DIE Internet-Zeitung
Bundesverteidigungsministerium

"Verteidigungspolitische Richtlinien" (1992)

Am

Am 26. November 1992 erließ das Bundesministerium der Verteidigung unter Verteidigungsminister Volker Rühe die "Verteidigungspolitischen Richtlinien" für die Bundeswehr. Diese Richtlinien stellten eine Wende dar von einer reinen Verteidigungsarmee hin zu Kriegseinsätzen im Ausland mit sogenannten "Krisenreaktionskräften" (Absatz 45). Einer der Ausgangspunkte der Verteidigungspolitischen Richtlinien ist die Wahrung und Durchsetzung der "legitimen nationalen Interessen" Deutschlands (Absätze 2, 3 und 7). Hierzu zählt zum Beispiel die "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt". Und: "Einflußnahme auf die internationalen Institutionen und Prozesse im Sinne unserer Interessen und gegründet auf unsere Wirtschaftskraft" (Abs. 8, Nr 8 und 10). An anderer Stelle heißt es: "Deutschland ist aufgrund seiner internationalen Verflechtungen und globalen Interessen vom gesamten Risikospektrum betroffen. Wir müssen daher in der Lage sein, auf entstehende Krisen im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme einwirken zu können" (Abs. 27). ngo-online dokumentiert die Richtlinien im Wortlaut:


  1. Zweck der VPR (1-5) - II. Deutsche Wertvorstellung und Interessen (6-8) - III. Die Herausforderungen der Zukunft - Chancen und Risiken (9-11) - Die Gestaltungschancen (12-17) - Die Risiken (18) - Unmittelbare Risiken (19-22) - Mittelbare Risiken (23) - Fazit (24-27) - IV. Bestimmungsfaktoren für die deutsche Verteidigungspolitik Grundlegende Parameter (28) - Die Entwicklung der Sicherheitsarchitektur (28-36) - Die Rolle der Streitkräfte (37-41) - Rüstungskontrolle und Abrüstung (42) - Ressourcen (43) - V. Der Auftrag der Bundeswehr (44) - Vorgaben für die Bundeswehrstruktur (45-47) - Vorgabe für die Fähigkeiten der Bundeswehr (48-49) - Vorgaben für die Bundeswehrplanung (50-52) - Leitbild und Selbstverständnis des Soldaten (53)
  1. Die historische Dimension des politischen Umbruchs hat die internationale Situation grundlegend verbessert. Eine neue Konstellation von Chancen und Risiken wird zum wesentlichen Merkmal künftiger Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund ist die Rolle des vereinten Deutschland in und für Europa einschließlich seiner strategischen Horizonte neu zu bestimmen. ein zentrales Element der Rollenbestimmung ist die künftige Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Verteidigungspolitische Richtlinien (VPR) definieren Grundsätze zur Sicherheitspolitik, den Auftrag der Bundeswehr und die wesentlichen Aufgaben der Streitkräfte.
  2. Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Zukunft ist ein ganzheitlicher Ansatz von Schützen und Gestalten. Die VPR verdeutlichen, welche Chancen in der Gestaltungsfunktion genutzt, welche Risiken und Gefahren in der Schutzfunktion bewältigt werden müssen, um die Grundwerte Deutschlands zu bewahren, seine Interessen durchzusetzen und der militärischen Sicherheitsvorsorge zeitgemäße Inhalte zu verleihen.
  3. In einer Phase epochalen Wandels sind noch nicht alle langfristig wirkenden Parameter voll ausgeprägt. Der Entwicklungsverlauf wird von einer Vielzahl von Einflußgrößen gesteuert, die sich einer dauerhaft gültigen Beurteilung entziehen. Unsere Verteidigungspolitik steht in der Spannung zwischen den Unsicherheiten des Übergangs und dem Bedarf an langfristiger Orientierung. Zukunftsorientierte Konzepte müssen einerseits eine tragfähige Grundlage und Planungssicherheit für den überschaubaren Zeitraum bieten. Andererseits müssen sie als Teil eines dynamischen Übergangsprozesses, als Management des Übergangs begriffen werden. Die VPR für das verteidigungspolitische Konzept der Zukunft - basieren auf Konstanten, die als Grundwerte und Interessen Deutschlands vorgegeben sind, - zielen auf erkennbare Handlungserfordernisse für die absehbaren Herausforderungen unserer Zeit, - bieten Leitlinie und Orientierung für die langfristige Gestaltung der Verteidigungspolitik.
  4. Der Aufbau im Osten unseres Landes ist gesamtstaatliche Schwerpunktaufgabe und bindet auf absehbare Zeit erhebliche Ressourcen. Ein politisch-ökonomisch fundiertes Konzept der Sicherheitsvorsorge muß daher neben den künftigen Herausforderungen die angespannte nationale Ressourcenlage berücksichtigen. Die VPR setzten Schwerpunkte und Prioritäten, um in diesem Spannungsfeld Zielkonflikte zu vermeiden.
  5. Die VPR sind verbindliche Grundlage für die Arbeit in den Organisationsbereichen des Ministeriums sowie für die deutsche militärische Interessenvertretung nach außen.
  6. Die Werteordnung des Grundgesetzes und die Notwendigkeit, unsere Werte zu bewahren, sind Ausgangspunkte aller Überlegungen zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschlands. Der Schutz der territorialen Integrität, der Sicherheit der Bürger sowie der freiheitlichen demokratischen Lebensordnung ist eine existenzbegründende Verpflichtung des Staates. Die "Charta der Vereinten Nationen" und die "Charta von Paris" der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) entsprechen deutschen Wertvorstellungen. Sie ergänzen die Werte des Grundgesetzes zur umfassenden Richtschnur für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik.
  7. Auf der Grundlage dieser Werte verfolgt Deutschland seine legitimen nationalen Interessen. Trotz prinzipieller Übereinstimmung werden sich die deutschen Interessen nicht in jedem Einzelfall mit den Interessen der Verbündeten und anderer Partner decken. Die nationale Interessenlage ist daher auch Ausgangspunkt der Sicherheitspolitik eines souveränen Staates. Sie ist Maßstab für die Beurteilung der Risiken und der Handlungserfordernisse zur Wahrnehmung der Chancen zukünftiger Entwicklungen. Die Gesamtheit der Sicherheitsinteressen kann nur dann im vollen Umfang wahrgenommen werden, wenn die verschiedenen Felder deutscher Politik koordiniert zusammenwirken. Eine grundsätzliche Dominanz eines oder eine Hierarchie der verschiedenen Politikfelder ist daher nicht gegeben.
