Konflikte zerstören und verändern, der Frieden lässt wachsen. Diese beiden Kräfte bestimmen seit langer Zeit das Dasein unseres Planeten. Wir sind umgeben von einer Vielzahl an Menschen und Kräften mit ihren eigenen Charakteren und Interessen. Dadurch entstehen Reibungspunkte, die je nach unserem Verhalten konstruktiv bewältigt werden oder weitere Konflikte verursachen können. Das kann von Gedanken, Gefühlen und Worten bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen reichen. Zum Beispiel der Autofahrer, der uns die Vorfahrt nimmt und uns so verärgert und Stress zufügt, ein Mensch in unserer Umgebung, der seine Probleme versucht, zu unseren zu machen, der Angreifer auf der Strasse oder auch einfach ein Gegenstand, der auf uns zufliegt (Gepäckstück im Abteil). Auch der Sturz vom Fahrrad oder das Ausrutschen auf den Boden sind nicht seltene Vorkommnisse. Sie alle zwingen uns, unsere Aufmerksamkeit nach ihnen zu richten und einen Weg zu finden, nicht nur unbeschadet heraus zu kommen, sondern daran zu wachsen. Nicht dagegen anzukämpfen und bleibende Blockaden in uns selbst aufzubauen, sondern sie zu nutzen.
Die inneren Kampfkünste stellen sich diesem Problem. Der ewige Konflikt Mensch-Umwelt oder auf einer noch größeren Ebene der Verbindung von Himmel, Erde und Mensch. Stärke erfordert neben einem wachen und feinfühligen Geist ein stabiles Zentrum, mit der Fähigkeit sich bei ständiger Bewegung und wechselnden Erfordernissen immer neu zu justieren, den Kraftfluss in Intensität und Richtung immer neu zu verändern. Die überaus komplexen Trainingssysteme des Neijiaquan vermitteln nicht nur ein völlig neues Körpergefühl und energetisches Bewusstsein, sondern sind auch ein Weg der Befreiung von Körper und Geist. Mit dem Auflösen unserer psychischen und körperlichen Blockaden werden noch schlummernde Kräfte geweckt und Fähigkeiten entwickelt, die man sich nie zugetraut hätte – ein wahrer Weg des Wachstums und der Bereicherung, auf dem man immer stärker und sensibler gleichermaßen wird, wenn man authentisch trainiert. So erfahren wir schrittweise die tiefe Bedeutung und die dahinterliegenden Lehren nicht nur des Daoismus auf einer sehr pragmatischen Ebene.
Wir lernen, Kräfte feinfühliger wahrzunehmen und sie zu nutzen anstatt dagegen anzukämpfen und sich abzunutzen. In jedem Problem steckt bereits die Lösung. Die Energiearbeit in den inneren Kampfkünsten ist kein pseudoesoterisches Kopfkino, sondern gelebte Spiritualität, die sich wie alles authentische auch anwenden lässt.
Im Training übt der Schüler, unnötige Spannungen, die den Kraftfluss verzerren und bremsen, abzubauen und seinen Schwerpunkt nach unten und die Energie vom Boden durch den Körper nach oben fließen zu lassen sowie sein Gleichgewicht im Stand und in der Bewegung zu spüren und zu optimieren. Die Kräftigung und Dehnung jeder Faser des Körpers geht damit ebenso einher, wie zunehmende energetische Fähigkeiten und das steigende Vermögen, die erlernten Techniken wirkungsvoll in der Selbstverteidigung anzuwenden. Und da sind wir bei einem entscheidenden Punkt: das Verständnis der wahren Bedeutung jeder einzelnen Bewegung in der Anwendung ist unerlässlich, um diese überhaupt richtig zu machen. Im Laufe der weiteren Entwicklung erlangt der Schüler zunehmend die Fähigkeit, intuitiv die erlernten Prinzipien anzuwenden und seine Techniken natürlich den Erfordernissen anzupassen ohne eine unüberschaubare Vielzahl von Techniken und Kombinationen einzeln studieren zu müssen.
Die inneren Kampfkünste wurden wie alle Kampfkünste auf dem Schlachtfeld geboren.
Taijiquan ist die Faust von Yin und Yang, Baguazhang die 8 Trigramme Hand, Xingyiquan die 5 Elemente Faust. Die großen Meister der Vergangenheit waren fähige und gefürchtete Kämpfer, die ihre Fähigkeiten oft auch militärisch nutzten, wenn es erforderlich war und über das, was z. T. aus ihrer Kunst im Sinne von Pseudo-Esoterik-Wellness gemacht wird, sicher alles andere als erfreut wären.
