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Die Häufigkeit von ADHS nimmt zu

ADHS – nur eine wissenschaftliche Umschreibung für „Zappelphilipp“?

Am

Ilse Gretenkord über ADHSUnruhige, unkonzentrierte Kinder hat es immer schon gegeben. Früher nannte man sie „Zappelphilipp“ und wurden im „Struwwelpeter“ den Kindern als schlechtes Beispiel präsentiert. Diese „ungezogenen“ Kinder waren ihren Eltern peinlich; wer weiß, mit welchen Erziehungsmethoden versucht wurde, sie zu bändigen. Heute ist dieses „Zappelphilipp Syndrom“ unter dem Begriff Aufmerksamheits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) bekannt und in aller Munde. Denn die Häufigkeit scheint zuzunehmen. Über Ursachen und Behandlung wird kontrovers diskutiert. Doch die wenigsten wissen leider, worüber sie sprechen. Kinder, Jugendliche, Erwachsene mit ADHS leiden stark unter dieser Störung, sind aber meist nicht in der Lage, ihr Krankheitsbild hinreichend zu beschreiben.


Was ist ADHS?

„CHAOS im Kopf“, ist wohl die einfachste, aber auch zu kurz greifende Beschreibung dessen, was die Störung ausmacht. Dabei ist eine Unterscheidung vornehmen. Das Problem liegt in dem Aufmerksamkeitsdefizit (AD). Dem betroffenen Menschen fehlen wichtige Filter im Kopf. Alle Eindrücke ihrer Umgebung - seien sie optisch oder akustisch - prasseln auf sie ein, ohne dass sie in der Lage sind, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Ein Mensch mit ADS kann nebensächliche und für ihn unwichtige Informationen nicht ausschalten, um sich nur den wichtigen zuzuwenden. Deshalb kommt es zu diesem Defizit an Aufmerksamkeit in Bezug auf einzelne Tätigkeiten. ADS-Betroffene können sich nicht konzentrieren, ihr Augenmerk nicht auf eine einzige Sache lenken. Niemand, der von dieser Störung nicht betroffen ist, vermag nachzuvollziehen, wie anstrengend das ist.

Folgende zwei Beispiele zeigen wenigstens annähernd auf, wie „normale“ Situationen zur Überforderung werden können:

1. Beispiel

Ein Kind mit AD(H)S soll sich in der Klasse mit 30 Mitschülern auf das konzentrieren, was der Lehrer an die Tafel schreibt. Es müsste sich auf den Lehrer fokussieren und alle weiteren Eindrücke als unwichtig ausblenden können, wie etwa das Gerede und die Bewegungen der Mitschüler, Rutschen der Stühle, Schniefen oder Husten des Nachbarn, Lachen des Hintermanns, vorbeifliegender Vogel am Fenster, Bilder an den Wänden des Klassenraumes, Hefte und Stifte der Mitschüler, Herunterfallen eines Kreidestücks ...

Da jedoch alle diese optischen und akustischen Reize als gleich wichtig aufgenommen werden, wie ist dann das Tafelschreiben des Lehrers davon zu unterscheiden? Bei einer derartigen Reizüberflutung fängt bereits nach kurzer Zeit, der Kopf an zu dröhnen.

2. Beispiel

Ein Erwachsener mit ADS sitzt im Großraumbüro und muss Akten bearbeiten. Währenddessen unterhalten sich Kollegen, telefonieren, oder laufen umher, tippen auf PC-Tasten, ziehen Ordner aus dem Regal, bewegen Schreibtischstühle, füllen Kaffeetassen, verwenden Locher oder Faxe und Drucke erzeugen Geräusche und Telefone klingeln. Kann er über die Nebengeräusche nicht hinweghören, wird er seine geforderte Arbeit kaum oder nur unter höchster Anstrengung und langsamer bewältigen können, weil er ständig abgelenkt ist und sich immer wieder zwingen muss, sich auf die Akten zu konzentrieren. Kommt er abends nach Hause, platzt ihm der Kopf. Er bräuchte dringend Ruhe und eine vollkommen reizarme Umgebung oder die Möglichkeit, sich körperlich auszupowern, um den Kopf freizumachen. Stattdessen warten womöglich Ehepartner und Kinder. Wieder Reize über Reize: Menschen, die auf ihn einreden, Aufgaben, die auf ihn warten, klapperndes Geschirr, laufender Fernseher, bellender Hund – nur um Einiges zu nennen. Können Sie sich vorstellen, dass dieser Mensch am Liebsten den Kopf gegen eine Wand rammen oder schreiend davon laufen würde?

