DIE Internet-Zeitung
Entwicklung in Ägypten und die Zukunft der Revolution (Teil 1)

Ägypten: Revolution in Gefahr durch Mursi, Muslimbrüder und Salafisten

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Entwicklung in Ägypten und die Zukunft der Revolution (Teil 1)Die Entwicklung in Ägypten und die Zukunft der dortigen Revolution ist ein brennendes Thema. Gabi Bieberstein trägt in dieser Artikelserie aktuelle Nachrichten und Analysen zusammen. Bei den Analysen stützt sie sich unter anderem auf Ergebnisse des Seminars „Arabellion – Zeitenwende im arabischen Raum“, das im Januar 2013 vom Versöhnungsbund in NRW durchgeführt wurde. [1] Der Begriff Arabellion war damals gewählt worden, um die Begriffe „arabischer Frühling“ und „Revolution“ zu vermeiden. Denn von einem „arabischen Frühling“ wird im arabischen Raum nicht gesprochen, und die Frage, ob es sich in Ägypten, Tunesien und Syrien um Revolutionen handelt, sollte auf dem Seminar erst noch diskutiert werden. Der Begriff Arabellion wurde bereits im Juli 2011 verwendet - unter anderem von der FAZ [2] -, um zum Ausdruck zu bringen, dass es sich bei den Ereignissen um ein „arabisches Jahrhundertprojekt“ handelt. Ein weiteres Seminar zu dem Thema ist für Januar 2014 geplant. [3] (Der Tahrirplatz in Kairo, Februar 2011 - Foto: Mona, Wikimedia Commons)


Der Artikel gliedert sich in mehrere Teile. Zunächst geht es um die politische Rolle der Islamisten in Ägypten und ganz besonders der Muslimbrüder. In den folgenden Teilen werden andere politische Kräfte vorgestellt sowie die Situation der Menschenrechte, die wirtschaftliche Lage und Zukunftsperspektiven erörtert.

Arabellion-Seminar in Vlotho 2013

Clemens Ronnefeldt, Friedensreferent des Versöhnungsbunds (l); Hoda Salah, Politologin mit den Forschungsschwerpunkten Islam und Gender in Ägypten (m); Martin Arnold, Autor des Buchs „Gütekraft – Gandhis Satyagraha“ am 26.01.2013 bei der Arabellion-Tagung in Vlotho

DIE MUSLIMBRÜDER ALS „FEINDE DER PRESSEFREIHEIT“

Auf der im Mai von Reporter ohne Grenzen herausgegebenen Liste „Feinde der Pressefreiheit“ werden die Muslimbrüder Ägyptens – zusammen mit ca. 40 anderen Politikern, paramilitärischen Gruppen und kriminellen Netzwerken – als Kräfte angeprangert, "die unabhängige Journalisten verfolgen und versuchen, Medien gleichzuschalten".28 „Es spricht Bände, dass in den ersten 200 Tagen der Amtszeit Mohammed Mursis mehr Journalisten wegen Beleidigung des Staatschefs vor Gericht gezerrt wurden als unter allen vorangegangenen Herrschern Ägyptens und seit Einführung dieses Delikts 1897", so der Pressereferent von Reporter ohne Grenzen.49 Auch hat die Bruderschaft die Chefredakteure staatlicher Zeitungen mit Gefolgsleuten ersetzt. Gerechterweise muss allerdings ergänzt werden, dass viele Menschen sich jetzt mehr trauen als zu Zeiten Mubaraks und dass die Zahlen deswegen nicht unbedingt vergleichbar sind.

Kairo April 2011

Kairo im April 2011. Trotz Militärdiktatur herrschte damals viel Optimismus. (Foto links: Caren Brinckmann) - Mitte: In der Zeit nach dem Rücktritt Mubaraks war die Armee überall in den Städten präsent. (Foto: Gabi Bieberstein) - Rechts: Angriff der Armee am 9. April 2011 (Foto: Jonathan Rashad, Wikimedia Commons)

In der Zeit direkt nach dem Sturz Mubaraks herrschte viel Optimismus über die weitere Entwicklung sowohl hinsichtlich Pressefreiheit als auch hinsichtlich anderer Menschenrechte, obwohl Ägypten nach wie vor eine Militärdiktatur war. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Redakteurinnen und Redakteuren der großen Oppositionszeitung Almasry Al-Youm im April 2011 kurz nach dem Sturz Mubaraks. Sie sagten, dass sie jetzt endlich das Gefühl hätten, frei berichten zu können, ohne dass gleich am nächsten Tag die Polizei vor der Tür stünde.