Es ist wie mit der Meditation. Oft hört man den Satz: „Meditation ist Entspannung.“ Das ist so nicht korrekt: Die Entspannung ist eine Voraussetzung für richtige Mediation. Erst wenn der Geist klar und scharf ist kann er in dem Maße arbeiten, wie er von Fesseln und Ablenkungen befreit ist. Wir stärken unseren Geist und arbeiten an immer größerer Klarheit anstatt ihn zu betäuben.
Die inneren Kampfkünste sind etwas großartiges, daher sollte man ihnen Ehre und Respekt erweisen, den alten Meistern nacheifern und sie authentisch verstehen und umsetzen.
Gerade das zunächst langsame Üben, was ja zurecht auch zu Reha-Zwecken und im Alter benutzt wird, dient nicht nur der Entspannung wie eine Tasse Kamillentee.
Es dient dazu, in den Körper hineinzuhören, die Bewegungen zu verfeinern, den Geist zu schärfen, den Energie- und Kraftfluss zu optimieren, damit man sich später umso sauberer schneller und explosiver bewegen kann. Man lernt, die Energie auf den Punkt zu konzentrieren und zu entladen. Die inneren Kampfkünste sind ein Weg der Befreiung, bei dem alle körperlichen und psychischen Störquellen, die der optimalen Bewegung entgegenstehen, bereinigt werden. Es ist ein Weg, Blockaden zu beseitigen und die innere Kraft zu entfalten. Zwischen der Weichheit eines Tigers und dem Sanftmut eines Schafes besteht ein erheblicher Unterschied. Der Schüler hat die Wahl sich für einen Weg zu entscheiden.
Mit der Optimierung der Körperstruktur in der Bewegung, entwickelt sich mit der Verfeinerung der Arbeit von Muskeln, Sehnen, Knochen und Gelenken und einem konzentrierten Geist ein zunehmend stärkerer Qi-Fluss und Fähigkeiten, die in der Praxis und Alltag vorhanden und messbar sind. Ein Training ist nur dann etwas wert, wenn man die Techniken und gewonnenen Fähigkeiten auch benutzen kann. Das ist das Schöne an dieser Kunst: jedes Prinzip lässt sich in der Praxis demonstrieren. Über vermeintliches Qi kann man viel reden. Genauso gut kann man auch erzählen, dass man sich nur mit der Kraft des Geistes auf einer rosafarbenen Energiewolke durch den Raum bewegt. Aber wenn die körperlichen Fähigkeiten hinsichtlich Kraft, Schnelligkeit, Anpassungsfähigkeit und Beweglichkeit mehr werden, wenn man nicht nur große Kräfte umleiten und lenken, sondern sich die Fähigkeit zur Kraftentfaltung ständig erhöht, dann ist das etwas für jeden erkennbaren und messbares. Bei einem praxisorientierten Training kommen die energetischen Fähigkeiten fast von allein.
Wir brauchen unseren Körper auf dieser Erde. Jede Bewegung kommt durch ihn zustande und wird durch das Qi angetrieben und durch den Geist gelenkt. Daher überprüfen wir jede unserer Bewegungen auf ihre Wirksamkeit und versuchen, sie noch effektiver zu gestalten, noch mehr in sich hineinzuhören den inneren Kraftfluss immer klarer und stärker werden zu lassen. Muskeln, Sehnen und Gelenke, die ihn zu verzerren oder bremsen, stetig zu korrigieren und in der Praxis, z.B. am Partner oder an der Pratze zu überprüfen. Jede Gewohnheit, jede Blockade hat auf der körperlichen, psychischen und seelischen Ebene ihre Entsprechung- denn alles gehört zusammen. Was wir auf der körperlichen Ebene verändern, ändert sich auch in anderen Bereichen schrittweise.
Der Weg der inneren Kampfkünste ist immer auch ein Kampf mit sich selbst. Es geht um stetiges Wachstum, das unser Leben auch reicher und vitaler werden lässt und uns körperliche und geistige Gesundheit und Kraft bis ins hohe Alter schenkt.
Teil 2 – Trainingsmethoden und ihre Bedeutung (bleiben Sie dran!)
Mario Pestel - German Neijiaquan Association - Verband für Innere Chinesische Kampfkunst in Deutschland e.V." zur Webseite von Mario Pestel