz verfolgen müssen – im Interesse der gemeinsamen Sicherheit im euro-atlantischen Raum und einer umfassenden Friedens- und Stabilitätspolitik.

Zweites Ziel

Europäische Handlungsfähigkeit stärken

Größere sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union und der Europäer in der NATO entspricht den Notwendigkeiten im neuen Europa.

Sie entspricht der politischen Logik der europäischen Integration. Sie entspricht den Bedingungen der Globalisierung, unter denen sich Europa nur als politisch vereinte Kraft behaupten kann.

Sie ist Voraussetzung für eine langfristig tragfähige und gleichberechtigte Partnerschaft mit unseren amerikanischen Verbündeten und für eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit Europas mit Russland.

Sie ist auch Voraussetzung dafür, dass die Europäische Union ihre Rolle auch im internationalen Rahmen in vollem Umfang spielen kann, wie es auf dem deutsch-französischen Gipfel in Vittel formuliert wurde.

Fest steht: Wer gemeinsame Sicherheit schaffen will, der muss gemeinsam handlungsfähig sein, wenn Krisen und Konflikte drohen.

Die EU hat im letzten Jahr, nicht zuletzt unter dem Eindruck unserer Erfahrungen auf dem Balkan, die notwendigen Entscheidungen getroffen, um Europa zu einem sicherheitspolitischen Akteur von Gewicht zu machen. Künftig wird die EU auch militärisch selbständig im Krisenmanagement handeln können, wenn sich die NATO als Ganzes nicht engagiert.

Drittes Ziel

Kooperation und Partnerschaft weiter ausbauen

Das hervorstechendste Merkmal einer Außen- und Sicherheitspolitik, die auf dem Verständnis gemeinsamer Sicherheit aufbaut, ist die umfassende Ausgestaltung von Partnerschafts- und Kooperationsbeziehungen. Nichts kennzeichnet den europäischen Raum gegenüber anderen Regionen mehr als dieses grenzübergreifende Geflecht bi- und multilateraler kooperativer Beziehungen und Strukturen. Das Programm "Partnerschaft für den Frieden" der NATO, NATO-Russland-Grundakte und NATO-Russland-Rat, die NATO-Ukraine-Charta oder der Euro-Atlantische Partnerschaftsrat sind Beispiele hierfür.

Effektive Friedenssicherung erfordert heutzutage das reibungslose Zusammenwirken von Streitkräften auch über Bündnisgrenzen hinweg.

Die Friedenssicherung in Südosteuropa ist ein Beispiel: Allein in Bosnien-Herzegowina wirken heute im Rahmen von SFOR die Streitkräfte von 35 Nationen zusammen, im Kosovo und in Mazedonien sind es sogar 39 Nationen, die die 45000 Soldaten zur Gewährleistung eines sicheren Umfelds für den Wiederaufbau stellen. Offenkundig ist: Die sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen den Staaten und ihren Streitkräften im Frieden wie im friedenssichernden Einsatz gilt es konsequent auszubauen.

Gerade weil wir eine gesamteuropäische Friedensordnung noch nicht erreicht haben und sich insbesondere von benachbarten Regionen her große Herausforderungen für uns ergeben, müssen wir die historisch einmaligen Chancen für Vertrauensbildung, für Stabilität und für die gemeinsame Sicherheit nutzen, die im euro-atlantischen Raum gegeben sind.

Viertes Ziel

Regionale Zusammenarbeit fördern

Auch oder besser gerade unter den Bedingungen globaler Vernetzung und Interdependenzen bleiben letztlich Krisenvorsorge, Vertrauensbildung und kooperative Strukturen in den einzelnen Regionen Schlüssel zu Stabilität und Sicherheit.

Ob der Nahe und Mittlere Osten, der Kaspische Raum, Süd- oder Ostasien oder das von Kriegen und humanitären Katastrophen geschüttelte Afrika – gewaltige Instabilitäten gefährden die regionale, aber auch globale Sicherheit.

Europa kann sich weniger denn je allein auf Europa konzentrieren. Unsere politischen und sicherheitspolitischen Ressourcen müssen wir auch an anderen Stellen dieser Welt in regionalpolitische Lösungsansätze einbringen.

