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Krisenhandbuch für lupenreine Demokraten

Am

Krisenhandbuch für lupenreine DemokratenDemokratie lebt vom Streit, sagt man. Er darf natürlich – wie im richtigen Leben – nicht zu weit führen. Was "zu weit" ist, bestimmen die Herrscher. Nein, nicht das Volk, sondern die von ihm gewählten Vertreter. Genauer: der von den Vertretern bestimmte Präsident. Sie. Nun können in modernen Demokratien Großprojekte, die von Ihrer Regierung und der interessierten Lobby lange und sorgfältig vorbereitet wurden, unversehens bei den Betroffenen spontane Kritik auslösen. Nehmen wir einen Bahnhof oder einen Flughafen, der über jeden vernünftigen Bedarf hinausgeht oder ein Prestigebauwerk, das einen parkähnlichen Rückzugsort in einer vor Hektik summenden Metropole vernichtet. Aber auch (und gerade) wenn Ihr Land noch keine moderne Demokratie ist, führt allgemeiner oder punktueller Unmut oft zu Demonstrationen – im schlimmsten Fall zu solchen, die überhaupt erst nach nach einer modernen Demokratie verlangen. Gerade hier gibt es erschreckende Beispiele, in denen sich ein ruhiges und friedvolles, von staatlichen und religiösen Führern und ihren Geheimdiensten kontrolliertes Zusammenleben urplötzlich explosiv verändert. Darauf vorbereitet zu sein und durch kluge und überlegte Maßnahmen Schlimmereszu verhüten, ist das A und O einer klugen Staatsführung, die – nicht zu vergessen – nur das Beste für ihr Volk will. Nun gilt es also schnell, überlegt und zielgerichtet zu handeln, wollen Sie sich als Staatsmann (oder, in selteneren Fällen, Staatsfrau) nicht das Ruder aus der Hand nehmen lassen. Dazu soll diese sorgfältig abgestufte Vorgehensweise helfen, ein 10-Punkte-Programm – nicht notwendigerweise streng in dieser Reihenfolge.


1. Demonstrationen ignorieren

Das ist die leichteste Übung, denn irgendjemand (eine kleine Minderheit) demonstriert immer irgendwo und gegen irgendwas. Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit, dem Ende der staatlichen Verschwendung oder gar Rede- und Meinungsfreiheit gibt es immer. Würde man ihnen jedes Mal nachgeben, käme man sehr schnell in den üblen Geruch, sein Land nicht im Griff zu haben. Äußern Sie sich gar nicht dazu oder höchstens durch Ihren stellvertretenden Vize-Pressesprecher und ignorieren Sie die vorgebrachten Forderungen. Notfalls (für fortgeschrittene Staatsführer) erkennen Sie sie teilweise an und berufen Sie einen Ausschuss, der das Ganze prüfen soll. Der wird in drei Monaten einen 300-seitigen Bericht veröffentlichen, der folgenlos in den Archiven verschwindet.

2. Ordnungskräfte einsetzen

Die Demonstrationen nehmen kein Ende? Sie sind spontan und (natürlich) nicht genehmigt? Das ist die zweitleichteste Übung: Ihre Ordnungskräfte sorgen für die Ordnung, nach der sie benannt sind. Im Gegensatz zu den Demonstranten (normale Bürger, viele junge Leute, Frauen und – wie ekelhaft! – Kinder) sind sie dazu ausgebildet und bewaffnet. Sie ähneln personifizierten Klon-Kriegern aus den Ballerspielen, mit denen sie üblicherweise trainieren. Helme, Schilde, Panzerung, Stöcke, Chemiewaffen, Geschosse – zur Selbstverteidigung, versteht sich. Denken Sie an "Fernwaffen" wie Wasserwerfer (bis 20 bar Druck) und vergessen Sie nicht, die Beimischung von Reizstoffen (CS und CN) anzuordnen. Wenn Sie jemandem mit dem Druck des WaWe’s das Augenlicht nehmen, riskieren Sie zwar eine Klage, aber die rechtlichen Mittel sind ja, hihi!, etwas ungleich verteilt. Lassen Sie bei den Einsatzkräften durchblicken, dass sie ruhig ordentlich draufhauen können. Das wird nach unten weitergegeben, und der kleine Polizist versteht schon, was gemeint ist. Notfalls orientiert er sich an seinem Nachbarn in der Kette. Diese Maßnahmen sind erforderlich, um Ordnung zu schaffen, wie gesagt. Leider endet eben diese Ordnung meist im Chaos. Daran sind die Demonstranten schuld, die sich nicht wehrlos ihrer Bürgerrechte berauben lassen. Erfreulicherweise sind auch "Chaoten" darunter, vermummt und mit Steinen bewaffnet (zur Not helfen hier auch Polizisten in Zivil). Das ist ein guter Vorwand zur Eskalation, der Stufe 3:

3. Chaoten, Extremisten, Terroristen beschuldigen

Jetzt müssen Sie die Demonstranten radikalisieren, wenn sie es unter dem Einfluss des massiven Polizeieinsatzes nicht von selbst getan haben. Die meisten von ihnen sind junge Männer (haben die denn keine Arbeit, wenn sie tagsüber Rabatz machen können?! Nein, sie haben keine…), die sinn- und hirnlos ihren Frust abreagieren. Das macht die Sache einfach: Die braven Bürger entsolidarisieren sich mit der Sache, und die Medien haben ihre Bilder. Je härter die Einsatzkräfte durchgreifen (die meisten sind ja nicht aufgrund ihrer pazifistischen Grundeinstellung zum Polizeidienst gegangen), desto schneller verwandeln sich gewaltfreie Demonstranten in "gewaltbereite Störer" (so Ihre Pressemeldung) und Extremisten. Nun sind die Fronten klar: ein ehemals friedlicher Protest wird zu Gefährdung der Demokratie, Ihrer Demokratie.

4. Kriminalisierung, Verhaftung und Anklage

Die Demonstrationen haben sich inzwischen weit von ihrem ursprünglichen Anlass entfernt. Kriminelle Elemente haben sich unter die Demonstranten gemischt und nutzen sie für ihre eigenen Zwecke. Nun ist es an der Zeit, ein paar Gesetze hervorzukramen, die Ihr Parlament vorsorglich geschaffen hat. Die Auswahl ist groß: Störung der öffentlichen Ordnung, Angriff auf Staatsorgane (viele verlässliche Zeugen!), Verhöhnung religiöser Symbole, Bildung einer kriminellen Vereinigung (liefert Ihnen die gesamte Unterstützerszene!), Verbreitung staatsgefährdender Gedanken (z. B. Homosexualität). Jetzt können Sie nicht nur Demonstranten verhaften lassen, sondern auch Anwälte und Ärzte, die ihnen geholfen haben. Und die Unruhestifter und Rädelsführer, die in den sozialen Medien zu den Demos aufgerufen haben (dass Ihre Leute das Internet kontrollieren, davon gehen wir aus). Da Ihre Richterschaft überlastet ist und normale Bürger oft jahrelang auf ihr Recht warten, werden Sie hier zur öffentlichen Abschreckung einige Prioritäten neu ordnen müssen.

5. Behinderung der Medien

In den Medien ist einer der häufigsten Sätze: "Der/die/das (Substantiv) ist offenbar noch (Komparativ) als bisher bekannt." Der finanzielle Schaden ist offenbar noch größer als bisher bekannt. Die Schnüffeleien sind offenbar noch umfangreicher als bisher bekannt. Usw. Das ist der erste taktische Kniff: die Wahrheit (oder was davon übrig bleiben soll) nur scheibchenweise rauslassen.

Die Medien haben die Chaoten gezeigt und sie damit scheinbar unterstützt. Aber nun üben sie Kritik an Ihrem Polizeieinsatz. Das ist schon mal eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Ihres Landes. Treten Sie ihnen entschlossen entgegen, sie sind Teil der internationalen Verschwörung gegen Ihr Land. Sie behindern die Ordnungskräfte. Verbieten Sie kritische Zeitungen (sofern es sie überhaupt noch gibt), setzen Sie Redakteure und Journalisten unter Druck, schließen Sie notfalls eine Fernsehanstalt. Aber gehen Sie dabei nicht zu weit, denn a) eine Behinderung der Pressefreiheit wollen Sie sich als Demokrat nicht nachsagen lassen und b) Sie brauchen Medien für Jubelberichte über Ihren nächsten Schritt, die…

6. Gegendemonstrationen durch eigene Anhänger

Die Demonstranten sind ja nur eine kleine unbedeutende Minderheit, wie Sie schon festgestellt haben. Geben Sie den mündlichen Befehl (ohne Zeugen, versteht sich), Ihre Anhänger – irgendwer wird Sie ja schließlich damals gewählt haben! – zu mobilisieren. Geben Sie Beamten und anderen Abhängigen klare Anweisungen, stellen Sie Fähnchen, Busse und Spruchbänder zur Verfügung, sorgen Sie für spontane Aufwallungen des Volkszorns gegen die Terroristen. Sie finden garantiert viele Interessengruppen, die Sie damals ins Amt gehievt haben und die ihre Belohnungen dafür nicht aufs Spiel setzen wollen. Die werden es den linken Spinnern schon zeigen!