Jetzt verliere der Staat zunehmend an Legitimität, sagt Stephan Roll, Ägypten-Experte der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). "Ein großer Teil der Bevölkerung wendet sich komplett ab in einer allgemeinen Skepsis gegenüber der Politik."50 Andere protestieren gegen Mursi und es kommt zu vielen Demonstrationen und Streiks. Ebenso wie das wichtigste Oppositionsbündnis die Nationale Heilsfront (National Salvation Front, NSF) kritisiert auch die ägyptische deutsche Politologin Hoda Salah, eine der ReferentInnen bei dem Arabellion-Seminar, die Regierung deutlich und sagte während des Staatsbesuchs im Januar in Berlin, "dass Mursi zurzeit kaum Legitimität in der ägyptischen Gesellschaft genießt."51 Laut neusten Umfragen würden 37 Prozent der Bevölkerung Mursi wählen,52 sofern Umfragen (im Moment) überhaupt Glauben geschenkt werden kann.

DIE MUSLIMBRÜDER ALS GEFAHR FÜR MENSCHENRECHTE UND DEMOKRATIE

Mohammed Mursi

Mohammed Mursi, Präsident von Ägypten, Foto: Wilson Dias/ABr, Wikimedia Commons

Die seit fünf Jahren bestehende Jugendbewegung "6. April" wirft Mursi inzwischen vor, sich wie ein Diktator zu verhalten53, ebenso Amr Adly in der Zeitung Egypt Independent:

„Vor ein paar Tagen hat der der Bruderschaft nahestehende Generalstaatsanwalt Anklagen gegen viele wichtige Vertreter der revolutionären Jugendbewegung erhoben… Für viele Menschen ist klar geworden, dass die neuen Herrscher dieselben alten Methoden zur Unterdrückung ihrer Opponenten anwenden. .. In der Tat ein Blick in die kürzlich ratifizierte Verfassung und die von Präsident Mohammed Mursi verabschiedeten Gesetze und Verordnungen ist ausreichend, um zu befürchten, dass eine autoritäre Ordnung reproduziert wird, die sogar noch übler ist als die vorherige, weil sie durch die Wahl gesetzmäßiger ist. Wenn die Revolution weiter gehen soll, ist der Weg klar: Das autoritäre Projekt der Bruderschaft muss beendet werden, auch wenn es bedeutet, den gewählten Präsidenten aus dem Amt zu treiben.

Diejenigen die die Bruderschaft verteidigen, verwenden ein sehr formalistisches Konzept von Demokratie, wonach das Gewinnen von Wahlen das einzige Kriterium für Legitimität ist. Diese Menschen ignorieren, dass es in der Geschichte viele gewählte Diktatoren gab einschließlich Adolf Hitler.“54

Tomas Avenarius kommentierte im November 2012 ähnlich: „Machtergreifung lautet das Wort. Ein frei gewählter Politiker hebelt die Institutionen des Staates aus und entzieht sich so den Kontrollmechanismen der Demokratie: dem Parlament, der Justiz, unabhängigen Medien. Der ägyptische Staatschef Mohammed Mursi, seit Ende Juni im Amt, hat den Versuch solcher Machtergreifung unternommen. Die Medien werden schon länger attackiert. Und Mursis "Verfassungserklärung" - die Bezeichnung spricht dem Vorgehen des Präsidenten beim Erlass dieses Dekrets Hohn - vereinigt nun Exekutive, Legislative und Judikative in einer - seiner - Hand. Ein solche Machtfülle hatte nicht einmal Mursis 2011 gestürzter Vorgänger Husni Mubarak. Die Opposition spricht von "Diktatur", "Faschismus", einem "neuen Pharao" und ruft ihre Anhänger auf Kairos zentralem Tahrir-Platz zusammen...“55

Der Politikwissenschaftler Hamadi El-Aouni geht mit seiner Kritik noch eine Schritt weiter: Die Muslimbrüder streben seiner Meinung nach nicht nur eine Autokratie an, sondern einen „Totalitarismus in einem angeblichen Auftrag Gottes. Die Muslimbrüder sehen sich als Vertreter Gottes auf Erden, machen aus der Religion eine Art Diktat und benutzen Moscheen als Manipulationsräume. Dabei behaupten sie, alleine den Koran verstehen und interpretieren zu können. Das grenzt an Blasphemie gegen das, was dort geschrieben steht. Niemand darf Religion als Machtinstrument oder als Unterdrückungsmittel missbrauchen.“56

