Zunächst scheinen diese drei unterschiedlichen Perspektiven der Betrachtung bundesdeutschen Bildungsalltags nur rudimentär miteinander verbunden zu sein. Einmal geht es um die Einbeziehung von Kindern mit besonderem Förderbedarf in den Regelunterricht, das andere Mal um das Selbstverständnis von Lehrkräften und ihre Gestaltungsfreiheit im Beruf und schließlich um die Beantwortung der Frage, welches Maß an Alltagstauglichkeit deutsche Schulkinder heute mitbringen.
Macht man sich die allerdings die Mühe, sich etwas intensiver damit zu befassen, stellt man schnell fest, worin hier die eigentliche Gemeinsamkeit liegt: Sowohl die Forderung nach Inklusion, als auch die nach einer neuen Lehrerrolle und nach einer größeren Praxistauglichkeit der schulischen Erziehung werfen qualitative Fragen auf und offenbaren damit die weitestgehend quantitative Ausrichtung unseres Bildungssystems.
Was im Fokus des Interesses unserer Bildungseinrichtungen steht, ist deutlich die Vermittlung einer bestimmten Menge an Fertigkeiten und an faktischem Wissen. Ein Umstand, der nicht zuletzt durch die bisherigen PISA-Studien immer wieder unterstrichen wurde. Die Inhalte, um die es dabei geht, sollen einander idealerweise innerhalb unterschiedlicher Länder, Nationen und Schulsysteme im Wesentlichen gleichen. Der Maßstab, der also angelegt wird, betrifft die Menge des Wissens und ist damit überwiegend quantitativ.
Eine Idee wie die der Inklusion jedoch zielt in eine ganz andere Richtung. Wer Kinder, die zusätzliche, von der bisherigen Norm abweichende Anforderungen an das Bildungssystem stellen, in Regelschulen unterrichten (lassen) will, der muss automatisch die bedeutendste qualitative Frage überhaupt stellen: Als was werden Kinder in der Schule eigentlich betrachtet? Sind sie als potenzielle spätere Arbeitnehmer einzuschätzen oder sind sie Individuen mit Stärken und Schwächen, mit besonderen Fähigkeiten, die in dieser Individualität gefördert werden sollen, um einen unverwechselbaren Beitrag zur Vielfalt in der Gesellschaft zu leisten?
Welches Menschenbild steht hinter unserem Bildungssystem? Wollen wir Menschen erziehen, die funktional sind, weil sie sich bequem in unser System einfügen und es bedenkenlos tragen? Sind also Konsumenten das Ziel der Bildungsanstrengungen? Oder streben wir nach zukünftigen Generationen von kreativen, verantwortungsvoll und selbstbewusst handelnden Menschen, die ihren Platz in der Gesellschaft finden, um ihn in Frage zu stellen und ihn als Herausfoderung der eigenen wie ihres jeweiligen Beitrags zur gesellschaftlichen Entwicklung zu begreifen?
Die gesamte Idee der Inklusion steht und fällt mit der Antwort, die auf diese zentrale Frage gegeben wird. Nicht zuletzt darin liegt ihr Wert für ALLE Betroffenen, für das gesamte Bildungssystem. Logischerweise richtet sich dann das Interesse auf jene, die mit den Kindern arbeiten und deren Auftrag es ist, das zuvor definierte Ziel zu erreichen: die Lehrkräfte. Wie ihre Aufgaben dann im Detail zu verstehen sein werden, ob sie tatsächlich mehr zu persönlichen Coaches werden oder zu unterstützenden Beratern und Trainern, ergibt sich zwangsläufig aus dem gewünschten Resultat ihrer Bemühungen.
Womit dann schließlich auch die inhaltliche und die methodische Seite diskutiert werden müssen. Wer Kinder zu kompetenten, selbstständig denkenden, vernünftig und verantwortungsvoll handelnden Persönlichkeiten erziehen will, muss mehr tun, als Fachwissen weiterzugeben. Er muss sie lehren zu denken, die Bedeutung und Begrentztheit von Wissen zu verstehen und vor allem auch mindestens der eigenen Sprache mächtig genug zu sein, um sie zur Grundlage seines Denkens machen und umfassend nutzen zu können.
Anders gesagt: Eine solche Erziehung muss Themen wie “Wissensökonomie”, vor allem jedoch “Kommunikation” in all ihrer Vielschichtigkeit einschließen, wenn ihr Ziel kreative Persönlichkeiten sind.
Das heutige Bildungssystem kann nur sehr wenig davon realisieren. Es ist nicht eingerichtet auf den Anspruch der Inklusion, es ist nicht flexibel genug für eine optimale, kreative Betreuung, bietet kaum Raum für völlig neue Inhalte. Das ist natürlich u.a. auch eine Folge der finanziellen Ausstattung von Bildungseinrichtungen. Doch nutzt Geld allein auch nichts, wenn nicht entsprechende geistige Grundlagen und auf ihnen aufbauende Konzepte vorliegen.
Der Diskurs kostet zunächst nur wenig. Je eher er begonnen und je intensiver er geführt wird, desto schneller können Ergebnisse erzielt werden über die zukünftigen Ziele der Bildung in unserem Land. Dann erst, wenn das geschehen ist, kann darüber nachgedacht werden, wie diese Ziele zu erreichen sind. Vielleicht erweist es sich, dass der Weg dorthin einfacher und weniger aufwendig ist, als zuvor angenommen wurde.
Herbert Jost-Hof