Ein Beispiel hierfür wäre der Kaspische Raum – das Dreieck zwischen Zentralasien, dem Kaukasus und dem Mittleren Osten – der als Folge eine Reihe destabilisierender Faktoren wie religiöser Fundamentalismus, Terrorismus, Drogen oder die strittige Nutzung und Verteilung der strategischen Ressourcen Öl und Gas leicht zur Krisenregion der nächsten Jahrzehnte werden kann.

Wenn es gelänge, hier europäische Erfahrungen aus dem KSZE-Prozess oder dem Stabilitätspakt für Südosteuropa einzubringen, würde nicht nur die Sicherheit in den betroffenen Staaten der Region, sondern auch die in der Nachbarregion Europa erhöht werden.

Der regionalen Kooperation kommt jedoch auch in Europa selbst große Bedeutung zu, um Stabilität und Sicherheit zu erhöhen. Ostseeraum, Balkan oder Mittelmeerraum sind herausragende Beispiele, wo wir den Ansatz gemeinsamer Sicherheit umsetzen.

Fünftes Ziel

Rüstungskontrolle fortsetzen

Gemeinsame Sicherheit erfordert die Fortsetzung entschlossener Abrüstungs- und Nichtverbreitungsbemühungen – in Europa und außerhalb.

Wirkliche Stabilität, Berechenbarkeit in den internationalen Beziehungen und Vertrauensbildung sind ohne kooperative Rüstungskontrolle kaum vorstellbar.

Schon vor dem Ende des Ost-West-Konflikts hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass Sicherheit in Europa nur miteinander, nicht gegeneinander möglich ist.

Durch die Überwindung der europäischen Teilung wurden weitere bahnbrechende Erfolge möglich.

In den letzten 15 Jahren wurden die nuklearen Mittelstreckenraketen vollständig beseitigt, die taktischen Nuklearwaffen drastisch reduziert. USA und Russland haben ihre strategischen Nuklearwaffen in den 90er Jahren deutlich verringert. Im globalen Rahmen wurde der nukleare Nichtverbreitungsvertrag auf unbegrenzte Zeit verlängert, das Verbot chemischer Waffen und ein umfassendes Verbot von Atomtests beschlossen. Vor zehn Jahren wurde in Paris von den NATO-Staaten und den Staaten des früheren Warschauer Pakts der Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE) unterzeichnet.

Diese beeindruckenden Erfolge sind Ausdruck des Verständnisses gemeinsamer Sicherheit. Gerade weil Rüstungskontrolle und Abrüstung wie kaum ein anderer Bereich die Philosophie und die Realität gemeinsamer Sicherheit widerspiegeln, dürfen wir hier in unseren Bemühungen nicht nachlassen.

Das Erfordernis hierzu ist angesichts fortbestehender regionaler Konflikte, enormer nuklearer Waffenpotenziale und destabilisierender Entwicklungen wie der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und weitreichender Trägermittel keinesfalls geringer geworden.

Wir wollen daher die Fortsetzung der nuklearen Abrüstung im Rahmen der START-Verträge von USA und Russland, wir wollen die Umsetzung des 1999 modernisierten Vertrages über konventionelle Waffen in Europa, wir wollen die globalen Nichtverbreitungsregelungen stärken und erweitern, und wir wollen insbesondere regionale Ansätze zur Vertrauensbildung und Rüstungsbegrenzung fördern, um politische Konfliktlösungen zu ermöglichen oder zu stabilisieren.

Das Ziel krisenstabiler Sicherheitsstrukturen und die kooperative Prävention von Konflikten machen es unerlässlich, dass Rüstungskontrolle integraler Teil einer vorausschauenden Sicherheitspolitik bleibt.

Sechstes Ziel

Sicherheitsorganisationen stärken

Umfassende Stabilitäts- und Friedenspolitik muss die komplementären Stärken aller Sicherheitsorganisationen nutzen.

Die Mitgliedschaft in einer Organisation, die den Frieden sichern und die Sicherheit ihrer Mitglieder stärken soll, ist bereits Ausdruck des Interesses, mit anderen bei der Bewältigung sicherheitspolitischer Herausforderungen zusammenzuwirken. Dies setzt allerdings ein Mindestmaß an Handlungsfähigkeit voraus.

Deshalb ist klar: Wir brauchen neben einer leistungsfähigen NATO und einer handlungsfähigen Europäischen Union auch eine starke VN und eine gestärkte OSZE. Alle diese Organisationen sind von großer Bedeutung, um Stabilität und Sicherheit im euro-atlantischen Raum zu festigen.

