NGO: Im Bundesverkehrswegeplan stehen also alle Bundesstraßen und Autobahn-Teilstücke drin, die in den nächsten fünfzehn Jahren gebaut werden sollen?
REH: Genau – aber auch Bahnstrecken und Wasserstraßen. Meist steht ein Vielfaches von dem drin, das umgesetzt werden kann. Nur ein Viertel bis die Hälfte der Projekte kommt überhaupt in die Umsetzung in diesen 15 Jahren. Die Länder melden viele Projekte an, damit sie so viel Geld wie möglich aus dem Bundeshaushalt kriegen und an möglichst vielen Stellen anfangen können zu bauen. Das führt dann manchmal zu „Soda“-Brücken, die einfach nur so in der Landschaft dastehen und darauf warten, dass irgendwann von beiden Seiten die Straße dazugebaut wird.
NGO: Wie entsteht dieser Plan, und wer beschließt darüber?
REH: Die Straßenbauverwaltungen und Straßenlobbys melden Projekte an. Der Bundesverkehrs-minister und seine Gutachter überprüfen die dann auf ihre Wirtschaftlichkeit mit Hilfe einer Nutzen-Kosten-Analyse, außerdem auf ihre Umweltverträglichkeit. Ortsumfahrungen werden daraufhin überprüft, ob sie wirklich den Ort von Verkehrslärm entlasten.
NGO: Was davon verantworten die Länder und was der Bund?
REH: Formell hat der Bund das alleinige Entscheidungsrecht. Letzlich entscheidet der Bundestag, der den Bundesverkehrswegeplan (BVWP) in Gesetzesform gießt, welche Vorhaben gebaut, welche Schwerpunkte und welche Ziele gesetzt werden. Faktisch sind aber die Länder stark, da sie Planungen durchführen und dabei auch eigene Prioritäten setzen, damit auch Geschenke verteilen konnten
NGO: Was ist Ihre zentrale Kritik an den Meldungen der Länder?
REH: Viel zu viele und überdimensionierte Projekte, die zehnmal mehr kosten als Geld da ist, statt den Erhalt des Netzes zu sichern und die Brücken zu sanieren. Alternativen zum Straßenneubau und ausbau, etwa wie man Mautflüchtlinge zurück auf die Autobahn kriegt, oder Ausbau statt Neubau werden nicht wirklich geprüft. Die Planung ist intransparent, und außer in Baden-Württemberg werden nur die Straßenbaulobbys an der Anmeldeprozedur beteiligt.
NGO: Jedes Straßenbauprojekt hat vermutlich Vor- und Nachteile. Zu letzteren gehört, dass es viel Geld kostet. Was sind im Schnitt die wichtigsten Vorteile, und was sind die wichtigsten Nachteile einer neuen Straße?
REH: Es muss darum gehen, die wichtigsten Verkehrsprobleme in der Republik zu lösen und klare Prioritäten zu setzen. Die Straßen in Deutschland sind sehr gut ausgebaut. Künftig muss eine Milliarde € im Jahr mehr ausgegeben werden, um das vorhandene Fernstraßennetz zu erhalten und die maroden Brücken zu sanieren. Die knappen Investitionsmittel müssen dort eingesetzt werden, wo sie den größten Nutzen bringen: In den Korridoren des Seehafen-Hinterlandverkehrs muss man auf die Schiene setzen und bestehende Schifffahrtsstraßen verbessern, um Verkehr zu verlagern. Wir brauchen aber auch eine nachhaltige Logistik, die Verkehr vermeidet, statt ständig dem Wachstum des Güterverkehrs hinterher zu bauen. Was dort wächst, sind vor allem die zurückgelegten Entfernungen. Das muss aber nicht sein. Die Produktionsprozesse müssen nicht immer weiter auseinander gerissen werden.
NGO: Die berühmten Krabben, die zum Pulen von der Nordsee ans Mittelmeer und dann wieder zurück nach Hamburg gebracht werden.
REH: Richtig. Das ist teilweise pervers, was da geschieht. Und die Kosten sollen wir alle tragen. Dagegen wehren wir uns.
NGO: Die Länder haben also die Nachteile der Projekte gar nicht abgewogen?
REH: Nein, haben sie nicht. Sie schieben die Verantwortung feige auf den Bund, der die Projekte auswählen soll. Wenn ich aber keine guten Projekte entwickle, die tatsächlich den Lärm in Ortschaften vermindern, dann kommen am Ende keine guten, sondern nur die am wenigsten schlechten Projekte raus.
Wird denn der Bund die Nachteile abwägen?
REH: Nein, das kann er gar nicht. Dazu fehlt es dem Bundesministerium trotz sehr aufwändiger Verfahren an Detailwissen über die Projekte. Die Umweltverbände setzen sich dafür ein, dass Straßenvorhaben keine Landschaften zerschneiden, keinen zusätzlichen Verkehr erzeugen, guten Lärmschutz und Fahrradstreifen haben, Ortsdurchfahrten beruhigen usw. Einige Hoffnung kann man auf eine bessere Umweltprüfung setzen. Das A und O ist aber eine gute Prüfung von Alternativen. Da muss sich der BUND auf allen Ebenen einmischen.
NGO: Passen neue Straßen überhaupt noch in die Landschaft? Einmal buchstäblich, zum anderen auch gesellschaftlich gehen; schließlich nimmt die Bevölkerung tendenziell ab, und die Industrie verschwindet auch mehr und mehr.
