Depressives Deutschland-System macht krank
Für die Auswertung analysierte die BARMER GEK die Daten mehrerer Millionen Versicherter aus dem vergangenen Jahr. Die aktuellen Auswertungen des Krankenkassenreports der Barmer GEK 2011 zeigten auf, dass sich die Zahl der psychisch Erkrankten in den letzten 20 Jahren um 129 Prozent erhöht hat. 1990 mussten nur ca. 3,7 von 1.000 Patienten wegen seelischer Störungen, zum Beispiel wegen eines Burnout-Syndroms in einer Klinik behandelt werden. Im Jahr 2010 waren es bereits 8,5 von 1.000 Patienten. Seit dem Jahr 2000 stieg die Zahl der Erkrankten um 117 Prozent. Der stellvertretende Vorstandvorsitzende der Barmer GEK Rolf-Ulrich Schlenker sagte, dass psychische Störungen eine neue, aber verdeckte Volkskrankheit sind.
Rolf-Ulrich Schlenker stellvertretender Vorstandsvorsitzende der Barmer GEK, hob die besonders hohe Entwicklung der psychischen Störungen hervor. Diese Erkrankungen verursachen mit einem Anteil von 17,1 Prozent mittlerweile die meisten Krankenhaustage und stellten zugleich in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit 5,5 Milliarden Euro einen erheblichen Kostenblock dar.
Auch eine Analyse des WIdO (Wissenschaftlichen Instituts der AOK) belegt, dass der Anstieg von psychischen Erkrankungen sich unverändert fortsetzt.
Fast jeder zehnte Ausfalltag beruhte 2010 der AOK PatientInnen auf einer Psychischen Erkrankung Zwischen 2004 und 2010 sind die Krankheitstage wegen Burnout (Ausgebrannt sein) um das Neunfache angestiegen. Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des WIdO sagte: "Zeitdruck und Stress nehmen offenbar zu, und die Gefahr besteht, dass die Menschen von zwei Seiten gleichzeitig ausbrennen, vom Beruf her und durch familiäre Belastungen". Die Fehlzeiten AOK Versicherter aufgrund psychischer Erkrankungen sind von 1999 bis 2010 um nahezu 80 Prozent angestiegen, dass führt zu langen Ausfallzeiten der betroffenen Patienten (mit 23,4 Tagen je Patient, doppelt so langer Dauer wie der Durchschnitt mit 11,6 Tagen je Fall im Jahr 2010).
Auslösungsfaktoren (nicht gewichtet) psychischer Erkrankungen können sein:
- Mobbing am Arbeitsplatz durch Kollegen,
- Mobbing am Arbeitsplatz durch Arbeitgeber
- Angst um den Arbeitsplatz
- Immer höhere Arbeitsanforderungen,
- Wenig Lob und Anerkennung
- Dissens von Leistung und Bezahlung
- geringer Entscheidungsspielraum,
- geringe soziale Unterstützung
- Geringe Arbeitszufriedenheit
- Monotonie im Arbeitsablauf
- Rollenunklarheit und –konflikte am Arbeitsplatz,
- schlechte Kommunikation
- großes Ungleichgewicht zwischen Anstrengung und Belohnung,
- Erlebtes Fehlen von Unternehmensgerechtigkeit und Führungsstile,
- Hartz-IV
- finanziell prekäre Lebenslagen
- Einschränkung der Teilhabe am soziokulturellem und politischem Leben
- kriegsbedingte posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bzw. Heimkehrertrauma
Ich möchte nun auf psychische Belastungen der Menschen eingehen, die in finanziell prekären Lebenslagen leben, weil ich gerade in diesem Bereich in meiner Sozialsprechstunde viele Erfahrungen gesammelt habe.
Hier drei Fallbeispiele aus meiner Sozialsprechstunde, die verdeutlichen, dass unser gesellschaftliches System der Ausgrenzung die Menschen psychisch belastet und krank macht:
Beispiel I
Da ist die junge Mutti mit ihren sehr mobilen zweijährigen Zwillingen. Ihr Lebensgefährte ist schon längere Zeit auf Montage. Er kommt Freitagnacht nach Hause und muss schon Sonntagnacht wieder zu seinem Arbeitsplatz fahren, jede Fahrt 350 km.
Das Familienleben reduziert sich auf das Wochenende, doch nicht nur das, auch das bewusste Erleben der Entwicklung seiner Kinder und deren Erziehung und das Zusammensein mit seiner Lebensgefährtin ist eben knapp bemessen. Da sind Probleme vorprogrammiert.
Der Mann hat eine Lohnerhöhung bekommen, darauf hin wurde der jungen Mutti die Regelleistung Hartz-IV gestrichen. Von einem Tag auf den anderen waren die Kinder und sie nicht mehr krankenversichert. Der Vater hat seine Kinder nun in seiner Krankenkasse familienversichert. Eine Lösung für die junge Frau zu finden, ist schon schwieriger. Sie muss sich nun freiwillig selbstständig in der GKV versichern für ca. 145 Euro im Monat. Ihre derzeitige Krankenkasse nimmt einen Zusatzbeitrag (Kopfpauschale) und erkennt die Sonderkündigung nicht an. Da wird es noch einen Kampf geben, den wir hoffentlich gewinnen werden.