Wir haben in den Balkan-Krisen klar erkennen müssen, dass die Vereinten Nationen zwar gefordert waren, ihre aktuellen Grenzen aber erneut deutlich geworden sind. Dies hat Gründe, eine Anpassung an die Herausforderungen des 21.Jahrhunderts ist aber dennoch unausweichlich.

Wir müssen uns im klaren darüber sein, dass wir unser Ziel dauerhafter Stabilität und gemeinsamer Sicherheit in Europa tatsächlich nur dann erreichen, wenn wir Friedenssicherung auch außerhalb Europas entschlossen betreiben.

Dies geht nicht ohne eine effektive VN. Diese muss allerdings erst noch geschaffen werden.

Der Sicherheitsrat reflektiert nicht mehr die politische Realitäten. Er muss effektiver und repräsentativer werden. Wir sind bereit, dies hat Bundeskanzler Gerhard Schröder auf dem VN-Milleniumsgipfel klar gemacht, in diesem Rahmen entsprechende Verantwortung zu übernehmen.

Die VN muss auch praktisch schneller auf Krisen reagieren können. Deutschland wird hierzu seinen Beitrag leisten. Im Rahmen des "Standby Arrangements System" der VN hat Deutschland als erstes Land den VN hochwertige militärische Fähigkeiten im Bereich des Land- und Lufttransports, des

Sanitäts- und Pionierwesens sowie der Seeaufklärung, Überwachung und Minenabwehr angeboten.

Wir müssen auch die OSZE weiter stärken. Die operative Bedeutung der OSZE in der Prävention von Krisen und Konflikten, bei Aufbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und in der konventionellen Rüstungskontrolle kann und muss stärker genutzt werden. Die 1999 in Istanbul verabschiedete "Charta für Europäische Sicherheit" gibt hierfür den politischen Rahmen vor.

Die Umsetzung des Stabilitätspakts für Südosteuropa unter der Schirmherrschaft der OSZE ist ein gutes Beispiel für die wichtige Rolle, die diese Organisation zur Stärkung der Sicherheit in Europa spielen kann.

Siebtes Ziel

Russland einbinden

Zur Lösung der globalen, aber auch der wichtigen europäischen Fragen brauchen wir Russland.

Russland ist nicht nur die größte Militärmacht auf dem europäischen Kontinent, konventionell und nuklear, es ist auch ständiges Mitglied des VN-Sicherheitsrats mit Veto-Recht. Dass dies von Bedeutung auch für europäische Probleme ist, wurde zuletzt bei der Entscheidung über die VN-mandatierte KFOR-Friedenstruppe im Kosovo deutlich. Am Ende ermöglichte die russische Unterstützung nicht nur die Einsetzung von KFOR, im deutschen KFOR-Sektor arbeiten seither auch deutsche und russische Streitkräfte reibungslos zusammen.

Fest steht: Die Gestaltung unserer Beziehungen zu Russland ist ganz ohne Zweifel eine der wichtigsten Aufgaben europäischer Politik überhaupt.

Dabei geht es nicht nur darum, Russland zu stabilisieren, indem der demokratische Prozess und die inneren Reformen wo immer möglich unterstützt werden.

Es geht auch und vor allem darum, in Russland einen Partner zu finden, der seine europäische Verantwortung akzeptiert. Und der damit ganz wesentlich zur Bewältigung gemeinsamer sicherheitspolitischer Herausforderungen beitragen kann.

Um nur einige zu nennen:

  • Die Eingrenzung des Krisenpotenzials auf dem Balkan, im Kaukasus, im Kaspischen Raum und im Nahen und Mittleren Osten;
  • die Erhöhung der nuklearen Sicherheit im zivilen wie im militärischen Bereich, eine gerade für uns europäische Nachbarn besonders wichtige Frage;
  • Fortschritte bei Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägermittel.

Indifferenz, Ausgrenzung und Isolation wären der falsche Ansatz.

Wir müssen Russland zu einem organischen Teil und partnerschaftlichen Mitgestalter des neuen demokratischen Europas machen. Dies entspricht unserem Verständnis von gemeinsamer Sicherheit. Es ist eine Aufgabe, die sich auf bilateraler wie auf multilateraler Ebene stellt.

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