Inhalt
Grausamkeit und Schläge sind auf Dauer nämlich nicht so unerträglich wie völlige Nichtbeachtung. Deshalb sorgt auch unser eigener Nachwuchs für negative Aufmerksamkeit, wenn gerade keine Liebe zu haben ist. Und je kleiner die Kinder sind, desto eher tun sie das. Auf der anderen Seite zeigen die Größeren mehr Erfindungsreichtum, die Elternliebe und deren Verlässlichkeit auszutesten und Missstände im Familiensystem aufzuzeigen.
Verzweifelte Alarmzeichen
Im Alter von acht Jahren schlug mein Erstgeborener Alarm, durch Stehlen und Beschädigungen in den Zimmern meiner Seminarteilnehmer an der Bonding-Therapie. Er machte seine Eltern durch eine Art verschlüsselten Hilferuf darauf aufmerksam, dass er das bevorstehende Auseinanderbrechen seiner Familie befürchtete. Er wusste von Schulkameraden, was das bedeutet. Auf meine Frage: „Warum machst du denn so was?“ antwortete er prompt: „Weil ihr euch so viel streitet, du und Mama. Ich hab Angst, dass ihr euch trennt.“
Bei kindlichen Alarmsignalen geht es natürlich nicht immer nur um die Elternbeziehung, sondern viel häufiger um das Eltern-Kind Verhältnis selbst. Und es gibt Kinder, die ihre seelischen Hilferufe noch weit dramatischer äußern. Manche ihrer Methoden überfordern besonders Väter und Mütter, die selbst unter einem Liebesdefizit leiden. Dabei ist es völlig egal, wie alt die Kinder sind. Wenn nun der verschlüsselte Hilferuf von den Eltern als bloßes Nerven oder gar als böse Absicht missdeutet wird, wenn mit Strafen statt mit Hinterfragen reagiert wird, endet der kindliche Lösungsversuch regelmäßig in einem Trauma, oder das Kind bezahlt im Extremfall für seine „Gestörtheit“ mit dem Leben.
Diese sich häufenden Fälle sprechen eine deutliche Sprache, die leider nur der verstehen kann, der sie gelernt hat: Aus Hilferufen mittels negativer Aufmerksamkeit entstehen schnell negative Zuwendungsmuster. Aus negativen Zuwendungsmustern entwickeln sich gestörte Beziehungen. In gestörten Beziehungen wachsen verstörte Kinder auf. Als gestörte Erwachsene ziehen sie selbst gestörte Kinder auf. Von diesem Teufelskreis bleibt niemand verschont, keine Frau und auch kein Mann, solange die zentralen Lebensfragen nicht positiv beantwortet sind. Diese Behauptung kann ich nach zwölf Jahren als Heilpraktiker für Bonding-Therapie sehr wohl belegen. Im Erwachsenenleben, in den Ehen, in den beruflichen Situationen werden sich diese Zuwendungsmuster fortsetzen, denn die verschlüsselten Hilferufe hören nicht mit der Volljährigkeit auf – ganz im Gegenteil. Burnout und Mobbing sind sehr anschauliche klassische Beispiele für unbewusste Hilferufe und negative Zuwendungsmuster. Leider ist das nur schwer zu durchschauen für jemand, der die tiefsten Bedürfnisse und die innersten Motivationen des Menschen nicht kennt. John Eldredge kennt sie, und „Der ungezähmte Mann“ zeigt sowohl die Fallen auf, in die ein Mann laufen kann, als auch die Auswege und Lösungen.
Verwundet von einem Verwundeten
Im ersten Teil meiner autobiografisch unterfütterten Buchrezension schrieb ich „Von Seite zu Seite … kam es mir immer mehr so vor, als würde mich John Eldredge von klein auf kennen, intensiv und intim wie kein anderer.“ Dieser Eindruck begann, als Eldredge das beschrieb, was er die Vaterwunde nennt. Die lebenswichtigen Fragen, die jeder Junge an seinen Vater hat, nämlich „habe ich das Zeug zu einem richtigen Mann, Papa, und stehst du hinter mir?“, waren auch von meinem Vater wieder und wieder auf erniedrigende Weise verneint worden. Die Initiation der Männlichkeit, die weder erkämpft noch verdient werden kann, sondern verliehen werden muss (John Eldredge) hatte er mir verwehrt – sicherlich ohne zu wissen was er tat. Doch selbst wenn er seitdem als Rollenbeispiel nicht mehr taugte, so hatte ich trotzdem in meiner Familie noch zwei weitere Vater-Modelle. Ihnen eiferte ich noch sehr lange nach, bis ich beschloss, selber zum Vorbild zu werden.
