ngo-online: Herr Dr. Käss, Sie haben als Vertreter der IPPNW in diesen Tagen eine lange Reise zu einem Kongress nach Japan auf sich genommen. Eigentlich könnten Sie ihren Ruhestand als Arzt genießen. Deshalb die Frage: Was treibt Sie an? Was ist ihre Motivation?
Dr. Käss: Ich habe ein starkes Interesse, dass das „Experiment Menschheit“ weiterexistiert und ich freue mich, durch meinen Ruhestand die Zeit zu haben, besonders diesem Interesse nachzugehen. Dazu geht es mir hier in Japan um Atomwaffen, die eine starke Bedrohung der Menschheit darstellen und bei denen sich die Atomwaffenstaaten immer noch um ihre vertragliche Verpflichtung zur Abrüstung drücken. Da ist besonders die ICAN – Bewegung eine starke Gegenkraft, eine durch die IPPNW gestartete und jetzt selbstständige Bewegung. Weiterhin geht es um Fukushima und damit um Atomenergie, die in der nuklearen Kette viele Bedrohungen schafft, worunter die Größte die Tatsache ist, dass jeder Staat mit AKW´s relativ leicht Atomwaffen besitzen kann. Und es geht um eine Lösung des Atomenergieproblems und gleichzeitig um das fossile Problem und damit um die Erneuerbaren Energien. Dazu wurde ja in Braunschweig im Juni ein Konzept verabschiedet, das einen guten Weg zur 100%-igen Versorgung mit Erneuerbaren Energien bedeutet. (Aktuell kann man dazu unter http://helmutkaess.de/Wordpress/?p=543 mehr erfahren und zwar auf: Japanisch, Englisch und Deutsch.)
ngo-online: Der Kongress selbst beschäftigt sich mit vielen Fragen. Mir sind zwei Sektionen/Themenbereiche besonders aufgefallen. Zum einen die Sektion „World without Structural Violence/Human Security und zum anderen die Sektion, die sich mit Fukushima und den Folgen befasst. Können Sie uns und unseren Lesern etwas zum Thema „Strukturelle Gewalt“ erzählen und weshalb die IPPNW dieses Thema wichtig findet?
Dr. Käss: Es gibt die Kriegslogik und die Friedenslogik. Die Kriegslogik ist bei den Regierenden weit verbreitet und bedeutet, dass jeder „gewinnen“ will. Es werden zwar auch Kompromisse gesucht, aber doch ist die Neigung verbreitet, den anderen als Feind zu sehen und ihn zu bekämpfen, sei es ein anderer Staat, ein Konkurrent oder die Arbeiterschaft oder die andere Firma. Da gibt es natürlich auch jede Menge an gebieterischen Anordnungen ohne Diskussion und damit auch an struktureller Gewalt. In der Bevölkerung ist aber ein Umdenken zu einer sozialen und friedlichen Denkweise schon weit verbreitet.
ngo-online: Das am meisten beachtete Thema dieses Kongresses ist sicherlich unter dem Begriff FUKUSHIMA zu subsumieren, zumal Japan ja schon im August 1945 die verheerende Macht und Zerstörungskraft der Atomenergie zu spüren bekommen hat. – Haben Sie eine Erklärung dafür, weshalb in Japan solange auf die ATOMENERGIE gesetzt wurde? Und warum man über Jahrzehnte hinweg die Gefahren dieser Energiequelle (AKW’s) verharmlost hat?
Dr. Käss: Es ist jetzt immer noch so, dass die Regierung, aber auch die japanische Sektion der IPPNW, die JPPNW, die Atomenergie zu behalten sucht. Sowohl die Mayors for Peace wie auch die JPPNW Hiroshima zeigten wenig Interesse an mir, nachdem ich meine Vorschläge zur Vorlage des Konzeptes des ZGB www.zgb.de (Stichwort ReNCO2. Siehe auch der oben angegebene Link) angeboten hatte. Atomkritische Japaner waren dagegen sehr interessiert. Offensichtlich ist in Japan eine Bevölkerungsmehrheit für das sofortige Ende der Atomindustrie, dagegen weite Teile der Regierung und der Wirtschaft und der Medien gegen ein schnelles Ende. Bisher wurde die militärische Anwendung der Atomenergie und die zivile Verwendung nach der Devise von Eisenhower: „Atoms for Peace“ als sehr getrennt gesehen.
