Sie teilen solidarisch ihre Niederlagen, resignieren, zerbrechen, lavieren und hoffen, lieben und verzweifeln: der Geschichtslehrer und Dramaturg Viktor Bliss, der Stahlarbeiter-Betriebsrat Manfred Anklam, der Journalist Armin Kolenda, die Kostümbildnerin und Schauspielerin Lena Bliss, die Ökobäuerin Salli Biechele, die griechische Studentin Katina. Schöfer und seine Leser verfolgen die Freuden und Leiden dieser Figuren teilweise über gut 20 Jahre hinweg, wobei sich eine plastische Geschichte der westdeutschen Linken von 1968 bis 1989 aufblättert. Wir sind mitten im Getümmel dabei, wenn Münchener Studenten 1968 die Auslieferung der Bild-Zeitung blockieren (vergeblich), Münchener Schauspieler 1968 eine Vorstellung unterbrechen, um auf der Bühne gegen die Notstandsgesetze zu protestieren (vergeblich), badische Umweltschützer 1976 den Bauplatz des Atomkraftwerks Wyhl besetzen (erfolgreich), hessische Umweltschützer 1981 den Bauplatz der Startbahn West (vergeblich), Dutzende bekannter Künstler 1982 in Bochum für den Frieden singen (erst vergeblich, dann doch noch erfolgreich), Duisburger Stahlarbeiter 1987 in Essen die Villa Hügel besetzen (vergeblich), westdeutsche Linke 1989 staunend und schaudernd dem Fall einer Mauer zusehen (unbeteiligt).
Als ob Schöfers 2000 Seiten nicht schon genug Text wären, gibt es inzwischen zwei weitere Bücher, in denen sich kluge Schöfer-Leserinnen und -Leser Gedanken über die Deutung des Epos machen oder einfach nur berichten, was die Lektüre mit ihnen gemacht hat. Der von Thomas Wagner herausgegebene Band »Im Rücken die steinerne Last: Unternehmen Sisyfos« (2012) war auf dem Kölner Symposion leibhaftig präsent, denn drei der Autoren (Jürgen Link, David Salomon und Marianne Walz) trugen dort ihre Gedanken vor, ein vierter (Dietmar Dath) war leider krankheitshalber verhindert, aber der Verleger Volker Dittrich gab Daths Thesen und seinen persönlichen Zeilen an Schöfer eine empathische Stimme. Dath war es auch, der Schöfers Werk und seinen Beitrag in das Spannungsfeld der Werte Schönheit und Gerechtigkeit stellte und so dem Symposion seinen Titel gab.
Der hessische Politologe David Salomon eröffnete die Debatte und den Reigen der Lobeshymnen auf Schöfers großes Werk: Er sieht die vier Bücher als gefühlte, lebendig erinnerte Geschichte engagierter Subjekte, was sie wohltuend von den meisten soziologischen und politikwissenschaftlichen Werken abhebe, die die Studierenden dieser Fächer sonst zu lesen bekommen. Salomon kritisierte die gängige historische Sichtweise, nach der die westdeutsche Nachkriegsgeschichte als Abfolge von Demokratisierungen, von Erfolgen der Demokraten erscheint. Schöfers Einblicke zeigten jedoch, wie krisenhaft diese Entwicklung war; welche Rückschläge es immer wieder gab. Wodurch auch der konservative Rückschlag, den wir gegenwärtig erlebten, deutlich als solcher hervortrete. In seinem nicht gerade leicht lesbaren Buchbeitrag geht Salomon einer handwerklichen Frage auf den Grund: wie der Autor es geschafft hat, die zeitbedingten Irrtümer und Fehleinschätzungen seiner Helden aufzudecken, ohne den Leser mit Ex-post-Wertungen eines allwissenden Erzählers zu ermüden, und ohne eine Figur einzuführen, die magierhaft die Zukunft schauen kann. Schöfer breitet die inneren und äußeren Dialoge der Figuren aus und setzt auf mitdenkende, analytisch veranlagte Leser, die selber die Widersprüche zwischen Selbst- und Zeitbildern erkennen. Das macht die Lektüre zu einer Kette spannender Aha-Erlebnisse.
In der Diskussion zitierte Salomon Günter Wallraff, der Erasmus Schöfer einmal einen »Hölderlin, der unter die Arbeiter gefallen ist,« nannte. Damit meinte dieser vor allem Schöfers Rolle als Mitgründer und Sprecher des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt in den Jahren 1969-1973. Schöfer ging darauf ein, was ihn damals motivierte: Walter Jens habe in den 1960er Jahren einmal spitz festgestellt, in der deutschen Literatur herrsche ein ständiger Sonntag. Der Werkkreis setzte über 60 Bücher über den Alltag dagegen, und die Hälfte der Autoren waren Arbeiter. Seine Hoffnung habe er aus Arbeitern geschöpft, die schreibend, malend oder singend das Schöne suchten.