  8. Deutschland verfolgt als übergeordnete sicherheitspolitische Zielsetzung, Konflikte in Europa zu verhüten und Sicherheit für Europa im Rahmen einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung zu wahren, die auf pluralistischer Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft gründen soll. Dabei läßt sich die deutsche Politik von vitalen Sicherheitsinteressen leiten:
  1. Schutz Deutschlands und seiner Staatsbürger vor äußerer Gefahr und politischer Erpressung
  2. Vorbeugung, Eindämmung und Beendigung von Krisen und Konflikten, die Deutschlands Unversehrtheit und Stabilität beeinträchtigen können
  3. Bündnisbindung an die Nuklear- und Seemächte in der Nordatlantischen Allianz, da sich Deutschland als Nichtnuklearmacht und kontinentale Mittelmacht mit weltweiten Interessen nicht allein behaupten kann
  4. Vertiefung und Erweiterung der europäischen Integration einschließlich der Entwicklung einer europäischen Verteidigungsidentität
  5. "Partnerschaft unter Gleichen" zwischen Europa und Nordamerika, ausgedrückt in der Teilhabe Nordamerikas an den europäischen Prozessen und in der signifikanten militärischen Präsenz der USA in Europa
  6. Festlegung und Ausbau einer global und regional wirksamen Sicherheitsstruktur komplementärer Organisationen
  7. Förderung der Demokratisierung und des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts in Europa und weltweit
  8. Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung
  9. Fortsetzung eines stabilitätsorientierten rüstungskontrollpolitischen Prozesses in und für Europa
  10. Einflußnahme auf die internationalen Institutionen und Prozesse im Sinne unserer Interessen und gegründet auf unsere Wirtschaftskraft, unseren militärischen Beitrag und vor allem unsere Glaubwürdigkeit als stabile, handlungsfähige Demokratie.
  1. Europa befindet sich in einem tiefgreifenden Wandlungsprozeß zu Kooperation und Integration. Für unsere östlichen Nachbarn konkretisiert sich die europäische Freiheitsperspektive. Die grundlegend verbesserte sicherheitspolitische Lage in Zentraleuropa verdeutlicht in besonderer Weise die Qualität des Wandels, der Europa ergriffen hat. Irreversible fundamentale Veränderungen verleihen diesem Prozeß eine dauerhafte Basis: die Vereinigung Deutschlands und die Auflösung des gegnerischen Militärpaktes. Stabilisierender Einfluß geht auch vom schreitenden politischen und gesellschaftlichen Demokratisierungsprozeß im Osten des Kontinents aus. Der damit verbundene Sicherheitsgewinn kommt vor allem Deutschland zugute. Deutschland liegt nicht mehr in unmittelbarer Reichweite eines zur strategischen Offensive und Landnahme befähigten Staates. Das deutsche Sicherheitsdilemma der Nachkriegszeit - der Widerspruch zwischen schützender nuklearer Abschreckung und der Gefahr, nukleares Schlachtfeld zu werden - hat sich aufgelöst. Deutschland ist nicht länger Frontstaat. Stattdessen ist es heute ausschließlich von Verbündeten und befreundeten Partnern umgeben.
  2. Die sicherheitspolitische Landschaft Europas bietet dennoch ein widersprüchliches Bild. Fortschreitenden Integrationsprozessen im Westen Europas stehen zentrifugale Tendenzen bis hin zur Fragmentierung staatlicher Einheiten im Osten und Südosten des Kontinents gegenüber. Latente und akute Konflikte bestimmen das Bild dieser Regionen. Zugleich steht Europa vor globalen Herausforderungen, deren Risikodimension sich langsam zu erschließen beginnt. Parallel dazu wächst das Bewußtsein für die unteilbare Verantwortung aller Völker für ihre gemeinsame Zukunft.
  3. Das Grundgesetz verpflichtet deutsche Politik dem Ziel, Europa zu einen und dem Frieden der Welt zu dienen. Dabei gilt es künftig, gleichermaßen die neuen Gestaltungschancen aufzugreifen als auch neue Risiken und Gefahren zu bewältigen.
  4. Nachdem die Teilung Deutschlands und Europas überwunden ist, können freiwerdende Kräfte auf die Gestaltung einer friedlichen Zukunft konzentriert werden. Alle Völker Europas sollen in den Genuß politischer Stabilität, wirtschaftlicher Prosperität und sozialer Sicherheit gelangen. Europa muß aber auch die Fähigkeit entwickeln, als gestaltende Kraft und global wirkender Akteur maßgeblich an der Lösung der großen weltweiten Zukunftsaufgaben mitzuwirken.
  5. Die Völker Mittelost- und Südosteuropas bemühen sich nach Jahren der Knechtschaft, demokratische, rechtsstaatliche und marktwirtschaftliche Strukturen zu verwirklichen. Sicherheitspolitisch befinden sie sich in einer Übergangsphase, in der sie nach Auswegen aus dem von ihnen empfundenen Sicherheitsvakuum suchen. Ihr Streben richtet sich daher nach Anlehnung an den westlich-atlantischen Sicherheitsverbund. Sie erheben Anspruch auf gleichberechtigte Integration. Auch die neutralen Staaten definieren ihre Rolle neu. Sie sind bereit, an der Neuordnung Europas mitzuarbeiten, sich in bestehende Strukturen einzufügen und darin aktiv mitzuwirken. Für mutige Ansätze der Sicherheitspolitik öffnet sich damit die Perspektive des einen und freien Europa. Hier liegt die historische Chance des neuen Zeitalters.
  6. Die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union ist eine entscheidende Kraft des gesamteuropäischen Einigungsprozesses. Konzeptionell umfaßt die gemeinschaftliche Politik der Union alle wesentlichen Felder der Politik. Damit ist die Europäische Union auch zentrales Element der künftigen europäischen Sicherheitsstruktur. Es liegt in der Logik des Einigungsprozesses, Europa auch in der Außen- und Sicherheitspolitik handlungsfähig zu machen - mit dem Ziel einer europäischen Verteidigung einschließlich militärischer Strukturen. Für Europa öffnet sich damit die Chance, seine eigenen Sicherheitsinteressen verantwortlich wahrnehmen zu können - dies in enger Partnerschaft mit den USA.