Diese Sicht wird jedoch nicht von allen Wissenschaftlern geteilt. Stephan Roll findet den Vorwurf der Machtergreifung was Mursis Politik im November 2012 anbelangt nicht ganz stimmig: „Ägypten ist bislang keine Demokratie. Weite Teile der Judikative entstammen dem autoritären Mubarak-Regime. Demokratische Maßstäbe anzusetzen, greift daher zu kurz. Mursis Vorgehen mag problematisch gewesen sein, und sicherlich hätte er es besser kommunizieren müssen. Die Maßnahmen allerdings waren von Anfang an zeitlich befristet.“57

Sich der Kontrolle der Justiz zu entziehen ist Mursi trotz mehreren Versuchen nicht gelungen, die weitgehende Gleichschaltung der Medien und die Machtfülle der im Dezember 2012 beschlossenen Verfassung sind ihm jedoch geblieben. Gerade auch das Ausnutzen seiner Macht zum Durchpeitschen des Verfassungsreferendums wird ihm zum Vorwurf gemacht.

Tahrirplatz Kairo 2011

Tahrirplatz in Kairo, April 2011. Auch jetzt kommt es immer wieder zu geplanten und spontanen Demos in Kairo und anderen Städten. Foto: Caren Brinckmann


Im Februar 2013 berichtete die Die Ägyptische Initiative für Menschenrechte (The Egyptian Organization for Human Rights, EOHR), dass sich die Menschenrechtslage in Ägypten seit Mursis Amtsantritt verschlechtert habe.58 Detailliertere Informationen dazu und zu der katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Lage sowie ein Ausblick auf die Zukunft sind in anderen Teilen dieses Artikels zu finden. Zunächst werden die wichtigsten politischen Kräfte kurz vorgestellt – in diesem Teil ausschließlich islamistische Kräfte.

ISLAMISTEN

Islamistische Kräfte spielen eine große Rolle in Ägypten. Es ist wichtig zu betonen, dass Islam und Islamismus keineswegs identisch sind und dass nur ein Teil der Muslime Islamisten sind und auch die Wählerinnen und Wähler von islamistischen Parteien nicht unbedingt Islamisten sind. Der Begriff Islamismus – oder synonym politischer Islam – wird für alle Gruppen verwendet, die eine stärkere Rolle des Islam in Politik und Gesellschaft fordern. Dabei geht es ihnen darum, ihr Verständnis der Scharia (damit ist der Weg zu Gott gemeint, insbesondere durch islamische Gesetze und Moralvorstellungen) für die gesamte Gesellschaft weitgehend verbindlich zu machen. Ursprünglich richtete die Bewegung sich gegen den Kolonialismus und später stellte sie die stärkste Opposition in der postkolonialen Zeit von Nasser bis Mubarak dar. Deswegen hat sie immer noch die „Aura einer Widerstandsbewegung“.59

Der Islamismus sieht die Lösung aller sozialen Probleme in der „Moralisierung der Gesellschaft“.60 Nur dadurch könne Ungerechtigkeit bekämpft werden, nicht durch Widerstand der Arbeiterinnen und Arbeiter oder durch Sozialpolitik. Wie diese Moralisierung erreicht werden kann, darüber gibt es unterschiedliche Vorstellungen zwischen den verschiedenen islamistischen Richtungen Muslimbrüder, Salafisten und Dschihadisten.

DIE MUSLIMBRÜDER

Präsident Mohammed Mursi entstammt der Muslimbruderschaft und ist Mitglied der von ihr kurz nach dem Sturz Mubaraks gegründeten Partei Freiheit und Gerechtigkeit (Freedom and Justice Party, FJP). Seit März 2013 ist die Bruderschaft als Nichtregierungsorganisation (NGO) registriert. Es besteht keine offizielle Verbindung mit der Partei FJP.61

Muslimbrüder Al Qaradawi und Badie, Ägypten

Scheich Yusuf al-Qaradawi (links), bedeutendes Mitglied der Bruderschaft. Er kann seine Predigten seit Jahren über Aljazeera verbreiten. Foto: Nmkuttiady. - Muhammad Badi'e (rechts), Vorsitzender der Muslimbruderschaft, vor der Fahne der Organisation. Foto: Mohamedhph

Die Bruderschaft ist entgegen dem Anschein kein reiner Männerbund. Rund eine Million Mitglieder hat sie insgesamt, die Hälfte davon meist sehr gut ausgebildete Frauen. Führungsfunktionen bleiben ihnen verwehrt; in den zentralen Entscheidungsgremien sitzen ausschließlich Männer. Dennoch gilt die „Schwesternschaft“ als tragende Säule der Organisation. Sie kümmert sich um das Kerngeschäft der Islamisten: Wohltätigkeit für die Armen.62 Sozialpolitik ist dagegen kein Thema für die Bruderschaft. „Der Kern der wirtschaftlichen Vision der Bruderschaft ist ein Extremkapitalismus“, so der Ex-Muslimbruder Sameh Elbarqy.63