Das Atomunglück von Fukushima wird meist als abgeschlossen dargestellt. Die besuchten Bürgermeister in den belasteten Kleinstädten der Region sagten, die Radioaktivität sei nicht wesentlich, es werde alles gemessen. Wir stellten teilweise bis um den Faktor 4 höhere Messwerte ein paar Meter neben dem offiziellen, fest installierten Gerät fest. Viel schlimmer ist aber, dass das Unglück Fukushima noch nicht abgeschlossen ist. Im Reaktor vier im fünften Stock befindet sich ein großes Bassin mit 1500 Brennstäben, die anscheinend eine über 1000 fache Radioaktivität als die bei Tschernobyl freigesetzte Menge enthalten. Wenn das windschiefe Gebäude zusammenbricht, befürchtet Sebastian Pflugbeil , dass dies zu einer dann nötigen Evakuierung von Tokyo führen könnte. Der Betreiber Tepco will sich 10 Jahre lang für die Sanierung Zeit lassen. Wir hatten eine ausgezeichnete Pressekonferenz am Mittwochmorgen dazu in Tokyo.
ngo-online: Wie geht man heute – nach dem Super-GAU in Fukushima – mit der Atomenergie in Japan um? Wie sieht es mit der Akzeptanz in der Bevölkerung aus? Und betreibt TEPCO inzwischen eine bessere Informationspolitik.
Dr. Käss: Wie ja bekannt ist, hat man erst mal alle AKW´s (über 50) zur Überprüfung abgeschaltet. Bisher sind erst zwei wieder am Netz. Es trat keine wesentliche Knappheit der Stromversorgung auf. Was übrigens auch von Fachleuten vorhergesagt worden ist. Es finden häufige Demonstrationen zur Verhinderung des Wiederanschaltens von AKW´s statt. Mir war die Teilnahme in meiner freien Woche vor der Veranstaltung an zwei Demonstrationen angeboten worden, wobei ich aus gesundheitlichen Gründen wegen meiner Hüftarthrose an der weiter entfernten teilnahm, da die andere bedeutet hätte, dass ich längere Strecken bei Hitze mit dem Fahrrad Berg auf und ab hätte fahren müssen.
Von Tepco eine bessere Informationspolitik zu erwarten, wäre ein grober Fehler. Man muss vom Staat eine harte Führung gegenüber Tepco erwarten, aber die gibt es bisher nicht.
ngo-online: Wie Sie uns geschrieben haben, findet nach dem Kongress auch ein Besuch der Präfektur in Fukushima statt. Waren Sie dabei? Schildern Sie uns doch ihre Eindrücke.
Dr. Käss: Wir, das heißt dreißig Personen - international zusammengesetzt -, machten eine Ein-Tagestour in der Region Fukushima. Wir kamen in der Stadt an, die einen angenehmen, etwas technischen Eindruck machte. Fukushima liegt etwa 70 km von den Reaktoren entfernt und hat anscheinend eine Belastung in der Größenordnung von 0,5-1,0 µS/ Stunde = etwa 5-10 mS pro Jahr. Als normal und durchschnittlich gilt 0,5-1 mS/ Jahr. Dabei gibt es einige Orten dieser Erde mit bis zu 20 mS/ Jahr. Wir fuhren mit einem Bus bis näher als 20 km an den Unglückort heran zu dem Dorf Kawauchi. Dort hörten wir von einem Dorfvorstand, alles sei gut, sie würden alles messen, es sei eine niedrige Radioaktivität und die Produkte würden von den Anwohnern gegessen. Nach offizieller Karte ist die Gegend mit zwischen 1,0-9,5 µS/Stunde bzw. etwa 10-95 mS / Jahr belastet. Der Bürgermeister des Ortes sprach auch davon, dass alles gemessen und überprüft würde und er richtete einen Appell an die ehemaligen Bewohner, doch zurückzukommen, sobald sie es sich zutrauen würden. Sie würden jederzeit mit offenen Armen empfangen. In der Diskussion fragte ich nach den weiter bestehenden Gefahren von den Kernreaktoren und er sagte, aus diesem Grund würden viele noch abwarten. (Nebenbei: Die Gegend würde sich sehr für große Solar- und Windfelder eignen, da die Feldfrüchte natürlich nicht so gut sind.)
ngo-online: Können Sie uns etwas sagen zu den Ergebnissen des Symposions, das im Rahmen des Kongresses stattgefunden hat und sich mit Fragen der schon erkennbaren und noch zu erwartenden gesundheitlichen Folgen des japanischen Super-GAUs befaßt. – Wie sehen die gesundheitlichen und auch die sozialen Folgen der Katastrophe in Fukushima konkret aus.
Dr. Käss: Das Symposion am Montagabend fand ich sehr wissenschaftlich und etwas trocken. Allerdings war die darauf fußende Pressekonferenz am Mittwoch (nach der Tour nach Fukushima am Dienstag) ausgezeichnet. Tilman Ruff aus Australien sprach dort einleitend über die noch ungeklärte gesundheitliche Situation und die Erwartungen gemäß Tschernobyl und über unsere Erwartungen an die Ärzteschaft in Japan. Jeffrey Patterson aus den USA sprach über Schilddrüsenkrebs und dass natürlich jetzt noch nichts zu erwarten ist, dass aber häufige Kontrollen nötig seien. Daher seien die hohe Rate an Zysten bei Kindern sicher noch nicht durch Fukushima verursacht. (Aber vielleicht durch die Kernkraftwerke? Am Montagmorgen war gesagt worden, früher habe es äußerst selten Brustkrebs gegeben, seit den Kernkraftwerken vor 50 Jahren sei er zunehmend häufig geworden) Arun Mitra sagte, wir kämpfen für eine nuklearwaffen- und nuklearenergiefreie Welt. Als Inder wird er die Lehren von Fukushima nach Indien tragen. Patrice Sutton, USA, sagte, der Unfall sei nicht abgeschlossen, Block vier drohe. Es gäbe nur einen guten Pfad in die Zukunft, den erneuerbaren.