  7. In den USA ist es heute zwischen den maßgeblichen politischen Kräften unstrittig, daß die verfügbaren nationalen Ressourcen prioritär auf innere Bedürfnisse konzentriert werden müssen. Damit sind weniger Mittel zur gestalterischen Einflußnahme auf die internationale Politik verfügbar. Überseeische "Commitments" müssen daher überzeugend zu begründen sein. Angesichts dieser Entwicklung ist es notwendig, den Beziehungen zwischen Nordamerika und Europa neue Inhalte zu geben, eine Partnerschaft unter Gleichen zu entwickeln, die Amerika breit angelegt Teilhabe an der politischen, ökonomischen und strategischen Integration ermöglicht - als Mitgestalter eines "Europe whole and free". Diese Teilhabe bewahrt zugleich Europa die Weiterhin notwendige strategische Rückendeckung durch die USA. In der europäisch-amerikanischen Partnerschaft wird die Unterstützung des Reformprozesses im Osten zur gemeinsamen Investition in die gemeinsame Sicherheit und Stabilität.
  8. Erfolg oder Mißerfolg des Neuordnungsprozesses der Nachfolgestaaten der Sowjetunion werden entscheidend mitbestimmen, ob der gesamteuropäische Integrationsprozeß in geordneten Bahnen verlaufen kann. ein völliger Zerfall der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) in eine Vielzahl nicht aus eigener Kraft lebensfähiger Staaten würde die politische Lage auf dem Kontinent destabilisieren. Für die Staaten der GUS gilt es nun, eine Synthese aus nationaler Selbstfindung und neuer Zusammenarbeit zu entwickeln. Darüber hinaus müssen alle Möglichkeiten genutzt werde, den politischen, ökonomischen, sozialen und militärischen Umbauprozeß aufrechtzuerhalten. Nur so kann die Chance einer dauerhaften Demokratisierung verwirklicht werden. Breit angelegter Dialog und umfassende Kooperation zwischen allen westlichen Industriestaaten und der GUS sind dazu erforderlich.
  9. Der sicherheitspolitische Umbruch hat die strategische Ausgangssituation Deutschlands grundlegend verbessert. Wir haben die Chance, Frieden und Fortschritt in und für Europa entscheidend voranzubringen. Zugleich aber müssen wir neue Verantwortung übernehmen. Unser Land besitzt aufgrund seiner politischen und wirtschaftlichen Potenz eine Schlüsselrolle für die Fortentwicklung der europäischen Strukturen. Ohne Deutschland ist es unmöglich, die osteuropäischen Völker zu integrieren. Ohne Deutschland wird es keine Sicherheitsstruktur in und für Europa geben, die auch die Sicherheitsinteressen der jungen Demokratien befriedigt. Ohne Deutschland werden die durch kommunistische Kommandowirtschaft ruinierten Staaten ökonomisch und sozial nicht gesunden; denn nur mit Deutschland wird die Europäische Gemeinschaft ihre politisch-ökonomische Dynamik entfalten und als Kraftquelle für den wirtschaftlichen Gesundungsprozeß ganz Europas bereitstehen können. In dieser Situation ist Deutschland eine maßgebliche Bezugsgröße für die Politik seiner Partner. Dabei decken sich unsere Einflußmöglichkeiten mit den wichtigsten Gestaltungsaufgaben und Chancen im Europa der Zukunft: - Vertiefung und Erweiterung der europäischen Integration - Entwicklung Europas zum globalen Akteur - Stabilisierung der östlichen Reformprozesse - Reform der transatlantischen Partnerschaft - Fortentwicklung der euro-atlantischen Institutionen
  10. Für Deutschland ist die existentielle Bedrohung des Kalten Krieges irreversibel überwunden. Der bedrohlichste Fall einer großangelgten Aggression ist höchst unwahrscheinlich geworden. Dagegen wächst die Wahrscheinlichkeit weniger bedrohlicher Konflikte im erweiterten geographischen Umfeld. Die erkennbaren Restrisiken militärischer Konflikte mit unmittelbarer Auswirkung auf Deutschland und seine Bündnispartner machen es aber auch weiterhin erforderlich, angemessene militärische Verteidigungsvorsorge zu treffen. Nach Auflösung der bipolaren Ordnungsstruktur gewinnen regionale Krisen und Konflikt und nicht-militärische Risiken an Virulenz und Brisanz. Ihr Spektrum reicht von der innerstaatlichen Dimension sozialer, ethnischer, religiöser und ökonomischer Krisen über die regionale Dimension, die auch machtpolitische Faktoren, territoriale Ansprüche und Verteilungskämpfe umfaßt, bis hin zur globalen Dimension des Wohlstands- und Entwicklungsgefälles sowie demographischer, ökonomischer und ökologischer Fehlentwicklungen. Diese Risiken sind aufgrund ihres Ursachencharakters nicht militärisch lösbar. Sie können auch nicht mit militärischen Potentialen ausbalanciert werden. Der mögliche Verlauf von Krisen und Konflikten läßt sich kaum nach Wahrscheinlichkeit und Bedrohungsgrad voraussagen. Aus deutscher wie aus Bündnissicht können Risiken nach ihrer unmittelbaren oder mittelbaren Wirkung spezifiziert werden.
  11. Die Nachfolgestaaten der Sowjetunion befinden sind auf einem steinigen Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft. sie sind auf vielfache Weise politisch, ökonomisch und durch Abrüstungsverträge auch strategisch mit dem Westen verflochten. Deutschland pflegt mit Rußland eine vertraglich geregelte Freundschafts- und Partnerschaftsbeziehung, die auch eine Nichtangriffsklausel mit hoher Bindewirkung einschließt. Es ist unser Ziel, Rußland an der Entwicklung Europas zu beteiligen. Die positive Entwicklung im Osten kann jedoch nicht losgelöst von der Instabilität dieses Prozesses sowie den noch vorhandenen militärischen Potentialen betrachtet werden. Der unwahrscheinliche Fall eines Rückfalls in eine auf Konfrontation gerichtete Politik würde den völligen Rückzug aus dem irreversiblen politisch-rechtlich-ökonomischen "System Europa" voraussetzen, auf dessen Leistungskraft aber gerade Rußland auf lange Sicht angewiesen bleibt. Der mit einem großangelegten militärischen Wiederaufbau verbundene Zeitaufwand von mehreren Jahren würde der Allianz erlauben, ihre hohe wirtschaftliche Überlegenheit voll auszuspielen. Für eine großangelegte Aggression gegen die NATO fehlen damit für den überschaubaren Zeitraum das Rationale und das erforderliche politisch-ökonomisch-militärische Gesamtpotential. Allerdings bleibt Rußland nukleare Weltmacht, Seemacht und stärkste europäische Landmacht mit einem Spektrum globaler und regionaler Optionen. Mit dem bis 1995 vollzogenen Abzug seiner Streitkräfte aus Mitteleuropa und den Streitkräftereduzierungen gemäß den Bedingungen des Wiener Abrüstungsvertrages von 1990 gibt Rußland jedoch seine Fähigkeit zur strategischen Offensive gegen Westeuropa grundsätzlich auf. Eine Gefährdung Deutschlands oder seiner Verbündeten durch Rußland ist daher auf absehbare Zeit auszuschließen, sofern im Bündnis die Fähigkeit zum flexiblen Aufwuchs und zur strategischen Balance erhalten wird. Dabei kann zunächst von einer militärisch nutzbaren Warnzeit von mindestens einem Jahr ausgegangen werden.