Reaktionen mit und auf ADHS

Wie verhalten sich Menschen mit AD(H)S? Der Kopf der Betroffenen ist durch Reizüberflutung und die Unfähigkeit, die Reize zu filtern, überfordert. Es gibt zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren:

a) Hyperaktivität (H)

Ein Davonlaufen aus der Überforderungssituation oder Befreiung der Überlastung des Kopfes, durch körperliches Auspowern, zeichnen die Betroffenen aus, die aufgrund der Aufmerksamkeitsdefizitstörung hyperaktiv sind, also an ADHS leiden. Sie fallen als Kinder besonders dadurch auf, dass sie ständig in Bewegung sind, als sogenannte Zappelphilippe Unruhe verbreiten, in der Schule als störend anecken.

b) „Träumen“

Nach außen weniger auffallend sind Menschen mit ADS. Durch fehlende Hyperaktivität dauert es länger, bis Außenstehende merken, dass die Betroffenen gar nicht „bei der Sache sind“. Sie leiden gleichermaßen unter der Reizüberflutung und entfliehen, indem sie völlig abschalten. Erst wenn man sie anspricht, stellt sich heraus, dass sie von dem, was sich um sie herum abgespielt hat, nichts registriert haben.

Konsequenzen

Für Menschen mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung fangen die Probleme spätestens in der Schule an. Unabhängig davon, ob sie durch Hyperaktivität störend auffallen oder als Träumer verschrien sind, sind sie nicht in der Lage, sich auf die ganzen Unterrichtsstunden zu konzentrieren. Dadurch bekommen sie wichtige Informationen nicht mit und bringen trotz Intelligenz schlechtere Leistungen. Die Nachmittage werden zur Qual; anstatt dass die Kinder dann endlich Ruhe für den Kopf durch Auszeiten oder Sport bekommen, müssen sie Hausaufgaben machen, für Klassenarbeiten lernen, ggf. noch Nachhilfe über sich ergehen lassen. Da die Konzentration im Laufe des Tages immer mehr nachlässt, wenn nicht hinreichend lange Entlastungspausen möglich sind, zieht sich das Prozedere oft bis zum Abend hin. Das wird zur täglichen Zerreißprobe zwischen Schüler und Eltern.

Therapie

Vielfach werden bereits Kinder mit Amphetaminen medikamentös behandelt, um es ihnen zu ermöglichen, sich besser auf die Schule zu konzentrieren. Das ist umstritten. Welche Alternativen gibt es? Ansätze sind psychotherapeutische Behandlungen und Bemühungen der Schulen, sich mehr um diese Schüler zu bemühen. Denn inzwischen existieren statistisch in jeder Klasse einen Schüler mit AD(H)S. Lehrer und Eltern erfahren langsam mehr Aufklärung, um diesen Kindern Hilfestellungen zu geben. Insgesamt muss AD(H)S als echte Störung bekannter werden; denn Kinder mit AD(H)S dürfen nicht länger als unerzogene Störenfriede abgestempelt werden. Und aus Kindern mit AD(H)S werden Erwachsene, die weiterhin Schwierigkeiten haben, mit den ständigen Reizüberflutungen umzugehen, die sie nicht filtern können. Für sie ist eine passende Berufswahl von existenzieller Bedeutung.

Ursachen für das gehäufte Auftreten von AD(H)S

Wie so oft gibt es hierfür keine eindeutige Ursache. Die vermeintlich zu lasche Erziehung fällt flach, nachdem erkannt wurde, dass AD(H)S eine Wahrnehmungsstörung ist. Dass die Diagnose heutzutage häufiger gestellt wird, liegt daran, dass mit Auffälligkeiten schneller ein Facharzt aufgesucht wird. Eine unbestätigte Vermutung geht in die Richtung, dass die rasant zunehmende Anzahl von Umweltreizen, die schon auf Kleinkinder einwirken, zur Entwicklung von AD(H)S beitragen könnte. Die neuesten Erkenntnisse aus der Forschung haben ergeben, dass es sich um eine Stoffwechsel- und Funktionsstörung im Gehirn handelt. Erbliche Vorbelastungen und auch Risikofaktoren während einer Schwangerschaft können das Entstehen beeinflussen. Psychosoziale Aspekte spielen nur insofern eine Rolle, als dass sie die Ausprägung der Störung beeinträchtigen können.

AD(H)S darf nicht länger ein Begriff sein, der zwar in aller Munde ist, von dem aber kaum jemand weiß. Jeder muss sich im Klaren darüber sein, was diese Störung genau ausmacht und wie sehr Betroffene darunter leiden.

Ilse Gretenkord

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