Die Evakuierung der Kernkraftwerkumgebung nach dem Unfall fiel erst mal schematisch aus. Es wurde das Gebiet 20 km um den Reaktor geräumt und angeblich fielen etwa 600 Kranke wegen Bürokratie, Kälte und Unfällen der Evakuierung zum Opfer. (Es lag zu der Zeit Schnee, während es bei unserem Besuch auch dort heiß war) 160.000 Personen sind noch evakuiert. Teilweise sind die Familien zerrissen. Weit überwiegend haben sie anscheinend noch keine neue Arbeit gefunden.
ngo-online: Wie Sie als Arzt wissen, ist der Mensch ein Meister in der Kunst des Verdrängens. - Worauf setzen Sie, wenn Sie die Hoffnung haben oder ihr Ausdruck geben, dass Fukushima der Anfang vom Ende der Atompolitik auch in Japan ist oder sein kann. Das kollektive Gedächtnis ist kurz und die Atom-Lobby ist auch in diesem Land mächtig/sehr stark und eng verknüpft mit der Politik. Und bei uns in Deutschland, so scheint mir, wird der Ausstieg aus der Atomenergie auch immer halbherziger vorangetrieben. Die Zögerer und Zauderer haben wieder das Wort und Macher, Kümmerer oder Treiber wie z.B. Hermann Scheer fehlen unserer Gesellschaft.
Dr. Käss: Die Bevölkerung in Japan hat im Moment die Nase voll von Atomenergie. Andererseits bezahlen die Betreiber der AKW relativ viel Geld. Daher sind Regierung und auch die hiesige Ärzteschaft noch mehrheitlich für Atomenergie. Aber der demokratische Druck ist hoch. Und wir haben natürlich unsere Chance genutzt, die Gefahren der nuklearen Kette vom Uran bis Atomwaffen und Atommüll und der ungelösten Fukushima- Problematik zu beschreiben. Und in Deutschland besteht ja seit Tschernobyl ein wesentlicher öffentlicher Druck, der sich seit Fukushima kräftig verstärkt hat. Wir müssen den Erneuerbaren den Weg frei räumen und unsere Versorgungsstrukturen umstellen. Je eher, desto besser für die Welt. Wir sollten „unsere Gegner“ nicht monolithisch sehen, sondern als einzelne Menschen, die Argumenten zugänglich sind. Die paar, die nur auf den momentanen Nutzen sehen und die Risiken verdrängen, werden wir in die Minderheitenposition schieben! Dafür brauchen wir Zähigkeit und langen Atem.
ngo-online: Herr Käss, Sie sind ja nicht nur wegen des Kongresses hier in Japan. Sie verbreiten auch die Botschaft, dass die Erneuerbaren Energien (in allen ihren Formen) eine echte Alternative zur herkömmlichen Energiegewinnung (auf fossiler oder atomarer Basis) sind. – Wie steht es um die ERNEUERBAREN im Hightech-Land Japan?
Dr. Käss: Ich sah vereinzelt Solaranlagen, ich hörte von dem Englischlehrer Seishi Hinada, dass seine Mutter auf Grund des neuen Erneuerbaren-Energien- Gesetzes ihr Dach entsprechend belegt hätte und ich hörte auch von Windanlagen, habe aber keine gesehen. Wenn das erneuerbare Energiegesetz und die Versuche, auch über die kommunale Schiene die Erneuerbaren zur forcieren, Erfolg haben, könnte Japan zu einem wesentlichen Mitstreiter für eine bessere Welt werden. Dies versuche ich mit dem Braunschweiger Konzept zu unterstützen. Ich verteilte von folgendem einseitigen Flyer etwa 60 Exemplare: http://helmutkaess.de/Wordpress/?p=517
ngo-online: Herr Käss, wir haben jetzt viel und ausführlich über Katastrophen und Politik gesprochen. – Meine abschließende Frage ist: Was fasziniert Sie an Japan? Und - Was nehmen von dieser (längeren) Reise (für sich selbst) mit nach Braunschweig?
Dr. Käss: Mich bewegt die Zukunft der Menschheit, ich bin ein politisches Tier. Japan ist so wie Deutschland, nur deutlich heißer, es gibt alle möglichen Sorten von Menschen hier. Und wie immer mit Menschen, man sollte sie ansprechen, sich mit ihnen befreunden, und man sollte unterschiedliche Meinungen respektieren, aber die Leute auch mit den eigenen Meinungen konfrontieren.