  12. Nach der Überwindung des Ost-West-Konfliktes brechen bisher unterdrückte, nicht auf dem ideologischen Gegensatz beruhende Konflikte gewaltsam auf. Damit werden innerstaatliche und regionale Konflikte auch in Europa wieder möglich. Diese Konflikte können aufgrund der vielfältigen nationalen und regionalspezifischen Risikolagen überraschend auftreten und regional eskalieren. Jeder Krieg oder Bürgerkrieg in Europa hat unakzeptable Folgen für die betroffenen Menschen und gefährdet das stabile und friedliche Zusammenwachsen Europas. Dies zu verhindern, erfordert neben politischen Maßnahmen zur Förderung der Nachbarschaftsstabilität und zur Verhinderung neuer regionaler Rüstungswettläufe vor allem eine ausgeprägte Fähigkeit zum europäischen Krisen- und Konfliktmanagement. Dazu gehört auch das Bereitstellen entsprechender militärischer Potentiale.
  13. Weitere unmittelbare Risiken gehen von Militärpotentialen an der europäischen Peripherie aus. Konventionelle Optionen gegen die NATO sind aufgrund der geographischen Gegebenheiten sehr begrenzt. In den peripheren Regionen herrscht aber eine starke Fluktuation von Konstellationen und Trends. Staatliche und regionale Strukturen sind fragil; die Risiken für Frieden und Stabilität sind vielfältig und facettenreich. Viele Staaten verfügen darüber hinaus über umfangreiche und modern ausgestattete militärische Kräfte. Aus dieser unübersichtlichen Gemengelage von Faktoren können schnell Krisen und Konflikte entstehen und eskalieren. Die Verfügung über Massenvernichtungswaffen und ballistische Einsatzmittel stellt dabei ein wachsendes Risiko dar. Die Bewältigung dieses komplexen Risikospektrums stellt besondere Anforderungen an die Wirksamkeit politischer und militärischer Mechanismen zur Krisen- und Konfliktbewältigung. Es liegt im europäischen Interesse, die Staaten dieser Region in einen Prozeß stabilitätsorientierter und vertrauensbildender Zusammenarbeit einzubinden, das gegenseitige Verständnis zu fördern und auf die Entwicklung regionaler Sicherheitsstrukturen hinzuwirken.
  14. Ein letzter Bereich unmittelbarer Risiken betrifft Angriffen auf die Freiheit und Unversehrtheit deutscher Staatsbürger oder der verbündeter Staaten im Ausland. Dazu kann ein Spektrum von Maßnahmen erforderlich werden, die vorzugsweise im internationalen Rahmen erfolgen sollten.
  15. In einer interdependenten Welt sind alle Staaten verwundbar, unterentwickelte Länder aufgrund ihrer Schwäche und hochentwickelte Industriestaaten aufgrund ihrer empfindlichen Strukturen. Jede Form internationaler Destabilisierung beeinträchtigt den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt, zerstört Entwicklungschancen, setzt Migrationsbewegungen in Gang , vernichtet Ressourcen, begünstigt Radikalisierungsprozesse und fördert die Gewaltbereitschaft. Kommt es zu solchen Fehlentwicklungen, werden zerstörerische Einflüsse auch in die hochentwickelten Gesellschaften getragen. Bei insgesamt negativem Entwicklungsverlauf kann dieser Zusammenhang auch militärische Dimensionen gewinnen. Der Bedrohungsgrad mittelbarer Risiken ergibt sich jedoch weniger aus der Möglichkeit einer militärischen Eskalation. Viel schwerwiegender sind negative Einflüsse auf die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit der Industriestaaten und damit verbundene Rückwirkungen auf den Wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt in den Entwicklungsländern. Politisch breit angelegte Risikovorsorge darf daher nicht eurozentrisch sein, sondern muß sich vermehrt an der Interdependenz regionaler und globaler Entwicklungen orientieren. Risiken müssen schon am Ort ihres Entstehens und von ihrer Eskalation zu einem akuten Konflikt mit einer vorbeugenden Politik aufgefangen werden.
  16. Unter den neuen sicherheitspolitischen Verhältnissen läßt sich Sicherheitspolitik weder inhaltlich noch geographisch eingrenzen. Sie muß risiko- und chancenorientiert angelegt sein, Initiative und Gestaltungskraft entwickeln und Risikoursachen abbauen. Sicherheitspolitik für unsere Zeit muß alle gestalterischen Möglichkeiten wahrnehmen, um den positiven internationalen Entwicklungsverlauf weiterzuführen.
  17. Militärische Konflikte, die Deutschlands Existenz gefährden könnten, sind unwahrscheinlich geworden. Im zukünftigen strategischen Umfeld sind unmittelbare militärische Risiken nur noch Teil eines breiten Spektrums sicherheitspolitischer Einflußgrößen. Unmittelbare Risiken werden zukünftig in ihrer Bedeutung immer mehr von mittelbaren Risiken übertroffen. Risikovorsorge muß folglich als erweiterte Schutzfunktion verstanden werden. Prioritäten der Sicherheitsvorsorge sind "von außen nach innen" zu definieren. Die Fähigkeit zur Verteidigung Deutschlands bleibt auch in diesem Sicherheitskonzept eine fundamentale Funktion der Streitkräfte. Zukünftig muß aber politisches und militärisches Krisen- und Konfliktmanagement im erweiterten geographischen Umfeld eindeutig im Vordergrund unserer Maßnahmen zur Sicherheitsvorsorge stehen.
  18. Die Chancen und Risiken im veränderten Umfeld können von keinem Land und keiner der bestehenden sicherheitspolitischen Institutionen allein wahrgenommen werden. Vielmehr sind kooperative und kollektive Ansätze gefordert. Wir benötigen ein flexibles Instrumentarium internationaler Politik und eine handlungsfähige Struktur der euroatlantischen Institutionen.