Die Bruderschaft hat sich stark gewandelt. Nach der Revolution gab es starke innere Kritik in ihren Reihen mit vielen Aussteigern. Die eher Moderaten und Linken sind ausgetreten; die rechten sind drin geblieben, so die Politikwissenschaftlerin Hoda Salah, deren Forschungsschwerpunkte Islam und Gender in Ägypten sind. „Die dschihadistische und salafistische Strömung sowie die Wirtschaftsleute innerhalb der Muslimbrüder haben jetzt die Macht",64 so Hoda Salah. Die FJP sei die am besten organisierte politische Kraft. „Die Stärke der Islamisten liegt auch an der Schwäche der Opposition.“65

Es gibt zehn sehr interessante Bücher von Aussteigerinnen und Aussteigern, z. B. das von Intissar Abdel-Moneim: „Die Erinnerungen einer Schwester. Meine Geschichte mit der Muslimbruderschaft“.66 Darin beschreibt sie „wie die enge quasi-familiäre Struktur und die zahlreichen Ehen innerhalb der Bewegung die Muslimbruderschaft zu einem von außen kaum durchdringbaren Machtblock festigen.“ Über die Rollenverteilung schreibt sie: „Frauen haben eine immense Bedeutung, aber keine politische Mitsprache. Darin spiegelt sich noch immer das Weltbild Hassan al-Bannas.“67 Er gründete die Bewegung im Jahr 1928 in Ägypten. Ihre Losung lautet: „Islam ist die Lösung.“

Die Mitglieder der Bruderschaft sind laut Tharwat al-Chirbawi, einem 56-jährigen Rechtsanwalt, der zum Führungsgremium der Muslimbruderschaft gehörte, „auf Knopfdruck einsatz- und abrufbereit“.68 Das gelte insbesondere für die Milizen, „die in verschiedenen entlegenen Landesteilen, manchmal sogar in getarnten "Sportclubs" in den Großstädten trainiert werden. Natürlich hat es auch unter Mubarak Kollaborateure auf höchster Ebene gegeben. Waffen waren nie ein Problem, mit Ausbruch der Revolution in Libyen kamen gewaltige Mengen über die Grenze. Was viele nicht wissen: Die Muslimbruderschaft hat immer ihren "Gihaz sirri", die "Geheimer Apparat" genannte Untergrundorganisation beibehalten, die in den neunziger Jahren von Bruderschaftsführer Aschur straff reorganisiert wurde. Die ist äußerst effizient und skrupellos.”69 Die Bereitschaft zum Bürgerkrieg sei prinzipiell da.

Abgesehen von den Aussteigerbüchern wurde im Mai 2013 außerdem ein Dokumentationsfilm über ehemalige Muslimbrüder vorgestellt (Regie: Olfat Osman).70

Milizen der Bruderschaft „verhafteten“ Anfang Dezember mindestens 140 Demonstranten und verhörten und folterten sie in einem Käfig. Nach Augenzeugenberichten wurde dies von der Polizei geduldet.71 Später wurden die Schlägertrupps der Bruderschaft immer wieder gewalttätig und bedrohen und verschleppen Journalisten und andere Opponenten. Allerdings gibt es nicht nur bei der Bruderschaft gewalttätige Gruppen; auf diese wird später eingegangen.

Die Muslimbrüder haben seit langem gute Beziehungen zu Katar. Führende Mitglieder lebten jahrzehntelang dort, als die Bruderschaft in Ägypten verboten und verfolgt wurde, so der inzwischen 86-jährige Prediger Yusuf al-Qaradawi. Ihm wurde die Medienplattform Aljazeera zur Verfügung gestellt, wodurch er seine Sendung "Die Scharia und das Leben" im ganzen arabischen Raum verbreiten konnte. Vor der Revolution waren Demokratie, Toleranz und Förderung von Frauen innerhalb der Bruderschaft wichtig. Dies hat sich jetzt verändert und auf den zunehmenden Widerstand in der Bevölkerung reagiert sie mit immer mehr Religion.

SALAFISTEN UND DSCHIHADISTEN

Vertreter des politischen Islam sind abgesehen von der Muslimbruderschaft Salafistengruppen und Dschihadisten, wobei es mehrere sehr unterschiedliche Strömungen und auch Militante gibt. Viele Ähnlichkeiten mit dem in Saudi-Arabien herrschenden wahabitischen Islam fallen auf und manche Anhänger dieser Gruppen waren jahrelang als Gastarbeiter in Saudi-Arabien.

