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Windows 8: Kritik an schlechter Usability

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Das neue Windows 8 leidet an schlechter Usability (Benutzbarkeit) vor allem für PC-Benutzer. Das ermittelte der kalifornische Usability-Spezialist Jakob Nielsen (Nielsen Norman Group) durch zwölf Benutzertests. Ursachen: verborgene Funktionen, kognitiver Ballast durch die Doppel-Umgebung, Ein-Fenster-Nutzeroberfläche mit reduzierter Reichweite und niedrige Informationsdichte.


Jakob Nielsen schreibt in seiner Kolumne "Alertbox" vom 19.11.2012 sinngemäß:

Das neue Design ist offensichtlich für die Verwendung auf Touchscreens optimiert (auf denen große Zielflächen hilfreich sind), aber Microsoft zwingt diesen Stil auch seinen traditionellen PC-Nutzern auf. Dabei zeigt das Produkt dem Nutzer zwei Gesichter: einen Tablet-orientierten Startbildschirm und einen PC-orientierten Desktop-Bildschirm. Leider sind, so Nielsen, bei zwei Umgebungen auf dem gleichen Gerät Usability-Probleme vorprogrammiert:

  • Die Nutzer müssen lernen und sich daran erinnern, wo man welche Funktion findet.
  • Wenn sie in beiden Bereichen einen Web-Browser laufen lassen, sehen die Nutzer zu einem gegebenen Zeitpunkt immer nur einen Teil der von ihnen geöffneten Webseiten (und werden nur an diesen Teil erinnert).
  • Das Hin- und Herschalten zwischen den Umgebungen erhöht die Interaktionsaufwand beim Verwenden multipler Funktionen.
  • Die beiden Umgebungen arbeiten unterschiedlich, was ein inkonsistentes Nutzererlebnis erzeugt.

Der Name Windows stimmt nicht mehr

Sogar der Name "Windows" (Fenster) stimmt nicht mehr und müsste jetzt "Window" heißen, meint Nielsen. Denn Windows 8 unterstützt nicht mehr das parallele Arbeiten in mehreren Bildschirm-Fenstern. Stattdessen übernimmt die Software die in Tablets sinnvolle Ein-Fenster-Strategie jetzt auch für PCs - obwohl große PC-Bildschirme eigentlich das geichzeitige Betrachten von zwei oder mehr Fenstern ermöglichen. Nielsen: "Wenn die Nutzer nicht mehr mehrere Fenster gleichzeitig sehen können, müssen sie Informationen aus dem einen Fenster in ihrem Kurzzeitgedächtnis behalten, während sie ein anderes Fenster aktivieren. Das ist aus zwei Gründen problematisch: erstens ist das Kurzzeitgedächtnis der Menschen notorisch schwach und zweitens nimmt schon allein die Aufgabe, ein weiteres Fenster zu handhaben - anstatt einfach nur auf eines zu schauen, das schon offen ist - weitere kognitive Ressourcen in Anspruch."

Apps mit niedriger Informationsdichte

Die für den neuen Windows-Tablet-PC "Surface" verfügbaren Apps zeichnen sich oft durch eine unglaublich niedrige Informationsdichte ihrer Startseiten aus: Obwohl sie auf einem großen 10,6-Zoll-Tablet läuft, zeigt die Bing-Finance-App nur eine einzige Story (plus drei Aktienkurs-Meldungen) auf dem Startbildschirm. Bei den Los Angeles Times beschränkt sich Startbildschirm auf drei Schlagzeilen und eine Anzeige. Sie zeigt noch nicht einmal die komplette Schlagzeile der führenden Story und die Zusammenfassung hat nur Platz für sieben Wörter. Die Website der Zeitung zeigt dagegen auf dem gleichen Platz neun Storys (und drei Anzeigen), dazu die kompletten Zusammenfassungen der wichtigsten Artikel. Eine Folge der niedrigen Informationsdichte auf dem Surface ist, dass die Nutzer heftig scrollen müssen, um sich wenigstens einen ersten Überblick über die zugänglichen Informationen zu verschaffen.