Wie kompatibel waren damals die Sprachen linker Intellektueller und kritischer Arbeiter, wollte jemand wissen, und Schöfer gab zu, dass die Verständigung manchmal schwierig gewesen sei. Wolfgang Reinicke-Abel las zum Thema eine Passage aus der »Winterdämmerung« vor, die 1981 spielt: eine Diskussion mehrerer linker Journalistinnen und Schriftsteller in einem Düsseldorfer Buchladen über das Projekt einer »Sozialistischen Internationale der Schriftsteller«. Die Schilderung ist derart lebendig, detailliert und zeittypisch, dass der Autor dieser Zeilen beinahe schwören möchte, er sei damals dabei gewesen. Einer der Schriftsteller dieser rötlich gescheckten Runde kritisiert (in der Buch-Szene) den Biedermeier-Stil der Werkkreis-Literatur, die im 19. Jahrhundert verharre, von Dadaismus, Avantgarde und den Folgen unbeleckt.
Es waren zwei Königskinder
Der Beitrag des Schriftstellers und Journalisten Dietmar Dath, der sich auch im genannten Buch befindet, stellt die Frage, ob und wie Schönheit und Gerechtigkeit zusammen gehen, und was der Romanzyklus dazu zu sagen hat. In einer Passage seines Buchbeitrags, die in Köln nicht vorgetragen wurde, geht er auf Schöfers gewöhnungsbedürftige Rechtschreibung (»Brockdorf«, »Dittfurt«) und Zeichensetzung ein, die stets versucht, Aussprache und Sprechrhythmus des Autors und seiner Helden nachzuahmen. Dath verteidigt das, wenn auch mit Bauchschmerzen, und zitiert dabei den bemerkenswerten Gedanken eines Freundes: dass es unhöflich sei, den Lesern eines Textes mehr Arbeit und mehr Schwierigkeiten zu machen als unbedingt nötig. Ganz meine Meinung als Texter und Dienstleister! Aber gut – Schönheit und Gerechtigkeit waren das Thema. Dath endet – für seine Leser wenig befriedigend – mit der lapidaren Feststellung, dass weder er noch Schöfer definitiv sagen könnten, ob und wie die Königskinder wohl jemals zusammenkommen werden. Und doch gebe es viele Menschen, die das Gefühl hätten, nur dann wirklich zu leben, wenn sie versuchen, die beiden Motive in ihrem einen Leben zusammenzuführen.
Ein Teilnehmer ging in der Diskussion genauer, am Beispiel der griechischen Romanheldin Sotiría aus der »Sonnenflucht«, auf den für Kommunisten unangenehmen Widerspruch ein, dass Schönheit meist ungerecht verteilt sei und Gerechtigkeit ständig erkämpft werden müsse, Kampf aber niemals schön sei. Eine der wenigen Äußerungen in Köln, die eine Kontroverse auslösten. Kein Wunder, hat doch Peter Weiß in seiner »Ästhetik des Widerstands« etwas anderes gesagt: Widerstand ist schön.
Sind griechische Inseln anormal?
Der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Jürgen Link entwickelte gemeinsam mit Rolf Parr eine Normalismustheorie, die die Kriterien zu ergründen versucht, nach denen gesellschaftliche Gruppen bestimmte Haltungen als normal und andere als extremistisch oder verrückt definieren und wie sich das ändert. Im Essayband beleuchten sie Schöfers Skizzen »der 68er« unter diesem Aspekt und greifen, ähnlich wie Schöfer in der »Sonnenflucht«, zu Feuer-Metaphern: Manche Ereignisse und Erlebnisse der 68er liefen wie eine Stichflamme ab, andere wie ein Schwelbrand. Dem Schwelbrand, dem von Dutschke ausgerufenen »langen Marsch durch die Institutionen« in den 1970er Jahren, widmete Schöfer seinen zweiten Band »Zwielicht«. Link und Parr deuten diese Phase als flexible Normalisierung: Viele Gedanken der 68er-Revolte wurden zu Teilen einer flexibel angepassten Normalität, zu Teilen des Mainstream.