7. Leere Versprechungen abgeben

Um den eigenen Ruf als Demokrat zu stabilisieren – er ist durch die diversen Polizeiaktionen vielleicht etwas ramponiert –, empfiehlt es sich, Gesprächsbereitschaft zu zeigen und den gemäßigten Demonstranten Angebote zu machen. Vorbedingung ist natürlich Gewaltverzicht – der aus Sicherheitsgründen natürlich nicht mit einem Gewaltverzicht der Einsatzkräfte aufgewogen werden kann. Nun gibt es zwei Möglichkeiten, die beide positiv für Sie enden: erstens, die Demonstranten sagen ihre Teilnahme an dieser Finte ab. Klar, sie sind nicht gesprächsbereit und lehnen demokratische Verhandlungen ab. Zweitens, sie schicken irgendwelche unbedeutenden Vertreter irgendwelcher Splittergruppen, die sich gegenseitig nicht grün sind (der harte Kern, der wirklich eine Veränderung will, nimmt nicht teil – siehe "erstens"). Ihre Gegner lösen sich damit selbst auf.

8. Einmischung in innere Angelegenheiten verbitten

Vielleicht haben Ihre Ordnungsmaßnahmen inzwischen internationale Kritik erregt. Das ist nicht schlimm. Anti-(Ihr Land)ismus ist überall in der Welt verbreitet. Er wird vor allem durch die internationalen Medien hervorgerufen, die bekanntlich vom Großkapital und den Zionisten kontrolliert werden. Es stärkt Ihr staatsmännisches Auftreten, wenn Sie die Verschwörung ihrer ausländischen Feinde klar zur Sprache bringen. Ihre Anhänger, die Sie jahrelang mit diffusen Feindbildern gelenkt haben, werden Ihnen begeistert zujubeln.

9. Ausländische Mächte beschuldigen

Die Demonstranten, so hat sich inzwischen herausgestellt (und wird von den von Ihnen kontrollierten Sendern verbreitet), sind überhaupt keine Landsleute. Ausländische Infiltranten, bezahlte Söldner, Terroristen (wie Sie von Anfang an betont haben!). Und der Kampf gegen den Terrorismus rechtfertigt jede Maßnahme, wie inzwischen allgemein anerkannt ist. Nun fällt Ihnen trotzdem nichts mehr ein? Macht nichts, Sie sind ja auch auf der Zielgeraden: den Aufstand endgültig zu ersticken. Die Demokratie von ihrer gefährlichsten Bedrohung zu bewahren: dem Willen des Volkes. Denn nun kommt der letzte Schritt:

10. Ihre letzte (und beste) Zuflucht: die Armee

Selbstverständlich hat eine lupenreine Demokratie eine starke Armee, um sich selbst (eben diese Demokratie) zu schützen. In den heutigen Zeiten kann man ja einen äußeren von einem inneren Feind nur schlecht unterscheiden (siehe auch Punkt 9). Sicher haben Sie frühzeitig an eine Notstandsgesetzgebung gedacht, die ihnen erlaubt, Ihre Truppen gegen die Feinde der Demokratie einzusetzen. Dass diese plötzlich Waffen besitzen, um Sie zu bekämpfen, schafft Ihnen zusätzliche Legitimation (sorgen Sie dafür, dass es so ist!). Machen Sie sich keinen Kopf, wenn Ihr Land danach vielleicht in Trümmern und Asche liegt – Sie haben ja vorgebaut, Ihr Vermögen und das Ihrer Verwandten ins Ausland gebracht und sich der Unterstützung eines befreundeten Staates versichert. Notfalls kann man das Leben auch im Exil genießen. Denn das Militär ist immer der Garant für Stabilität in einem Land – notfalls wird es das auch Ihnen zeigen.

Gratuliere, Sie haben es geschafft. Es herrschen wieder Ruhe und Frieden im Land (bzw. dem, was noch davon übrig ist). Beantragen Sie Wiederaufbaumittel bei der Völkergemeinschaft – man wird Ihnen aus geopolitischen Gründen gerne dabei helfen!

Jürgen Beetz

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