  19. Deutschland ist aufgrund seiner internationalen Verflechtungen und globalen Interessen vom gesamten Risikospektrum betroffen. Wir müssen daher in der Lage sein, auf entstehende Krisen im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme einwirken zu können. Wenn die internationale Rechtsordnung gebrochen wird oder der Frieden gefährdet ist, muß Deutschland auf Anforderung der Völkergemeinschaft auch militärische Solidarbeiträge leisten können. Qualität und Quantität der Beiträge bestimmen den politischen Handlungsspielraum Deutschlands und das Gewicht, mit dem die deutschen Interessen international zur Geltung gebracht werden können.
  20. Aus der sicherheitspolitischen Lagebeurteilung folgen grundlegende Parameter eines zukünftigen Sicherheitskonzeptes: - Der "weite Sicherheitsbegriff" reflektiert neben der Notwendigkeit des Zusammenwirkens aller Politikfelder die neuen strategischen Horizonte zur Wahrnehmung von Chancen und Risiken; - das Prinzip "gemeinsamer Sicherheit" reflektiert die regionale, überregionale und globale Interdependenz nationaler Sicherheit und die Notwendigkeit einer internationalen "Sicherheitskultur"; - "Stabilitätsorientierung" bedeutet, daß Sicherheitspolitik nicht mehr wie den der Vergangenheit in erster Linie an militärischen Potentialen und numerischer Parität orientiert ist, sondern künftig mehr an der Notwendigkeit, das internationale Beziehungssystem nach sozioökonomischen, rechtlichen sowie Ordnungs- und strukturpolitischen Stabilitätsfaktoren zu gestalten; - der strategische Ansatz der "Kooperation" mit allen Partnern gründet auf der Notwendigkeit einer globalen und regionalen Normen- und Risikogemeinschaft zur Lösung der großen Zukunftsaufgaben; - das Prinzip der "Kollektiven Verteidigung" reflektiert die Notwendigkeit, nationale Alleingänge zu verhindern, multinationale und integrierte Strukturen zu entwickeln und knappe Ressourcen zu bündeln. In einer Zeit epochalen Wandels dürfen NATO, Europäische Union, WEU, KSZE und Vereinte Nationen nicht in statischem Nebeneinander verharren. Vielmehr müssen diese Institutionen auf der Basis von Kompatibilität, Komplementarität und Transparenz zu einer tragfähigen Architektur zusammengefügt werden, in der sie ihre Kräfte synergetisch entfalten.
  21. Die politische Integration zur Europäischen Union ist Grundvoraussetzung für eine tragfähige europäische Sicherheitsarchitektur. In der Union konkretisiert sich nicht nur das Streben Europas nach Einheit, Freiheit und Wohlstand. Sie steht auch für den Willen der Europäer, ihre ureigenen Sicherheitsinteressen gemeinsam zu wahren und dazu handlungsfähig zu werden. Nur als Politische Union kann Europa auf Dauer im weltweiten Kontext bestehen und zu einem gestaltenden Faktor werden. Nur die Politische Union kann ein Verhältnis gleichberechtigter Partnerschaft mit Nordamerika entwickeln. Die Entscheidung, mit der Westeuropäischen Union (WEU) die europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität und militärische Handlungsfähigkeit zu stärken, ist deshalb von strategischem Rang. Wichtig ist, daß diese Entwicklung in enger Abstimmung mit den nordamerikanischen Bündnispartnern erfolgt.
  22. Die WEU ist Träger der europäischen Verteidigungspolitik, bis die Union in der Lage ist, diese Aufgabe zu übernehmen. In dieser Funktion stärkt die WEU zugleich den europäischen Pfeiler der Nordatlantischen Allianz. Sie ermöglicht den Europäern, mehr Verantwortung für ihre Sicherheit zu übernehmen und besonders in solchen Krisensituationen handlungsfähig zu sein, in denen die NATO nicht in der Lage oder nicht willens ist einzugreifen. Das Sicherheitskonzept der WEU wird stärker an ihre wachsende Bedeutung für die Europäische Union und die neuen Herausforderungen von Krisenbewältigung und Konfliktverhütung anzupassen sein. Die WEU muß dazu auf europäische Streitkräfte zurückgeifen und diese führen können. Streitkräfte und Führungsstrukturen können aus europäischen Kräften der NATO, aus multinationalen Kooperationsformen sowie aus nationalen Quellen bereitgestellt werden. Deutschland muß die Voraussetzungen schaffen, um in vollem Umfang am Aufgabenspektrum der WEU partizipieren zu können. Die Bundeswehr entwickelt dazu neben ihrer festen Einbindung in die NATO auch eine europäische Dimension. Ein wichtiger Schritt dazu ist der deutsche Beitrag zum EURO-Korps.
  23. Grundsätzlich soll die Unionsmitgliedschaft zur WEU-Mitgliedschaft führen. Dies gilt auch für neue Mitglieder der Europäischen Union. Uneingeschränkt kommen dafür zunächst die EFTA-Staaten in Betracht. Allerdings können Staaten, die noch nicht den ökonomischen Standard der Union erreichen, wohl aber die Kriterien für eine Sicherheitspartnerschaft erfüllen, durch neue Formen der WEU-Assoziierung an der Verantwortung für die europäische Integration teilhaben und ihren nationalen Anpassungsprozeß stabilisieren. Proritäten für eine solche Zusammenarbeit besitzen aus deutscher Sicht die mittelosteuropäischen Staaten. Zur Aufrechterhaltung der Integrationsdynamik müssen daher flexible Arrangements mit Beitrittsperspektive entwickelt werden. Rußland verfügt in jeder Hinsicht über Potentiale, die europäische Dimensionen sprengen. Der Versuch, Rußland oder die GUS voll zu integrieren, würde die Union und die WEU strategisch aus der Balance geraten lassen. Allerdings kann ein politisches Konzept für das "eine" Europa diese strategische Schlüsselregion Europas nicht ausgrenzen. Neben breit angelegter Kooperation sind daher übergreifende Elemente der europäischen Struktur zu nutzen, um die Nachfolgestaaten der Sowjetunion strategisch einzubinden und ihre legitimen Sicherheitsinteressen zu befriedigen.
  24. Das Kooperationskonzept der WEU soll den Entwicklungsprozeß der jungen Demokratie Europas fördern und potentielle Mitglieder auf den Beitritt vorbereiten. Dabei wird das Konsultationsforum eine zentrale Rolle einnehmen. Darüber hinaus können kooperative Beziehungen zu den südlichen Mittelmeeranrainern eine wichtige Vorstufe zum präventiven Krisenmanagement in dieser strategisch bedeutsamen Region darstellen.