Saudi-Arabien ist wegen seines Ölreichtums ein großer Machtfaktor in der Welt. Zum einen ist das Land für die vielen ausländischen „Wander-Dschihadisten“ in Syrien und anderswo verantwortlich, die vor allem durch private saudische Organisationen finanziert werden und ihren wahabitisch-salafistischen Radikal-Islam durchsetzen wollen.72 Darüber hinaus gehen viele Analysten davon aus, dass saudischen Organisationen großzügig salafistische Gruppen in vielen Ländern unterstützen. Insbesondere geht es um Koranschulen, Bau von Moscheen, Ausbildung von Imamen in Saudi-Arabien sowie um Geld zu wohltätigen Zwecken. „Viele Menschen sind vor allem aus wirtschaftlichen Gründen empfänglich für die Angebote der Islamisten, da die wahabitische Missionierung nicht zuletzt von erheblichen finanziellen Zuwendungen begleitet wird“,73 so heißt es in einer Studie der Konrad-Adenauer-Stifung zu Mali. Gleiches gilt vermutlich für viele andere Staaten, z. B. Ägypten, Afghanistan, Bangladesch, Indien, Pakistan, Philippinen und hat dort zu einer starken Radikalisierung und Gewaltzunahme geführt.

Die erste ägyptische salafistische Gruppe wurde 1926 gegründet74 und verstand sich als apolitisch, lehnte insbesondere Politik und Demokratie als Götzenanbetung ab und blieb relativ unbedeutend. Weil die Salafisten damals keine politischen Bewegungen waren, konnten sie – im Unterschied zu heute – nicht als islamistische Gruppen bezeichnet werden.

Der Salafismus hat sich in den 1980er und 1990er Jahren stark ausgeweitet – wegen der „von Saudi-Arabien mit seinen Öl-Milliarden geförderte Verbreitung wahabitisch-salafistisches Gedankenguts“75, so der Islamismus-Experte Asiem El Difraoui vom Berliner Institut für Medien- und Kommunikationspolitik. Darüber hinaus half das Mubarak-Regime ihnen zur Verbreitung, da es ihre Lehre als Gegengewicht zu der Muslimbruderschaft in Fernsehen und in Religionsschulen duldete - unter der Bedingung, dass nur religiöse Themen behandelt wurden.

ägyptische Salafisten

Links: Abdel Moneim El Shahat, einer der Führungsmitglieder von Al-Nur (Foto: Lilian Wagdy, Wikimedia Commons) - Rechts: Hazem Salah Abu Ismail, Prediger und populärer salafistischer Politiker, der die Unterstützung der syrischen Revolution als eine Form des Gottesdienstes bezeichnet (Foto: Ambird, Wikimedia Commons)

An der Revolution gegen Mubarak haben sie sich nicht beteiligt, weil sie es als Sünde ansahen, sich gegen einen muslimischen Herrscher zu erheben.76 Auch seit dem Sturz Mubaraks gibt es noch Salafisten, die politisches Engagement ablehnen77 und somit nicht als Islamisten bezeichnet werden können. Andere Salafisten gründeten jedoch Parteien, womit sie in Widerspruch zu ihrer früher verbreiteten Lehre stehen. Damals lehnten sie Wahlen als unislamisch ab. Jetzt argumentieren sie, dass sie Demokratie keinesfalls für die ideale Staatsform hielten, aber deren Prozesse als Methode zur langfristigen Schaffung eines islamischen Staates akzeptierten. Dies begründen sie damit, dass der Wille Gottes durch das Volk verkörpert werde, sei es ihm doch gelungen, die ungläubige Despotie zu stürzen. Bei dieser Argumentation verweisen die Salafisten auf eine Überlieferung des Propheten, wonach „die Gemeinschaft der Gläubigen nicht irren kann«.“78 In dieser Beurteilung der Demokratie liegt ein ganz wesentlicher Unterschied zur Muslimbruderschaft und natürlich auch zum liberal-säkularen und linken Spektrum. Die Salafisten sehen Demokratie nur als Übergangslösung an.

Die Scharia wollen sie als die Quelle der Legislation einführen. Was sie dabei übersehen ist, dass Koran und Sunna, die Quellen des Islam, verschieden gelesen und verstanden werden können. Dadurch wird das ganze Verfahren manipulierbar. Bei der neuen ägyptischen Verfassung haben sich die Muslimbrüder durchgesetzt. Dort werden die Prinzipien der Scharia als Hauptquelle der Gesetzgebung definiert.

