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Die Horrorbilder auf amerikanischen Zigarettenpackungen, durch die Raucher demnächst aufgeschreckt werden sollen, zeigen eine von Teer geschwärzte Raucherlunge, einen Leichnam mit frischer Operationsnaht auf dem Brustkorb, und einen von Krebsgeschwüren übel entstellten Mund. Das sind wahrhaft schockierende Fotos, und sie könnten tatsächlich Wirkung zeigen, denn ein Bild schreckt weit mehr ab als tausend Worte und noch so viele abstrakte Warnungen. Kann etwas Vergleichbares auch iPhone -Junkies und SMS-Süchtige aus ihrem hypnotischen Zustand holen?
14.528 SMS- Botschaften in einem einzigen Monat
Im ngo-online Artikel „iphone 5 und andere - Segen oder Fluch“ war von einem Bericht der britische Regierungsbehörde Ofcom die Rede, nach dem 65 Prozent der Jugendlichen und immerhin noch 51 Prozent der britischen Erwachsenen ihr Smartphone auch dann benutzen, wenn sie mit Freunden oder Geschäftspartnern zusammen sind. Noch interessanter ist ein Ergebnis der britischen Hirnforschung, an dem die Forscher zeigen konnten, wie sich neue Technologien auf die Gehirnstruktur und -organisation auswirken können: die so genannte Daumenrepräsentanz in der Gehirnrinde ist bei Jugendlichen wesentlich stärker ausgeprägt als bei Erwachsenen, und auch deutlicher als bei den Jugendlichen aus der vorhergehenden Generation. Die Daumen werden ja auch öfter gebraucht: Je leistungsfähiger jede neue Smartphone-Generation wird, desto begeisterter werden unsere Smartphone-Junkies genau diese „Daumen-Steuerungsregion“ im Gehirn beanspruchen und trainieren.
Bei deutschen Jugendlichen wird das ganz bestimmt nicht anders sein. Diese Hirnregion vergrößert sich also, die immer stärker werdende Ausprägung und Effizienz dieser Kontrollinstanz lässt immer feinere, dichtere, auch immer zuverlässigere Vernetzungen entstehen, die immer schnellere Daumenbewegungen zulassen, wie man sie braucht, wenn man zum Beispiel den ganzen Tag mit größter Begeisterung SMS von seinem Handy verschickt, wie neulich ein amerikanisches Mädchen mit bis zu 14.528 SMS- Botschaften im Monat.
Begeisterung für das Suchtmittel
Nun ist ja der Erwerb besonderer Fähigkeiten und der dazu gehörigen besonderen Vernetzungen weder eine gesundheitliche Gefahr, noch beinhaltet er ein besonders hohes Suchtpotenzial. Raucher haben schließlich auch keine spezielle Vergrößerung ihrer Lungen- oder Geschmacksnervenrepräsentanz. Ein Raucher hat außerdem nicht deswegen Probleme damit, seine Selbstzerstörung aufzugeben, weil er nicht ausreichend Information über die Auswirkungen hätte. Der Göttinger Hirnforscher Professor Gerald Hüther bringt es ganz banal auf den Punkt: Das eigentliche Problem des Rauchers ist seine Haltung. Er kann sich nicht für seine Gesundheit und für den Wert seines eigenen Körpers begeistern. Und genau hier liegt die enorme Gefahr der iPhone-, SMS- und Computersucht: in der Begeisterung, in der Begeisterung für das Suchtmittel.
Professor Hüther hat bei seinen Forschungsarbeiten über die Veränderungsfähigkeit des menschlichen Gehirns herausgefunden, dass einige frühere Annahmen falsch sind: in den Anfängen der Hirnforschung hatte man das Gehirn mit einer Maschine verglichen, die umso leistungsfähiger wird, je mehr man sie mit Informationen füttert. Das ist nicht richtig. Bis vor Kurzem noch wurde das Gehirn dann mit einem Muskel verwechselt, der umso leistungsfähiger wird, je mehr man ihn bestimmte Funktionen üben lässt. Das ist ebenfalls nicht richtig.
Gehirne sind veränderbar
Gerald Hüther und andere zeitgenössische Wissenschaftler haben nun herausgefunden, wie das menschliche Gehirn sich nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen bis ins hohe Alter verändern lässt: Es kommt nicht darauf an, wie viel Input es bekommt, es kommt nicht einmal besonders darauf an, was sein Besitzer tut, es kommt vor allem darauf an, was er mit Begeisterung tut. Und das ist im Hinblick auf unsere iPhone-, SMS- und PC-süchtigen Jugendlichen die denkbar schlechteste Nachricht, denn sie bedienen ihre Android Smartphones nun einmal mit wachsender Begeisterung.
Neben der Vergrößerung der Daumenrepräsentanz ist eine zweite, sehr gut nachprüfbare Folge, dass sich durch intensive Beschäftigung mit dem Computer oder Smartphone die Körperrepräsentanzen verändern, was bedeutet, dass die Menschen ihren eigenen Körper nicht mehr spüren. Die Vernetzungen im Gehirn, die für die Wahrnehmung und Interpretation von Körpersignalen zuständig sind verkümmern letztendlich, wenn man körpereigene Signale immer weniger beachtet. Das wiederum findet seinen Ausdruck in gestörtem Hunger- und Durstgefühl, das Schlafbedürfnis sinkt – und das lässt sich schon heute bei vielen Jugendlichen feststellen; in Thailand und Malaysia sind bereits die ersten PC-abhängigen jungen Männer gleichsam vor ihren Computerspielen verhungert und vertrocknet. Sie konnten ihre eigenen Körperbedürfnisse nicht mehr wahrnehmen, und nicht nur ihre eigenen Körper, sondern auch ihre Seelen, ihre Bedürfnisse nach menschlicher Zuwendung und Gemeinschaft.
Selbstdoping für das eigene Gehirn
Die hoffnungsfrohe Botschaft von Professor Hüther ist diese: „Die moderne Hirnforschung … hat wissenschaftlich ergründet: Alles, was Menschen hilft, was sie einlädt, ermutigt und inspiriert, eine neue, andere Erfahrung zu machen als bisher, ist gut für das Hirn und damit gut für die Gemeinschaft. Menschen, denen es gelingt, ihr Gehirn noch einmal auf eine andere als die bisher gewohnte Weise zu benutzen, bekommen ein anderes Gehirn. Menschen, die sich noch einmal mit Begeisterung für etwas öffnen, was ihnen bisher verschlossen war, praktizieren dieses wunderbare Selbstdoping für das eigene Gehirn. Die Wissenschaft nennt diesen Prozess Potenzialentfaltung. Es ist das genaue Gegenteil von dem, was die meisten Menschen gegenwärtig betreiben: bloße Ressourcennutzung.“
Das ist nun die Aufgabe unserer postmodernen Informationsgesellschaft: sie muss der nachwachsenden Generation helfen, den Wert und die Begeisterung wieder zu entdecken, was es heißt, ein Mensch zu sein. John Eldredge, Autor des Bestsellers „Der ungezähmte Mann“ hat diesen Ausspruch geprägt: „Frage dich nicht, was die Welt braucht. Frage dich lieber, was dich lebendig macht, …. Denn die Welt braucht nichts so sehr wie Männer, die lebendig geworden sind.” Vielleicht erweitern wir dieses Postulat: Eltern, die lebendig geworden sind, Lehrer, Ausbilder, Dozenten … und Sozialarbeiter der Jugendämter – authentisch statt besserwisserisch, lebendig und herzlich statt moralisierend, liebevoll und konsequent statt genervt und resigniert. (gv)