  25. Die Nordatlantische Allianz bleibt Grundlage der Sicherheit Deutschlands. Sie verkörpert die strategische Einheit Europas und Nordamerikas. Nur im transatlantischen Verbund werden strategische Potentiale ausbalanciert und bleibt die gemeinsame Sicherheit der Bündnispartner erhalten. Die Allianz besitzt damit eine Stabilisierungsfunktion, die auf ganz Europa ausstrahlt. Auf der Basis dieser Kernfunktionen wird die europäische Dimension der NATO fortentwickelt werden und einen höheren Stellenwert erhalten. Konzepte, Kommando- und Streitkräftestrukturen müssen an künftige Erfordernisse im europäischen Rahmen angepaßt werden. Als Rückgrat der euro-atlantischen Sicherheitspartnerschaft muß die NATO die neuen strategischen Trends stärker in ihrem Rollenverständnis reflektieren. In ihrer Schutzfunktion wird die NATO daher mehr Relevanz für Krisen und Konflikte im erweiterten geographischen Umfeld entwickeln müssen, um Stabilitätsanker für ganz Europa zu bleiben. Die NATO muß auch stärker verdeutlichen, daß ihr strategischer Gehalt neben der Schutzfunktion als System kollektiver Verteidigung den friedlichen Interessenausgleich und gemeinsamen Fortschritt umfaßt. Sie wird sich daher in ihrer politischen Rolle für ganz Europa deutlicher profilieren und über das heutige Kooperationskonzept hinaus noch stärker den Staaten im Osten des Kontinents öffnen müssen. Die Kooperationsbeziehungen im Rahmen des Nordatlantischen Kooperationsrates (NAKR) müssen mit Blick auf das erforderliche künftige Rollenverständnis der NATO fortentwickelt werden.
  26. Die KSZE ist das politische Dach, unter dem Nordamerika, die Europäische Union und Osteuropa auf gemeinsamer Wertebasis verbunden sind. Sie bildet den Rahmen für eine umfassende politische, ökonomische, soziale, kulturelle und ökologische Kooperation. Die KSZE wird aber die Fähigkeit ausbauen müssen, ihrer Wertegrundlage Geltung zu verschaffen und sie fortentwickeln zu können. In Krisen und Konflikten muß sie ihre Aufgaben als regionale Abmachung gemäß Kapitel VIII der Charta der Vereinten Nationen in eigener politischer Verantwortung unter Rückgriff auf die Mittel anderer Institutionen wahrnehmen können. Neben der Fortsetzung des rüstungskontrollpolitischen Prozesses sind die Pflege von Beziehungen zu den Organisationen anderer Weltregionen und zu den Vereinter Nationen bedeutsame zukünftige Aufgabenfelder der KSZE.
  27. Die Vereinten Nationen (VN) sind Friedenshüter der Völkergemeinschaft. Dabei geht es im Kern um die Schaffung einer globalen Partnerschaft zum gemeinsamen Überleben. Voraussetzung dazu ist die weltweite Durchsetzung der universellen Menschenrechte und des Völkerrechts. Für diese Kernaufgabe müssen die VN weiter gestärkt werden. Strukturen und Verfahren der VN bedürfen dazu mit Blick auf zukünftige strategische Trends und Herausforderungen einer tiefgreifenden Reform. Operative Gremien müssen die neuen strategischen Gewichte von Staaten und Regionen abbilden, um die Akzeptanz aller Mitgliedstaaten für ihre Entscheidungen in Zukunft sicherstellen zu können. Die Fähigkeit zum präventiven Krisenmanagement muß stärker entwickelt werden. Dazu sollten die VN bei Bedarf schnell auf entsprechend ausgebildete und ausgestattete Truppenkontingente von Mitgliedstaaten mit deren Zustimmung zurückgreifen können.
  28. In einer dynamischen Übergangszeit existieren zwangsläufig unterschiedliche Vorstellungen, wie sich das "eine und freie Europa" schließlich konkret entwickeln soll. Wir müssen daher auf den bewährten Institutionen aufbauen, sie pragmatisch an künftige Erfordernisse anpassen, ihre inhärenten Möglichkeiten entwickeln und alle Kräfte synergetisch zur Wirkung bringen. Angesichts des dynamischen Wandels wäre es falsch, sich im Geflecht der Institutionen unnötig einzuengen. Flexibilität, Nutzung aller Handlungsmöglichkeiten und Offenheit für Anpassungsprozesse müssen im Vordergrund stehen. Nationale deutsche Zielvorstellungen nur schrittweise, im induktiven Ansatz und in enger Abstimmung mit den Partnern verwirklicht werden.
  29. In der postkonfrontativen Ära bleiben Streitkräfte ein notwendiges sicherheitspolitisches Instrument, um Chancen wahrnehmen und Risiken und Konflikte bewältigen zu können. Aber auch die Streitkräfte müssen dem künftigen Verständnis von Sicherheitspolitik folgen und qualitativ und quantitativ auf die neuen Erfordernisse ausgerichtet werden. Nicht mehr die alleinige Fähigkeit zur umfassenden Verteidigung gegen eine ständig drohende Aggression, sondern flexible Krisen- und Konfliktbewältigung im erweiterten geographischen Umfeld, Friedensmissionen und humanitäre Einsätze bestimmen neben der Schutzfunktion gegen verbleibende unmittelbare Risiken ihr künftiges Anforderungsprofil.
  30. Ein souveräner Staat muß wehrhaft und wehrbereit bleiben. Um sich gegen die Unwägbarkeiten künftiger Entwicklungen zu wappnen. Verteidigung ist der politische Legitimationsrahmen für die Streitkräfte und die Allgemeine Wehrpflicht. Der Schutz unseres Landes gegen äußere Gefahr bleibt auch künftig Sache aller Bürger. Die Allgemeine Wehrpflicht ist die Klammer zwischen Bundeswehr und Gesellschaft. Die Wehrpflicht hat sich als Wehrfom für unseren demokratischen Staat bewährt und bleibt auch weiterhin zentrales Element unserer Sicherheitsvorsorge. Eine an die neuen Rahmenbedingungen und langen Warnzeiten angepaßte Verteidigungsfähigkeit stellt auch in der Zukunft Grundlage der deutschen Sicherheitsvorsorge dar. Verteidigungsvorsorge kann künftig nicht auf das eigene Territorium beschränkt bleiben, denn sie ist ein kollektiver Ansatz. Für Deutschland bedeutet Verteidigung immer Verteidigung im Bündnis im Sinne einer erweiterten Landesverteidigung. Ein Teil der deutschen Streitkräfte muß daher zum Einsatz außerhalb Deutschlands befähigt sein.