Die salafistische Al-Nur-Partei (Partei des Lichts), bei der es sich um einen Zusammenschluss mehrerer auch ehemals militanter Gruppen handelt, war sehr erfolgreich und erhielt in dem inzwischen aufgelösten Parlament ein Viertel der Plätze. Die Al-Nur-Partei selbst bestreitet, finanzielle Unterstützung aus Saudi-Arabien oder Katar erhalten zu haben. Allerdings sei nach Meinung vieler Analytiker offensichtlich, dass Geld in großem Umfang geflossen ist.[#36]_ Dabei sei das primäre Ziel Saudi-Arabiens in Ägypten wie in anderen Ländern nicht, ihre eigene Version des Islam im Orient und Okzident zu verbreiten, so Samir Amghar, Autor des Buches “Le salafisme d’aujourd’hui. Mouvements sectaires en Occident” (Salafismus heute. Konfessionsgebundene Bewegungen im Westen), sondern “ihren politischen und ideologischen Einfluss durch ein Netzwerk von Unterstützern zu konsolidieren, die in der Lage sind, die strategischen und ökonomischen Interessen der Monarchie zu verteidigen“.80

Frau mit Niqab demonstriert in Ägypten, 2011

Frau mit Niqab am 30. Januar 2011 bei der Revolution. Ihre Kleidung entspricht der Vorstellung der meisten Salafisten. Aber der Aufruf dieser Frau zum Sturz Mubaraks widersprach der offiziellen Linie. Foto: Floris Van Cauwelaer, Wikimedia Commons

Vertreter dieser Partei fordern Vollverschleierung von Frauen und in ihrem TV-Programm dürfen nur entsprechend gekleidete Frauen auftreten. Des Weiteren setzen sie sich für die Kinderehe ein [#Mädchen ab Beginn der Menstruation). Säkularismus lehnen sie ab, da er zum Atheismus beitrage.[#38]_ Unter Salafisten ist anti-schiitischer Rassismus weit verbreitet. Als Mursi vor kurzem mit dem schiitischen Iran vereinbarte, dass Touristenreisen aus dem Iran möglich sind, waren viele Salafisten empört. Im Oberhaus des Parlaments wurde darüber debattiert und ein Abgeordneter der Al-Nur-Partei, Tharwat Attallah, warnte: "Schiiten sind gefährlicher als nackte Frauen."82 In der ägyptischen Volkstradition und im Sufitum hat schiitisches Erbe überlebt – ein Grund warum auch gegen Sufis gehetzt wird.83 Treten Sunniten zur Schia über, werden sie von den Gemeinschaften oft böse abgestraft und mit Schmutzkampagnen überzogen84, was wesentlich durch salafistische Hetze hervorgerufen wird.

Emad Eddine Abdel-Ghaffour war früher Vorsitzender von Al-Nur und ist seit Januar 2013 Vorsitzender der neu gegründeten Al-Watan-Partei. Diese Abspaltung von Al-Nur nimmt im Unterschied zu dieser Kopten in der Partei auf und gibt Frauen die Möglichkeit, bei Wahlen zu kandidieren.

Militante salafistische und dschihadistische Gruppen machen häufig auf sich aufmerksam, z. B. durch blutige Straßenkämpfe nach Bekanntwerden des Schmäh-Videos gegen den Islam im September 2012. Sie verbrannten die amerikanische Fahne an der US-Botschaft und hissten die Al-Kaida-Fahne. An dieser Aktion haben sich zum Glück nicht viele beteiligt; allerdings stellt sich die Frage, warum sie überhaupt gelingen konnte. Es wird der Verdacht geäußert, dass salafistische Gewalttaten manchmal geduldet werden. Andere Aktionen von kleinen Gruppen sind, dass sie Frauen ohne Kopftuch, meistens Christinnen, Haare abschneiden,85 oder Geschäfte stürmen, deren Waren oder Dekoration nach ihrer Meinung nicht mit dem Islam vereinbar sind.

Der Generalsekretär der dschihadistischen Partei für Unversehrtheit und Entwicklung [#Safety and Development Party), Mohammed Abu Samra, erklärte in einem Interview des Nachrichtensenders Al-Arabija: "Wenn sie [gemeint sind die Gegner des Verfassungsreferendums] sich gegen die Legitimität stellen, dann werden wir äußerste Gewalt anwenden"86. Außerdem kündigte er an, alle Juden, die nach Ägypten zurückkehren würden, zu bekämpfen. „Die Islamische Scharia sagt, dass sie verdienen, getötet zu werden.“87 Beachtenswert ist, dass solche Aufrufe zu Gewalt nicht strafrechtlich verfolgt werden.