In Köln widmete sich Link in einem Beitrag, den seine Frau Ursula Link-Heer vortrug, einem ganz anderen Aspekt: dem Fluchtpunkt und Sehnsuchtsort Griechenland. Wie Schöfer (und sein Held Bliss) in Griechenland ehrwürdige kommunistische Partisanen fanden, so fand sein Vorgänger Hölderlin dort Elemente einer direkten Demokratie im Sinne Rousseaus. Schöfers empathische Leser genießen in »Sonnenflucht« die Sonne Homers, aber erleiden auch das gnadenlose Schwitzen unter dem Nefos, der deprimierenden Dunstglocke Athens. Vor dieser Kulisse prallt Bliss‘ intellektuelle Melancholie mit dem Arbeiter-Pragmatismus seines Freundes Anklam zusammen, der versucht, ihn zurück ins Heimatland der Autobahnen zu lotsen. Link fiel auf, dass Bliss in diesem Konflikt seine eigene Haltung als anormal und die seines Freundes als normal wahrnimmt. Im Essayband ist es der griechische Journalist Kirki Kefalea, der einen ganz ähnlichen Ansatz verfolgt und das Griechenland-Bild in Schöfers »Sonnenflucht« mit den bekannten Griechenland-Bildern in der deutschen Literaturgeschichte vergleicht.
Marianne Walz, eine in der DDR aufgewachsene Literaturliebhaberin und jetzt im südlichen Hessen zu Hause, trat in Köln als exemplarische Leserin auf und erzählte von ihrer ersten Begegnung mit Schöfers Welt. Sie fand 2009 bei einer Lesung in Mörfelden-Walldorf statt. Schöfer las eine Szene aus »Zwielicht«, und das lebendige Bild des Widerstands badischer Umweltschützer gegen das Atomkraftwerk Wyhl machte sie neugierig auf die ihr bislang fremde Geschichte der westdeutschen Linken. Die wurde offenbar befriedigt, denn sie gründete 2011 einen Erasmus-Schöfer-Freundeskreis, der u. a. eine Art kollektive Geschenkaktion organisierte: Einige Stifter finanzierten den Kauf von Schöfer-Büchern, die die Empfänger an Freunde verschenken wollten. Als ostdeutsche Zeitgenossin hatte sich Marianne Walz gefragt, warum Schöfers 1986 erschienener Roman »Tod in Athen«, Band 3 der späteren Tetralogie, nicht in der DDR erschienen war – immerhin war der Autor DKP-Mitglied. Schöfer hatte ihn, wie sie berichtete, tatsächlich dem Aufbau-Verlag und dem Verlag Volk und Welt angeboten. Doch die hatten abgelehnt – u. a. mit der Begründung, dass die darin enthaltene vorsichtige Kritik an der SED in der DDR »niemanden interessiere«. In ihrem Buchbeitrag geht sie dem Ablauf dieser Geschichte nach und zitiert mehrere Briefe der DDR-Verlage an Schöfer aus den Jahren 1984-1990.
Ich greife willkürlich drei weitere bemerkenswerte Beiträge des Essaybandes heraus: Der Literaturwissenschaftler Rüdiger Scholz untersucht, wie Schöfers »Winterdämmerung« die sozialen Bewegungen der 1980er Jahre widerspiegelt (wobei er allerdings die quantitativ größte dieser Bewegungen, die Friedensbewegung, beiseitelässt), charakterisiert in diesem gesellschaftlichen Umfeld die Entwicklungswege der vier männlichen Hauptfiguren und wirft einen Seitenblick auf Peter Weiß‘ Epos »Die Ästhetik des Widerstands«, das als Vorbild wie auch, in Form seiner Rezeption, als Gegenstand eine wichtige Rolle spielt. Die Journalistin Sabine Kebir widmet sich der Frage, welche Rolle die weiblichen Nebenheldinnen in Schöfers »Männerbüchern« spielen, und wie der Autor das Verhältnis der Geschlechter gestaltet: »Zum Glück räumt Schöfer mit der nicht nur von einem gewissen Feminismus, sondern auch von vielen Sozialisten gehegten Vorstellung auf, dass im Ergebnis fortschreitender Emanzipation beider Geschlechter auch der Schmerz aus den Beziehungen weichen würde.« Nebenher kritisiert sie, wie Peter Weiß die Rolle von Brechts Mitarbeiterinnen gedeutet hat. Erasmus Schöfer und der aus Bulgarien stammende Schriftsteller Ilija Trojanow beleuchten in einem spannenden, immer herzlicher werdenden, 2011 geführten digitalen Briefwechsel biographische und werkhistorische Hintergründe, wobei Schöfer auch seine besondere Grammatik und seine Wortschöpfungen begründet: Diese heideggern ein wenig, und jene soll die Gleichzeitigkeit von Ereignissen und widersprüchlichen Motiven der Menschen präsent werden lassen.
