Lernen mit Lust
Anna Vogl ist müde als sie nach Hause kommt, so ein ganzer Tag Schule, bis 16.00 Uhr, ist schon anstrengend. Aber heute hat sie viel geschafft. Der Vokabeltest in Französisch ist gut gelaufen und die Präsentation ihres Projekts über die menschliche Leber und deren Funktion hat ihr einen Kompetenzpunkt eingebracht. Besonders hat sie sich über die Herausgabe des Mathetests gefreut. Letzte Woche war sie noch unsicher bei der Multiplikation von Brüchen und der Division von Dezimalzahlen. Im Lernbüro hatte ihr ihre Freundin schon die Multiplikation erklärt, aber das andere Thema blieb ihr trotz Erklärung der Freundin schleierhaft. Anna geht auf ein Jenaplan Gymnasium, hier darf man die Lehrer auch außerhalb des Unterrichts um Rat und Unterstützung bitten. Sie ging also nochmals zu Herrn K. und ließ sich das Thema erklären, bis sie es wirklich verstanden hatte. So konnte sie alle Kompetenzpunkte in der Arbeit erreichen und hat sich vorgenommen gleich morgen mit Übungen zu dem neuen Thema zu beginnen.
Lernen mit Frust
Annas zwei Jahre ältere Schwester Hanna Vogl hat heute wieder um 13.00 Uhr Schule aus. Als die Haustür ins Schloss fällt rinnen ihr die Tränen herunter. Die ganze letzte Woche hatte sie sich auf die Matheschulaufgabe vorbereitet, sogar das Skiwochenende mit den Freunden hatte die Familie abgesagt, weil allen klar war, dass Hanna die Vorbereitungszeit für die Matheschulaufgabe brauchen würde. „Gerade noch 4“ steht jetzt unter der Schulaufgabe. Wie konnte das sein, sie hatte doch so viel gelernt? Hanna hatte Angst. Hanna hat eigentlich jeden Tag Angst in der Schule, manchmal hat sie solche Magenschmerzen, dass sie ihr Pausenbrot nicht aufessen kann. Hanna ist aber nicht die Leiterin eines großen Wirtschaftsunternehmens, nein Hanna ist 13-jährige Schülerin an einem staatlichen Gymnasium. Natürlich gibt es auch an ihrer Schule Lehrer, die eine Sache auch zweimal erklären, aber gern gesehen wird es nicht. Oft reagieren sie ungeduldig und genervt. Hanna weiß, auch sie stehen unter Druck. Da muss in immer kürzerer Zeit eine große Stofffülle vermittelt werden. Dabei kommt es vor, dass Lehrer, die ja natürlich Experten auf ihrem Gebiet sind, sich nur schwer in Schüler hinein versetzen können, die sich nicht so schnell in umfangreiche Stoffgebiete einarbeiten können.
Neue Werte schaffen
Ein Klima von Freude und Begeisterung könnte aber doch an jeder Schule entstehen. Wenn Schulleiter bei ihren morgendlichen E-mails nicht nur die neuesten Vorschriften und Änderungen des Kultusministeriums vorfinden würden, sondern ein Dankschreiben derselben Stelle für den hervorragenden Einsatz des pädagogischen Teams an der Schule. Vorstellbar wäre dann auch, dass sich Lehrer durch die Anerkennung ihrer vielfältigen Fähigkeiten gestärkt fühlen und in in ihren Schülern das breite Spektrum an Kompetenzen, die Kinder alle mitbringen, leichter erkennen können. Hanna könnte dann vielleicht auch als die Schülerin gesehen werden, die in Mathe noch Unterstützung braucht, darüber hinaus aber auch als sportlich sehr begabtes Mädchen mit hoher Sozialkompetenz. Unter diesen Umständen könnten sich Schüler anders fühlen und benehmen. Auch Hanna wäre in der Lage ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln, wenn ihre persönlichen Leistungen auf allen Gebieten gleich gewichtet bewertet würden. Die Erfahrung zeigt doch auch, dass eine hohe soziale Kompetenz, wie auch eine hohe Vielseitigkeit im Berufsleben später eine große Rolle spielt.
Veränderung lebt vom Tun
Anna und Hanna wissen beide, dass Mathe eine ihrer Kompetenzen ist, die sie noch weiter stärken müssen. Anna erlebt aber darüber hinaus innerhalb ihrer Schule täglich Lob und Anerkennung für ihre vielen anderen Fähigkeiten, die sie außerhalb des schulischen Bewertungssystems einbringt, z.B. ihr künstlerisches Geschick und ihr Organisationstalent.
Viele Eigenschaften des achtenden und wertschätzenden Umgangs miteinander ließen sich an jeder Schule praktizieren, dazu bedarf es nicht unbedingt eines reformpädagogischen Konzepts. Es bedarf aber sicher der eigenen kritischen Selbstreflektion und des Überdenkens althergebrachter, oftmals eingefahrener Verhaltensweisen und Bewertungskriterien.
„Aber wegen einer 4 in Mathe brauchen sie doch Ihre Tochter nicht von der Schule zu nehmen!“, hörten das Ehepaar Vogl den Kommentar der Schulleitung, als sie ihre Tochter im Februar diesen Jahres von der Schule abmeldeten. Dass es überhaupt nicht um die 4 in Mathe ging, konnte dort leider keiner verstehen. Nach den nächsten Ferien geht Hanna zu ihrer Schwester Anna auf das Jenaplan Gymnasium. www.jenaplangymnasium.de (cgs)
Christiane Gottschalk-Steinbauer