Niemals wird ein Prognostiker sagen, die Wirtschaft werde exakt am 30. April des Folgejahres um zwei Prozent gestiegen sein. Prognosen gehen anders. Prognosen sind Schätzungen je nach Art und Fülle der Faktoren, die auf individuelle Problemlagen in der Zukunft einwirken werden, prinzipiell nicht vorhersehbar sind. Typische Fragestellungen sind die Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung. Die Frage muss also lauten: „Schätzen sie die Anzahl der in zehn Jahren in Konkurs gegangenen Firmen so, dass sie mit ihrer Schätzung zu 10% falsch und zu 90% richtig liegen.“ Und dabei können die Experten sich diese Spanne selbst wählen. Die Spanne kann dann 1.000 und 10.000 sein. Also würden laut dieser Prognose nicht weniger als 1.000 und nicht mehr als 10.000 Firmen in Konkurs gehen. Das könnte ein Kind durch raten leicht bewältigen. Nicht aber Experten. Experten leiden an Selbstüberschätzung. Und diese kann manisch sein. Fragt man nämlich Experten, ob sie sich für überdurchschnittlich kompetent halten, sagen mindesten 90% ja. Das würde eine Überdurchschnittlichkeit von 90% bedeuten, die jedoch unmöglich ist. Der Median müsste bei genau 50% liegen. Wer jedoch in seiner Selbsteinschätzung so falsch liegt, sowie ihm keine klaren Daten zur Verfügung stehen, wie kann der dann Prognosen erstellen? Sind wir nicht ein wenig zu mutig, diesen Experten zu vertrauen?
Worin diese Experten jedoch wirklich kompetent sind, ist das Lesen des Ergebnisses einer Excel-Tabelle. Die einzelnen Faktoren sind ihnen egal. Doch genau diese einzelnen Faktoren sind in der Politik, in der Ökonomie und vor allem im Sozialen, im Umweltschutz, in der Vorsorge, und in der Bildung wichtiger, als das automatisch generierte Endergebnis. Es wäre alles nicht weiter schlimm, wenn nicht jeder dieser Experten ein wichtiges Wort in der öffentlichen Diskussion führen würde. Somit tritt die Excel-Tabelle in den Vordergrund und ein Mensch wird, je stärker seine Zahlmeistermentalität ausgeprägt ist, zu einem Staatsphilosophen. Aber ist es nicht „der Gerechte“, der regieren soll? Und soll es dann nicht ebenso „der Gerechte“ sein, der dem Regierenden auf die Finger schaut?
Zu den Prognostikern gesellen sich die Historiker. So wichtig sie sind, so fehl am Platze sind sie als beratende Experten in den Parlamenten und in der Wirtschaft. Denn eines haben Parlamente und Konzerne gemeinsam: Sie wollen bleiben. Und die Experten sollen sie in dieser Starre unterstützen, sie rückwirkend legitimieren. Fast jeder kennt das. Man hat ein Jahr lang schwer gearbeitet und gespart, um sich zwei Wochen Urlaub zu gönnen. Nun sitzt man in einem Hotel, doch dies entpuppt sich als der größte Reinfall. Was macht man? Man wird erst wütend, beschwert sich, passt sich an und bricht den Urlaub nicht ab. Warum? Eben weil man so schwer gearbeitet und auf so vieles verzichtet hat. Zurück bleibt die Hoffnung, irgendetwas könnte besser werden, auch wenn das jedem rationalen Denken widerspricht. Hier kommt der Historiker ins Spiel. Er wird erklären, dass alles schon immer so war, dass es sogar vor kurzem noch schlimmer war und dass der Mensch nun einmal so ist, wie er ist, weil er sich so entwickelt hat. Der Historiker behauptet also allen Ernstes, dass es ein evolutionär soziokulturell gewachsenes Hotel-Aushalte-Gen gibt. Wäre es nur dieses Gen, könnte man damit noch leben. Aber der Historiker als beratender Experte argumentiert auch mit Börsen-Aushalte-Genen, mit Wachstums-Aushalte-Genen, mit Armuts-Aushalte-Genen usw.
Es gibt bestimmt viele Gründe, weiter zu investieren, um etwas zu einem guten Ende zu bringen. Aber es gibt auch einen völlig unberechtigten: Das bereits investierte zu berücksichtigen. Rationale Entscheidungen müssen das bereits investierte ignorieren. Und diese Investition kann auch das historisch belegte Bemühen sein. Wenn sich z. B. der Klassenkampf ausgelebt hat, sollte man ihn begraben. Genau so, wie man auch die Formel, Wachstum bedeute Wohlstand, begraben muss, auch wenn es früheren Industriellen noch so gut dabei ging. Aber sagen sie das mal einem Historiker in der Position eines beratenden Experten.
Ein dritter Experte ist der Logiker, der Stratege. Sehr einfache Gemüter generieren eine große Anhängerschaft. Zu solchen Strategen gehören Volker Kauder ebenso, wie Franz Müntefering. Es sind Menschen, die den Weg zu kennen scheinen, ihn unbeirrbar gehen und eine große Gefolgschaft um sich scharen. Doch immer ist dieser Weg einer, der dem Kleinhirn entspringt, über die Nasenwurzel in die Welt tritt und dann in gerader Linie bis zum bitteren Ende weitergeht.
Legte man diesen Menschen eine Zahlenreihe vor, wie 10 – 20 – 30 – 40 und fragte man sie nach den folgenden Zahlen, so führten sie diese Reihe sicherlich mit 50 – 60 – 70 fort. Sie meinen, die Regel erkannt zu haben und erkennen nicht, dass diese viel einfacher ist. Allen, die sich nun fragen, wie diese Regel lautet, sei verraten: Jede folgende Zahl muss größer sein, als die vorangegangene.
Die Reihe könnte also auch folgendermaßen lauten: 10 – 20 – 30 – 40 – 43 – 107 – 108. Darauf kommt der Experte aber nicht, da er meint, eine Regel gefunden zu haben, die genau so unflexibel ist, wie sein Denken. Leider ist die Welt aber sehr viel flexibler. Systeme gleichen einer Melange verschiedener Saucen, die ineinanderfließen.
Und nun zu einem Experten, der wegen seiner traurigen Gestalt nicht zu ausführlich behandelt werden soll: Das überall und zu jeder Zeit in sämtlichen Medien erscheinende Plappermaul. Wer zum Beispiel Tag für Tag Nachrichten spricht, Börsenkurse vorliest oder dass, was andere sagen, in sich aufsaugt nur um es dann dann wie auswendig von sich zu geben, gilt auch als Experte. „Fragen wir doch einmal Frau Kohl, wie sich die Facebook-Aktie entwickeln wird.“ Woher soll Frau Kohl das wissen? Sie liest doch nur die Börsenkurse, die jeder Fernsehzuschauer selbst lesen könnte, wenn Frau Kohl nicht vor der Kamera stünde. Und doch wird Frau Kohl zu Talkshows eingeladen, aber nicht der einfache des Lesens befähigte Fernsehzuschauer. Fast ist es so, als würde man annehmen, Günter Jauch kenne jede Antwort auf die Fragen, die ihm auf einem Display entgegenblinken. Wenn es so wäre, würde Günter Jauch vielleicht als Kandidat bei „wer wird Millionär“ den Hauptgewinn absahnen. Doch das hat er nicht nötig. Er lebt davon, dass man ihm mehr zutraut, als er wirlich kann.
Uwe Koch