  31. Angesichts multidimensionaler und -direktonaler Risiken müssen Streitkräfte handlungsorientiert gestaltet werden. Das Handlungserfordernis wächst mit dem Intensitätsgrad der Risiken, der sich aus der Kombination von Wahrscheinlichkeit und Bedrohlichkeit ergibt. Streitkräfte sind prioritär auf die Wahrnehmung solcher Risiken zu optimieren, die einen hohen Intensitätsgrad aufweisen. Dies sind auf absehbare Zeit jene, die frühzeitiges Krisen- und Konfliktmanagement erfordern. Wesentliche Kennzeichen der dazu benötigten militärischen Kräfte sind rasche Verfügbarkeit sowie ein hohes Maß an Flexibilität und Mobilität.
  32. Ursachen von Risiken und Konflikten werden generell nicht durch den Einsatz militärischer Mittel behoben. Jedoch können Streitkräfte gleichsam in einer "Katalysatorfunktion" die notwendigen Voraussetzungen schaffen, unter denen nichtmilitärische Instrumente einer ursachenorientierten Krisen- und Konfliktbewältigung Wirkung entfalten können. Um diese Instrumente nutzbar zu machen, wird im internationalen Krisenmanagement künftig auch eine Wiederherstellung der internationalen Sicherheit und des Völkerrechts unter einem legitimierenden Mandat der VN oder der KSZE erwogen werden müssen.
  33. Streitkräfte sind auch für die Gestaltungsfunktion der Sicherheitspolitik von hohem Rang. Sie dienen der inneren Stabilität Europas und fördern die Entwicklung der europäischen Sicherheitsstrukturen. Dazu gehören auch Beiträge zur Rüstungskontrolle und Abrüstung. Streitkräfte stellen darüber hinaus ein politisch bedeutsames Feld für Kooperations- und Integrationsbemühungen dar. Fortschritte im militärischen Bereich können sowohl als Initiator wie auch als "Schlußstein" politischer Integrationsprozesse dienen.
  34. Auch für die Zukunft gilt das politische Ziel, in Europa ein Höchstmaß an Sicherheit und Stabilität auf möglichst niedrigem Streitkräfteniveau zu erreichen. Die Aufgaben von Rüstungskontrolle und Abrüstung sind aber vor dem Hintergrund der künftigen Konstellation strategischer Faktoren neu zu gewichten. Permanenter sicherheitspolitischer Dialog, Konfliktverhütung und Krisenmanagement sowie Verhandlungen der Rüstungskontrolle sind gleichrangige, eng verknüpfte Handlungsfelder. Künftig sind aber auch vermehrt außereuropäische Einflüsse und binneneuropäische Sicherheitsbeziehungen zu berücksichtigen. Auf längere Sicht müssen Kriterien für regionale Stabilität, für hinreichende Verteidigungsfähigkeit und für zukünftige Sicherheitsbedürfnisse in einem zusammenwachsenden und kooperierenden Europa entwickelt werden. Darüber hinaus müssen bisherige konzeptionelle Ansätze auf den gesamteuropäischen Rahmen erweitert und regionale Rüstungskontrollprozesse intensiviert werden. Ein zunehmend wichtiges Feld der Rüstungskontrolle ist es, die Proliferation von Massenvernichtungsmitteln und Trägersystemen einzudämmen, globale Bemühungen um Zurückhaltung beim Rüstungsexport zu unterstützen sowie international verbindliche Kriterien für ein Rüstungsexportregime zu entwickeln.
  35. Die grundlegend verbesserte Sicherheitslage hat es möglich gemacht, den Verteidigungshaushalt zurückzuführen und im Lichte der überragenden gesamtstaatlichen Aufgaben in den neuen Ländern neu zu gestalten. Die veränderte Lage verlangt, auch in der Ressourcenbewirtschaftung neue Prioritäten zu setzen. Die für den Anpassungsprozeß der Bundeswehr benötigten planerischen Freiräume sind daher zu erwirtschaften. Dabei geht es auch um die Herstellung eines angemessenen Verhältnisses von Investition und Betrieb. Wo Investitionen auf absehbare Zeit nicht unabdingbar erforderlich sind, muß Verzicht geübt werden, um künftig vorrangige Aufgabenbereiche ausgestalten zu können. Verfügbare Mittel müssen optimal ausgeschöpft und rationell eingesetzt werden. Durch Rüstungskooperation, Abbau redundanter Fähigkeiten, Standardisierung, gemeinsame Aufgabenwahrnehmung, funktionale Arbeitsteilung und Rollenspezialisierung können Mittel gespart werden. Dazu ist auch unter Verzicht auf nationale Rüstungsautarkie im europäischen Rahmen, im Bündnis und bilateral zu kooperieren. Deutschland muß als Voraussetzung für diese Kooperationsfähigkeit über eine leistungsfähige industrielle Basis in technologischen Kernbereichen verfügen, um auf die Entwicklung entscheidender Systeme Einfluß nehmen zu können. Rüstungswirtschaftliche Grundfähigkeiten fördern die Bündnis- und Europafähigkeit und damit die Sicherheit unseres Landes. Im nationalen Rahmen ist eine stärkere Abstützung auf zivile Ressourcen bis hin zur Privatisierung von Aufgaben anzustreben. Durch Verstärkung der Pilotfunktion einzelner Teilstreitkräfte ist die Aufgabenteilung voranzutreiben. Der erforderliche Modernitätsgrad der Streitkräfte ist am technologischen Standard der Kräfte im erweiterten geographischen Umfeld sowie am deutschen Selbstbild als moderner Industriestaat zu messen. Einer breiten Befähigung zur Auftragserfüllung ist der Vorrang vor punktueller Spitzentechnologie zu geben.