Ferner lesen wir dort ein Grußwort von Volker Braun, einen Vergleich der Rheinhausen-Darstellungen von Schöfer und Jürgen Link (Autor: Florian Neuner), eine Analyse der von Schöfer erzählten Theatergeschichte (Franziska Schössler), eine Würdigung von Schöfers Rolle im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt (Rüdiger Scholz, der dort zu dem Ergebnis kommt, dass er in der Sisyfos-Tetralogie wesentliche Ziele des Werkkreises umsetzte), eine Besprechung von Schöfers Werk »Der gläserne Dichter« (Heike Friauf).
Sisyphositische Zuversicht
Die vielen dankbaren und bewundernden Worte von Lesern an den Autor schienen diesem ein wenig peinlich zu sein. Schöfer, schlank und drahtig, sonnengebräunt und mit vollem weißen Haar, stand, wenn er auf Fragen antworten wollte, gewandt aus der ersten Reihe auf, wandte sich, leicht breitbeinig stehend, zum Publikum um. Mit seinen 80 Jahren wirkte er immer noch ein wenig jünglingshaft frisch; als sei gerade Mai 1968, und er wolle der Versammlung mitteilen, was jetzt gegen Springer zu tun sei. Er wohnt seit Jahrfünften mit seiner Gefährtin Paula Keller – ein schönes Paar! – in der Kölner Südstadt, Altbau 6. Stock, mit Dachterrasse, und steigt täglich, wenn auch stöhnend, die Treppen hinauf. Woher er diese sisyphositische Zuversicht nehme nach all den Niederlagen, die die deutsche Linke erlitten habe, fragte jemand. Er zählte Momente auf, die keine Niederlagen waren: Die Spaltungsprojekte Wyhl, Wackersdorf und Kalkar wurden verhindert (wahrscheinlich auch Gorleben), der »begrenzte Atomkrieg« fand nicht statt.
Vielleicht ist es auch Sotirías Sonnenaufgang über dem Ägäischen Meer, der den Anfang der »Sonnenflucht« in ein zauberhaftes Licht taucht: Wer so etwas in sich aufgenommen hat, dazu noch eine Menge Zärtlichkeit und Erotik – wovon diverse anschauliche, anfühlbare Romanszenen zeugen –, ist wahrscheinlich schwer verbitterbar. Die meisten allerdings, denen es so ging, bleiben nicht links. Er ist es geblieben – vielleicht eine Art Treue, um nicht das hässlich-moderne Tätwort mit Au zu benutzen. Aus Liebe zu den deutschen und griechischen Widerstandskämpfern, die er kennenlernen durfte, und deren Lebenswerk, deren mutigen Kampf gegen Mörder und Unterdrücker er nicht nachträglich aufgeben, nicht für vergeblich erklären will.
Verbitterbar allerdings war Schöfers Held Viktor Bliss; denn der ist etwas zu empfindsam, zu egozentrisch, und hat sich damit die Erotik meist verdorben. Er repräsentiert wohl den Abgrund des Solipsismus, den viele Schriftsteller und Sisyphusse mit sich schleppen. Doch auch diesen Unglücksraben lässt sein Schöpfer sympathischerweise nicht untergehen. Er rettet sich u. a. durch seine Tierliebe und ein tiefgründiges Therapiegespräch mit dem Psychologen und Pazifisten Horst Eberhard Richter (in der »Winterdämmerung«).
»War Sisyphos denn Kommunist?« fragte der Journalist Werner Rügemer in die Runde. Schöfer antwortete: In den »Kindern des Sisyfos« wohl ja, im ursprünglichen Mythos wohl nicht. Er erzählte kurz, wie beeindruckt er von den Kommunisten war, die er in den 1950er und 1960er Jahren kennengelernt hatte – als jene Menschen, die der Flut der Kriegs- und Mordhetze widerstanden hatten. Sisyfos verkörpere ihre endlos erscheinende Anstrengung in dem utopischen Versuch, den Berg abzutragen, im Namen der Menschheit.
Der Sisyphos des Mythos ist ein von den Göttern Verfluchter. Sind Kommunisten vielleicht auch Verfluchte? Jürgen Link sagte in Köln einen Satz, der eine Antwort sein könnte und eine Tragik andeutet: Es scheint so, als sei ein tragfähiger Kommunismus nur im Resistenzkampf möglich. Die persönliche Größe von Kommunisten scheint sich vor allem im Widerstand gegen mächtige Gegner (Feinde?) zu zeigen – siehe Peter Weiß. Und schon poltert der Fels wieder ins Tal: Denn auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser (Bertolt Brecht).
Jens Jürgen Korff
Thomas Wagner (HG.),Romantetralogie von Erasmus Schöfer: Im Rücken die steinerne Last. Unternehmen Sisyfos. Dittrich Verlag GmbH; März 2012, Englische Broschur, 361 S., 19,80 € ISBN: 978-3-937717-74-6