Der salafistische Fernsehprediger Abdullah Badr bedrohte in einer Talkshow des ägyptischen Islam-Senders Al-Hafez die Christen: "Und wenn ihm [Mursi] auch nur ein Haar gekrümmt wird, dann reißen wir ihnen die Augen aus."88 Allerdings hatte dies sowohl für Abdullah Badr wie für den Sender juristische Konsequenzen.

Berg Sinai

Berg Sinai (Gabal Musa). Foto: Wikimedia Commons

Auf dem Sinai sind viele Dschihadisten aktiv, die Terroranschläge - auch auf ägyptische Soldaten – verübt haben. Sie arbeiten mit Beduinen zusammen, die an Entführungen, Organ-, Waffen- und Drogenschmuggel verdienen und kommen so zu großem Reichtum. Eine Menschenrechtsaktivistin vermutet, dass sich zurzeit etwa 1.000 Entführte in den Folterkammern dieses mafiösen Netzwerks befinden.89

Bereits zu Zeiten Mubaraks wurde der Sinai wirtschaftlich vernachlässigt und die dort lebende ethnische Minderheit der Beduinen diskriminiert. Der Menschenrechtsaktivist Al-Azazy aus Al-Arisch, der wichtigsten Stadt im Nordsinai, sagte, es gäbe hier keine Investitionen und keine Jobs. „Wenn du hier ein Unternehmen gründen möchtest, macht dir die Regierung Probleme. Der Jugend fehlen Perspektiven.“90 Fatal ist auch, dass die Polizei in Ägypten nicht funktionsfähig ist und dass nach dem Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel nur eine geringe Militärpräsenz auf dem Sinai erlaubt ist, selbst wenn Israel kurzfristig eine etwas höhere Präsenz gestattet hat.

Mohammed Abu Samra forderte Mursi bereits im Oktober 2012 auf, für eine Friedensvereinbarung von Militär und Dschihadisten im Sinai zu sorgen und drohte andernfalls indirekt mit Gewalt, indem er sagte, dass die dschihadistische Bewegung beschlossen hätte, vorerst keine Gewalt einzusetzen.91

Gabi Bieberstein

In den folgenden Teilen werden andere politische Kräfte vorgestellt sowie die Situation der Menschenrechte, die wirtschaftliche Lage und Zukunftsperspektiven erörtert.

Gabi Bieberstein

Gabi Bieberstein ist aktives Mitglied im Internationalen Versöhnungsbund Deutscher Zweig und bei attac – dort unter anderem in der bundesweiten AG Globalisierung und Krieg und in der AG für Demokratie im arabischen und Mittelmeerraum (DeAM). Sie hat drei Reisen nach Ägypten unternommen, zuletzt im April 2011 direkt nach dem Sturz Mubaraks.