Eldredge beschreibt den Alkoholismus seines Vaters und die zerstörerischen Auswirkungen auf seine Kindheit, seine Jugend, sein Männerbild, und vor allem auf seine eigene Männlichkeit, und er schildert seine eigenen Schwierigkeiten, sich in seinem Leben als Mann zurechtzufinden. Auch wenn ein Junge seinen Vater und dessen vorgelebtes Beispiel noch so sehr ablehnt, er kann nicht anders als sich an ihm orientieren, ob er ihm nun nacheifert oder ob er alles ganz anders machen will – das Vorbild des Vaters ist immer der Ausgangspunkt.
Die Sünden der Väter
Die nächsten 20, 25 Jahre als junger Mann orientierte ich mich an meinen Großvätern, bis mir in meiner eigenen Bonding-Therapie die Augen aufgingen. Der eine, Firmengründer und Industriekäpitän, wurde mein vergöttertes Vorbild. Als ich siebzehn war, hätte mich sein Ende zwar hellhörig machen müssen, denn er beging in seiner Traumvilla am Lago Maggiore Selbstmord. Aber noch wollte ich werden wie er: reich, prominent, mächtig. Ich hatte lange nicht gewusst, wie sehr mein eigener Vater unter seinem Vater und dessen brutaler Unbarmherzigkeit zu leiden hatte, und dass ich von einem Verwundeten verwundet worden war. Ich glaubte einfach daran, dass ich meine ehrgeizigen Ziele mit seinen Eigenschaften und auch mit denen des anderen Großvaters verbinden könnte: Ganz und gar der Typ des Grandseigneur, geistreich, väterlich-jovial, humorvoll, charmant, hoch dekorierter Jagdflieger im Krieg, wechselte er später als Oberst der Luftwaffe in den diplomatischen Dienst. Ihn habe ich nicht nur verehrt, wie den ersten Großvater, ihn habe ich sogar geliebt. Genauso wollte auch ich werden, so weltoffen, so draufgängerisch. Bis er sich Anfang 1993 mit Zyankali umbrachte.
Die Gründe zum Selbstmord waren bei beiden Persönlichkeiten Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Altersdepression. Beide Lebensentwürfe waren im Grunde gescheitert. Beide Männer hatten - wie auch ihre Väter und Großväter – einen wichtigen Teil ihrer Männlichkeit tief in sich vergraben und eingesperrt: ihr Herz, ihre Gefühle, Sehnsüchte und Bedürfnisse, und beide waren ebenfalls von Verwundeten verwundet worden. Beide hatten ihr Lebensziel verfehlt. Höchstwahrscheinlich bewahrheitete sich hier eine bekannte Bibelstelle: „Die Sünden der Väter werden über die Söhne kommen, bis in die dritte und vierte Generation.“ Im Neuen Testament steht für das Wort „Sünde“ im griechischen Urtext interessanterweise „Hamartia“, was eigentlich Zielverfehlung bedeutet.
Lebenslügen entlarven
Nun ist dieser Vers Gott sei Dank gar nicht so dunkel und hoffnungslos, wie er im ersten Moment klingt. Sünden können schließlich korrigiert werden, durch Zugeben und besser machen. Zielverfehlung kann vermieden werden, durch Selbstwahrnehmung, durch Rückmeldungen von anderen, und durch eine veränderte Einstellung zum Leben, zu den Menschen, zu sich selbst. Und das ist eine der großen Stärken von „Der ungezähmte Mann“: Beim aufmerksamen Lesen kommt automatisch eine bewusste Selbstreflexion in Gang, die beim Leser eine Lebenslüge nach der anderen entlarvt, während John Eldredge in liebenswerter Offenheit seine eigenen Lebenslügen in ihrer Entstehung, in ihren Auswirkungen, aber auch in ihrer Auflösung beispielhaft beschreibt. Wie für John Eldredge und für mich als Rezensent, so gilt auch für die Leser dieses tief zu Herzen gehenden Buches: Der Preis für die Ehrlichkeit ist oft schmerzhafte Selbsterkenntnis, doch der Lohn ist eine ganz neue Freiheit und Lebendigkeit. Wie Mann zu dieser neuen Lebendigkeit kommt, sollen die kommenden Folgen von „Männerarbeit mit „Der ungezähmte Mann““ aufzeigen, und natürlich die Seminare, die ab Pfingsten 2012 endlich auch in Deutschland stattfinden – bleiben Sie dran!
„Frage dich nicht, was die Welt braucht. Frage dich lieber, was dich lebendig macht, …. Denn die Welt braucht nichts so sehr wie Männer, die lebendig geworden sind.” (John Eldredge)
Günter Voelk