  36. Die Bundeswehr trägt entscheidend dazu bei, die politische Handlungsfähigkeit und Bündnisfähigkeit Deutschlands zu erhalten. Sie leistet diesen Beitrag als eine Komponente neben anderen im sicherheitspolitischen Instrumentarium unseres Landes. Ihr in der Verfassung begründeter Auftrag reflektiert die Wertegrundlage der deutschen Sicherheitspolitik, die vitalen nationalen Sicherheitsinteressen, die neue Konstellation von Chancen und Risiken sowie die fundamental veränderte Lage und Rolle Deutschlands. - schützt Deutschland und seine Staatsbürger gegen politische Erpressung und äußere Gefahr, - fördert die militärische Stabilität und die Integration Europas, - verteidigt Deutschland und seine Verbündeten, - dient dem Weltfrieden und der internationalen Sicherheit im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen, - hilft bei Katastrophen, rettet aus Notlagen und unterstützt humanitäre Aktionen.
  37. Die zukünftige Struktur der Streitkräfte besteht aus Hauptverteidigungs- und Krisenreaktionskräften sowie der Grundorganisation der Streitkräfte. Krisenreaktionskräfte sind zugleich auch der schnell verfügbare Teil der Hauptverteidigungskräfte. Die Streitkräftekomponenten bilden eine konzeptionelle Einheit, die stets eine planerische Gesamtbetrachtung erfordert.
  38. Die dauerhaft verbesserte Sicherheitslage mit einer nutzbaren Warnzeit von mindestens einem Jahr für den Fall einer größeren Aggression erlaubt es, die Bundeswehr konsequent auf den Charakter einer Mobilmachungsarmee auszurichten. Die personelle und materielle Aufwuchsfähigkeit der Hauptverteidigungskräfte muß jedoch erhalten bleiben, um die Verteidigung im Bündnisrahmen sicherzustellen. Dies setzt die Verfügbarkeit von Reservisten voraus, die vor allem im Rahmen ihres Grundwehrdienstes auszubilden sind.
  39. Die Notwendigkeit, bei kurzfristig auftretenden Krisen und Konflikten rasch, flexibel und solidarisch reagieren zu können, erfordert präsente Kräfte. Deutlich begrenzte Teilkomponenten dieser Krisenreaktionskräfte werden, nach Vorliegen der Voraussetzungen, Friedensmissionen im Einklang mit der UN-Charta übernehmen, um der deutschen Mitverantwortung in der Völkergemeinschaft gerecht zu werden.
  40. Krisenmanagement wird als künftige Schwerpunktaufgabe an die Stelle der bisherigen Ausrichtung auf die Abwehr einer großangelgten Aggression treten. Im Gegensatz zur umfassenden Verteidigungsfähigkeit besteht bei der Fähigkeit zum flexiblen Krisen- und Konfliktmanagement ein eindeutiges Defizit, das es konsequent und schnell abzubauen gilt. Die Eignung der Streitkräfte zum Kriseneinsatz muß auf breiter Grundlage verbessert werden. Krisenreaktionskräfte müssen befähigt werden, nach Art, Intensität sowie Warnzeit, Dauer und Ort unterschiedliche Krisen und Konflikte im Bündnis und anderen internationalen Kooperationsformen erfolgreich zu bewältigen. Sie müssen den daraus resultierenden neuen Anforderungen an Ausbildung, Ausrüstung, Flexibilität und Mobilität gerecht werden. Dazu gehört auch eine ständige, zentrale, teilstreitkraft-übergreifende Planungs- und Führungsfähigkeit.
  41. Strategisches Denken in Phasen ist angesichts zukünftiger Konstellation von Chancen und militärischen und nichtmilitärischen Risiken überholt. Daher verbietet sich auch eine starre Zuordnung militärischer Fähigkeiten zu den Kategorien Frieden, Krise und Krieg. Ebenso stellen die verschiedenen Stufen von Aufwuchs, Verfügbarkeit und Einsatzbereitschaft ein Kontinuum von Aggregatzuständen dar.
  42. Das neue Auftrags- und Fähigkeitsspektrum führt zu einer völlig veränderten Planungssituation. Erforderlich ist eine Bundeswehrplanung als ganzheitlicher Ansatz und aus einem Guß. Planerischer Schwerpunkt sind dabei die Krisenreaktionskräfte. Sie müssen mit allen nötigen Komponenten für einen flexiblen Einsatz versehen werden. Der notwendige planerische Spielraum ist bei den Hauptverteidigungskräften, bei der Grundorganisation und durch Förderung kostensparender Methoden internationaler Zusammenarbeit zu gewinnen. Bei der Aufstellung der Krisenreaktionskräfte ist der Qualität Vorrang vor schnell erreichter Quantität zu geben, auch wenn der Aufbau dann nur schrittweise erfolgen kann.
  43. Vorrang für den Mitteleinsatz besitzen - unabweisbare Investitionen in Truppenteile, die auf akute Handlungserfordernisse ausgerichtet werden; - Investitionen in eine sinnvolle, fordernde und motivierende Ausbildung; - Investitionen in die Lebens-, Ausbildungs- und Dienstbedingungen der Soldaten in den neuen Bundesländern.
  44. Eckwerte der Bundeswehrplanung sind - die Begrenzung des Friedensumfangs auf 370.000 Soldaten ab 1995 sowie die Rüstungskontrollvereinbarungen zu Obergrenzen bei vertragsrelevantem Großgerät; - die politischen Vorgaben zur Wehrform, Wehrdienstzeit, Personalstruktur und Finanzausstattung; - die Verpflichtungen, die Deutschland im internationalen Rahmen eingegangen ist (NATO, WEU, KSZE, VN).
  45. Die Soldaten der Bundeswehr müssen in ein neues Selbstverständnis hineinwachsen, um die Herausforderungen der Zukunft erfolgreich meistern zu können. Im Zentrum des soldatischen Leitbildes steht weiterhin der Wille, Deutschland zu schützen und dazu notfalls auch sein Leben einzusetzen. Unsere Soldaten müssen künftig aber auch bereit sein, in einer eng verflochtenen Welt neben der Verantwortung für ihr Land Mitverantwortung für die bedrohte Freiheit und das Wohlergehen anderer Völker und Staaten zu übernehmen. Sie sollen mit derselben Tatkraft und Tüchtigkeit, mit der sie ihre Kampfaufträge durchführen, zur internationalen Kooperation, zur Hilfe und zur Rettung fähig sein. Soldatische Professionalität muß sich dazu an den realen Bedingungen von Krieg, Gefahr und menschlichem Elend orientieren, unter denen Soldaten künftig ihren Dienst leisten werden. Dieser notwendige Anpassungsprozeß stellt eine erhebliche Herausforderung dar - mit Blick auf Führung, Ausbildung und Erziehung. Unter allen Herausforderungen, die wir bewältigen müssen, ist die geistige Auseinandersetzung mit den revolutionär veränderten Bedingungen für unsere Sicherheit von besonderem Gewicht.
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