Anmerkungen

[1]Das Seminar fand am 26. und 27. Januar 2013 in Vlotho statt und wurde vom Internationalen Versöhnungsbund deutscher Zweig veranstaltet. Nähere Informationen hierzu sowie zu einem geplanten Seminar im Januar 2014 sind hier zu finden: www.versoehnungsbund.de/arabellion.
[2]Vgl. Demokratische Wende? Arabisches Jahrhundertprojekt, FAZ, 17. Juni 2011
[3]www.versoehnungsbund.de/arabellion.
[28]Reporter ohne Grenzen: ROG-Liste „Feinde der Pressefreiheit“ am 3. Mai 2013
[49]Christoph Dreyer: War das was? In den Ländern des Arabischen Frühlings bleibt die Pressefreiheit bedroht, in: Zenith, März /April 2013, Seite 3
[50]Mursi bei Merkel: Kein Geld, aber strenge Worte, Spiegel Online, 30. Januar 2013
[51]Politologin erwartet klare Worte an Mursi, yahoo! nachrichten Deutschland, 31. Januar 2013
[52]Vgl. Poll: 37 percent of Egyptians would elect Morsy again, Egypt Independent, 7. April 2013
[53]Vgl. Demonstrationen in Ägypten. Ausschreitungen bei Protesten gegen Mursi, tagesschau, 7. Januar 2013
[54]Amr Adly: The mills of God grind slowly but surely, Egypt Independent, 4. April 2013
[55]Tomas Avenarius: Hoffen auf die zweite Revolution, Süddeutsche Zeitung, 26. November 2012
[56]El-Aouni zu Ägypten "Niemand darf Religion als Machtinstrument missbrauchen", Süddeutsche Zeitung, 27. November 2012
[57]Stephan Roll: Was ist dran an der Kritik am ägyptischen Präsidenten Muhammad Mursi, Stiftung Wissenschaft und Politik [#SWP), 29. Januar 2013
[58]Vgl. The Egyptian Organization for Human Rights (EOHR): Egypt: 8 months after Dr. Mohamed Morsi assumed the presidency, the rapid deterioration of the state of human rights in Egypt must be halted, 21. Februar 2013
[59]Schmidt, Bernhard: Die arabische Revolution? Soziale Elemente und Jugendprotest in den nordafrikanischen Revolten, Münster 2011, Seite 24.
[60]Ebenda, Seite 22.
[61]Vgl. Egypt's Brotherhood has become registered NGO: Group lawyer, Ahramonline, 20. März 2013
[62]Vgl. Muslimbruderschaft: Schwestern im Geiste, Profil Online, 6. April 2013
[63]The Economic Vision of Egypt's Muslim Brotherhood Millionaires, Bloomberg Buisinessweek, 19. April 2012
[64]Gemischte Bilanz des "Arabischen Frühlings", Auswärtiger Ausschuss (Anhörung), 20.03.2013
[65]Ebenda.
[66]Vgl. Muslimbruderschaft: Schwestern im Geiste, Profil Online, 6. April 2013
[67]Ebenda.
[68]Aussteiger über die Muslimbrüder: "Alles-oder-nichts-Mafiosi im religiösen Gewand". Interview mit Tharwat al-Chirbawi, Spiegel Online, 8. Dezember 2012
[69]Ebenda.
[70]Vgl. Jeremy Hodge: Life inside the Brotherhood, Daily News Egypt, 15. Mai 2013
[71]Vgl. Muslimbrüder gegen Demonstranten: Abrechnung im Folterkäfig, Spiegel Online, 11. Dezember 2012
[72]Vgl. Jürgen Todenhöfer: Al-Kaida in Mali und Syrien. Die Terror-Zyniker, Frankfurter Rundschau, 31. Januar 2013
[73]Andrea Kolb: Welche Strategie für Mali?, Konrad-Adenauer-Stiftung, 27. Februar 2013
[74]Vgl. hierzu und zu folgendem Asiem El Difraoui: Politisierter Salafismus in Ägypten. Neue Möglichkeiten zur dauerhaften Einbindung in demokratische Prozesse, SWP-aktuell, Oktober 2012
[75]Ebenda, S. 3
[76]Vgl. Al-Nour Party, jadaliyya, 18. November 2011
[77]Vgl. Islamismus in Ägypten. Die ''Starbucks-Salafisten'', Qantara, 13. November 2012
[78]Asiem El Difraoui: Politisierter Salafismus in Ägypten. Neue Möglichkeiten zur dauerhaften Einbindung in demokratische Prozesse, SWP-aktuell, Oktober 2012
[79]Vgl. Al-Nour Party, jadaliyya, 18. November 2011, und How Saudi petrodollars fuel rise of Salafism, France24, 30. September 2012
[80]How Saudi petrodollars fuel rise of Salafism, France24, 30. September 2012
[81]Vgl. Al-Nour Party, jadaliyya, 18. November 2011
[82]Vgl. Unterschriftenaktion soll Präsident Morsi zum Rücktritt bringen. Angst vor Schiitisierung Ägyptens, Der Standard 14. Mai 2013
[83]Vgl. Gudrun Harrer: Ägypten: Hilfe, die Schiiten kommen!, Der Standard, 4. April 2013
[84]Vgl. ebenda und Ägypten: Verfolgt und rechtlos. Schiiten werden nach der Revolution verstärkt schikaniert, Schattenblick, 29. April 2013
[85]Vgl. Die Wut der Dagegen-Islamisten, Zenith, 14. November 2012
[86]"Dann reißen wir ihnen die Augen aus" Machtkampf in Ägypten eskaliert / Islamisten drohen offen mit Gewalt, neues deutschland, 6. Dezember 2012
[87]Islamic Jihad vows to fight the Jews if they return to Egypt, Egypt Independent, 3. Januar 2013
[88]"Dann reißen wir ihnen die Augen aus" Machtkampf in Ägypten eskaliert / Islamisten drohen offen mit Gewalt, neues deutschland, 6. Dezember 2012
[89]Annette Groth und Sofian Philip Naceur: Traumstrände und Folterkammern, Zenith, 16. Mai 2013
[90]Ägypten bekämpft Dschihadisten. Militäreinsatz auf dem Sinai, taz, 8. August 2012
[91]Vgl. Jihad movement accuses Morsy of ignoring reconciliation attempts in Sinai, Egypt Independent, 9. Oktober 2012

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