REH: Nein, die großen überdimenisionierten Autobahnneubauten in sich entleerende Gebiete wie die A 14 Magdeburg–Wittenberge–Schwerin oder die A 20 von Bad Segeberg zur niederländischen Grenze passen eindeutig nicht mehr in die Landschaft. Auch der Bundesverkehrsminister fordert ja neuerdings: Keine weitere Zerschneidung unzerschnittener Räume.
NGO: Wie begründen denn die Verkehrsplaner solche Straßenbauwünsche?
REH: Für die Straßenplaner zählen letztlich nur die Zeiteinsparungen, die mit Hilfe einer neuen oder ausgebauten Straße hoffentlich erzielt werden. Die werden dann monetarisiert, das heißt mit einem „Stundenlohn“ des Fahrers multipliziert und so den Kosten der Investition gegenüber gestellt. So kann man auch Zeitgewinne von wenigen Sekunden zu Millionenbeträgen hochrechnen und damit eine teure Straße rechtfertigen, die auch noch die Landschaft zerstört. Leider verfährt auch der nächste Bundesverkehrswegeplan so.
NGO: Wer steckt eigentlich hinter diesen Wünschen? Wer hat das größte Interesse daran?
REH: Die Industrie und die Wirtschaft, und sogar Verbände wie der ADAC oder Pro Mobilität sehen dieses Investitionschaos im Straßenbau inzwischen fast genauso kritisch wie der BUND. Es führt zu einer Fehlallokation von Mitteln…
NGO: Also zu einer falschen Platzierung der Mittel…
REH: … wenn bundesweit 850 Ortsumgehungen im vordringlichen Bedarf stehen, von denen die meisten die Ortsdurchfahrten kaum entlasten. Dahinter steht die Lobbyarbeit und Konkurrenz von Bürgermeistern, Landräten und Wahlkreisabgeordneten, und die notorische Unfähigkeit von Bundesregierung und Bundestag, sinnvolle Verkehrsnetze zu planen und Prioritäten zu setzen.
NGO: Und wer hat den größten Schaden?
REH: Umwelt und Natur sowie die Steuerzahler.
NGO: Was meinen Sie mit Ortsumgehungen, die die Ortsdurchfahrten kaum entlasten?
REH: Ortsdurchfahrten können nur dann von Verkehr, Lärm und Schadstoffen entlastet werden, wenn der Durchgangsverkehr oder der Lkw-Anteil hoch ist. Nur dann kann eine Ortsumfahrung helfen – wenn man gleichzeitig die Ortsdurchfahrt umbaut, damit sich die Aufenthaltsqualität tatsächlich verbessert. Vielerorts entsteht aber der meiste Verkehr durch die Anwohner selbst. Dann hilft eine Ortsumgehung nichts.
NGO: Ein populärer Grund für neue Straßen sind die vielen Staus. Was sagen Sie einem staugeplagten Pendler, wenn Sie die Straße ablehnen, die er sich wünscht?
REH: Die Staus entstehen im Umfeld von Städten und Agglomerationen. In Deutschland hat man das Autobahnnetz anders als in Frankreich bewusst nah an die Städte gebaut, um städtischen Verkehr anzuziehen. Das rächt sich jetzt in Form von Staus. Und man hat viel Industrie- und Gewerbeflächen an den Stadträndern angesiedelt, ohne sie mit Straßenbahnen oder S-Bahnen anzuschließen. Ich sage ihm also: Rufen Sie Ihren Bürgermeister an und bitten Sie ihn, das Gewerbegebiet XY an Bus und Bahn anzubinden – und keine weiteren Gewerbegebiete mehr in der freien Landschaft zu genehmigen. Und nutzen Sie bitte selber öfter Bus und Bahn.
NGO: Und was sagen die Verkehrsplaner, Regionalräte und Industrie- und Handelskammern den Menschen, denen sie eine neue Straße durch den Garten oder durchs Lieblingswäldchen legen wollen, obwohl sie wahrscheinlich überflüssig ist?
REH: Die sagen wie Papageien immer nur: „Dazu gibt es keine Alternative.“ Wir brauchen also eine gute Bürgerbeteiligung, damit die Bürger mit den Planern und den Politikern vor Ort diskutieren und darauf drängen können, sinnvolle Alternativen zu prüfen. Dieser Diskurs muss schon bei der Anmeldung der Projekte beginnen. Wieso werden keine Bürgerversammlungen durchgeführt, bevor ein Regionalrat seine große Straßenbau-Wunschliste abschickt? Warum haben die Behörden und die Politiker davor so viel Angst?
Welche Gelegenheiten bietet der bevorstehende Bundestagswahlkampf den Kritikern, ihre Einwände oder kritischen Fragen einzubringen?
REH: Wir machen auf Bundesebene Lobbyarbeit, damit klare Formulierungen zur Bürgerbeteiligung und zur Alternativenprüfung in den nächsten Koalitionsvertrag Eingang finden, egal welche Farben der tragen wird. Und wir versuchen, die Ausgestaltung des Bundesverkehrswegeplans zu beeinflussen.Das ist eine der ersten Aufgaben der nächsten Regierung. Im Bundestagswahlkampf stellen wir – in den Kreis- und Ortsgruppen des BUND – Fragen an die Kandidatinnen und Kandidaten. Es ist wichtig, dass die Wahlkreiskandidaten auch öffentlich unter Druck geraten, wenn sie eine Betonpolitik machen wollen, die nicht bezahlbar ist, der Umwelt schadet und kein einziges Verkehrsproblem löst.
Die Fragen stellte Jens Jürgen Korff.