Vor- und Nachteile der lebendigen Kacheln

In den Live Tiles (lebendigen Kacheln) sieht Nielsen einen Vorteil der Benutzeroberfläche von Windows 8. Anstatt eine App ständig mit dem gleichen statischen Icon anzuzeigen, fasst eine lebendige Kachel aktuelle Informationen aus der App zusammen. Gute Beispiele sind

  • Wetter-Apps, die aktuelle (oder vorhergesagte) Temperaturen und Vorhersagen anzeigen,
  • E-Mail-Apps, die die Betreffzeile der letzten empfangenen Nachricht anzeigen,
  • Kalender-Apps, die Ihren nächsten Termin anzeigen,
  • Aktienkurs-Apps, die aktuelle Marktdaten anzeigen.

Doch viele App-Designer haben anscheinend ihre Kacheln so lebendig gemacht, dass die Benutzer im Test die entsprechenden Apps nicht gefunden haben. Der Startbildschirm des Surface fühlte sich an wie Dutzende von Marktschreiern, die alle gleichzeitig loslegen.

Charms: verborgene generische Befehle

Als viel versprechende Design-Idee von Windows 8 lobt Nielsen die Verwendung von generischen Befehlen in Form so genannter Charms. Charms sind Paneele mit Icons, die von der rechten Seite des Bildschirms aus ins Bild gleiten, wenn man vom rechten Rand aus eine Blätterbewegung gemacht hat (beim Tablet) oder mit der Maus in die rechte obere Ecke des Bildschirms gezeigt hat (auf einem Computer). Das Paneel enthält Funktionen wie Suche, Teilen (inklusive E-Mail) und Einstellungen, die jeweils zu den Inhalten passen, die der Nutzer gerade vor sich hat. In der Testpraxis funktionierten die Charms schlecht - zumindest für neue Nutzer. Weil die Charms verborgen sind, haben unsere Nutzer oft vergessen, sie zu Hilfe zu rufen, wenn sie sie gerade hätten brauchen können.

Gesten, die in die Irre führen

Die Tablet-Version von Windows 8 führt etliche, twilweise komplizierte Gesten ein, die man offenbar leicht falsch machen kann. Problem: Wenn etwas nicht funktioniert, wissen die Nutzer nicht, ob sie die Geste nicht richtig gemacht haben, ob die Geste im aktuellen Kontext gar nicht funktioniert oder ob sie eine völlig andere Geste machen müssen. Das macht es schwierig, die Gesten zu erlernen und zu erinnern. Es gibt häufig Fehler, und die Bedienung wird zeitaufwändiger, als nötig wäre.

Als schlimmes Beispiel nennt Nielsen eine fingerakrobatische Übung, mit der man eine Liste der aktuell laufenden Applikationen aufrufen kann: Zuerst muss man vom linken Bildschirmrand ins Bild wischen, dann sofort die Richtung umdrehen mit einem kleinen Wisch in die Gegenrichtung und schließlich um 90 Grad abbiegen und mit dem Finger das Symbol der gewünschten Applikation ansteuern. Der kleinste Fehler in einem dieser Schritte erzeugt ein anderes Ergebnis.

Benutzererlebnis auf Tablets schwach und auf PCs schrecklich

Windows 8 hat auf Tablets zwar Usability-Probleme, aber die könnten nach Einschätzung Nielsens mit einem gemäßigten Redesign beseitigt werden. Er hofft bereits auf Windows 9 für mobile Geräte und Tablets: "Windows 7 war ein Vista, diesmal richtig. Wahrscheinlich wird die Touchscreen-Version von Windows 9 ein Metro sein, diesmal richtig." Mit Metro meint er den neuen, flachen Designstil, bei dem es keine scheinbar erhabenen Buttons und scheinbar abgesenkten Eingabefelder mehr gibt.

Auf regulären PCs sieht die Situation, so Nielsen, viel schlimmer aus, besonders für Wissensarbeiter, die im Büro produktivitätsrelevante Aufgaben erledigen. "Dies war bislang die Kernzielgruppe von Microsoft, und jetzt hat Microsoft seine alte Kundenbasis unter den Bus geworfen: Man hat ein Betriebssystem gestaltet, das kraftvolle Vorteile für PCs über Bord wirft, um auf kleineren Geräten besser zu laufen."

Die engiische Originalversion des Artikels gibt es auf www.nngroup.com http://tiny.cc/7977pw.

Die deutsche Übersetzung auf www.usability.ch. http://tiny.cc/k877pw

Jens J. Korff