Die junge Frau ist nervlich derart angespannt, dass ich immer das Gefühl habe, sie sitzt auf einem Pulverfass und irgendwann explodiert es. Sie macht sich Vorwürfe, dass sie nichts zum Lebensunterhalt beitragen kann, sie fühlt sich abhängig, weil ihr Lebensgefährte nun finanziell den Familienhaushalt allein bestreitet und auch ihre Krankenversicherung bezahlt. Und sie fühlt sich im Alltag total überlastet, weil auf ihr allein jegliche Last der Problembewältigung liegt.
Sie ist nicht mehr ausgeglichen, die Kinder merken das natürlich. Das hat zur Folge, dass die Kinder ihren Ruhepool nicht mehr haben und ziemlich wild sind.
Sie merken liebe Leserinnen und Leser, worauf ich hinaus will- dass ist eine Spirale, ein Teufelskreis nervlicher Belastungen. Die junge Frau wollte den Teufelskreis durchbrechen und zur Mutter/Kind-Kur fahren. Einmal 14 Tage keine Probleme haben, neue Kraft tanken. Doch weit gefehlt, die Kur für die Kinder ist kostenlos, klar, doch die Mutter zahlt pro Tag 10,-Euro zu. Dass sind 140,-Euro für 14 Tage. Die Mutter/Kind-Kur ist gestrichen. Burnout-Syndrom wahrscheinlich nicht zu vermeiden.
Beispiel II
Eine junge hochschwangere Frau, 25 Jahre hat 3 Wochen vor Geburtstermin ihres Kindes noch keine Zusage vom Jobcenter für die Erstausstattung des Babys und den Umzug in eine eigene Wohnung verbunden mit der Erstausstattung für die Wohnung.
Das Telefon im Büro läuft heiß. Sie kann zum Jobcenter fahren, sich die Umzugsbestätigung abholen. Nach einer Stunde ist sie wieder bei mir im Büro. Erstausstattung für Wohnung nur gebraucht kaufen- und vor Genehmigung jeweils immer ein Kostenangebot beim Jobcenter abgeben. Die Frau ist völlig aufgelöst – fast am Ende ihrer Kraft. Einen Kinderwagen aus einer Spende habe ich noch im Hinterzimmer. Die werdende Mutti fällt mir um den Hals, weint, ist fassungslos, erleichtert.
Das Telefon im Büro läuft wieder heiß nach einer Woche, die Genehmigungen der Kostenangebote sind noch nicht erfolgt. Wir bekommen es hin, es geht auch so. Drei Tage vor Geburtsbeginn ist die Wohnung fertig eingerichtet, Babyerstausstattung vorhanden. Werdende Mutti körperlich und psychisch am Ende ihrer Kraft. Das waren sicher nicht die letzten Probleme in ihrer finanziell angespannten Lebenslage. Und wie wird ein ungeborenes Kind die psychischen Schläge, die es doch schon spürt, verarbeiten, wenn es geboren wurde?
Beispiel III
Ein Mann 50 Jahre alt, kommt völlig aufgelöst in mein Büro. Er ist in einer Maßnahme und begreift die Welt nicht mehr. Die Betroffenen werden von den Dozenten behandelt wie Kinder. Sie sollen Blätter sammeln und aufkleben und die Namen der Blätter darunter setzen. Sie sollen ihre Gefühle zeichnen- das ist nicht jedermanns Sache. Und ihnen wird immer wieder gesagt, dass sie alle lernen müssen sich wieder an einen ordentlichen Tagesrhythmus zu gewöhnen und dass sie lernen müssen zu arbeiten. Der Mann gehört nicht da hin, ich kenne ihn schon sechs Jahre. Er sagt, er macht das Leben so nicht mehr mit. Sie sollen ihm endlich Arbeit geben. Er würde jede Arbeit annehmen. Er will raus aus Hartz-IV- sonst bringt er sich um. Das Leben ist nichts mehr wert für ihn, weil er nichts mehr wert ist, sagt er. Er braucht die Bestätigung, gebraucht zu werden, er braucht die Bestätigung für sich selbst. Ich gebe ihm meine private Telefonnummer- er soll mich anrufen, wenn er es nicht mehr aushält. Er nutzt oft die Chance- dann wenn er mit mir gesprochen hat- geht es ihm besser, sagt er. Und wenn sich sein Leben aber nicht ändert und er keine Arbeit bekommt, dann mache er Schluss, betont er immer wieder.
Liebe Leserinnen und Leser, Sie sehen an den Beispielen, dass die psychischen Ängste und Depressionen im Verborgenen blühen und sich entwickeln. Und es ist nicht leicht zu helfen und zu stabilisieren-ohne dass man als Helfer davon berührt wird und auch was mit nach Hause nimmt.
Viele Betroffene kommen mit Briefen vom Jobcenter oder anderen Behörden zu mir, die noch nicht geöffnet sind- sie haben Angst vor dem Sachverhalt des Inhaltes der Briefe. Nur mit mir gemeinsam wollen sie den Inhalt der Briefe lesen. Andere Betroffene werden schon vom sozial-medizinischen Dienst betreut, weil sie psychisch nicht mehr in der Lage sind, ihren Alltag mit all seinen Schwierigkeiten allein zu meistern.
Die Brutalität der kapitalistischen Gesellschaft nimmt zu, die seelische Verkümmerung und Verwahrlosung einer breiten Masse wird von der Gesellschaft, von Politikern, Ämtern und Institutionen geduldet und in Kauf genommen.
Die Menschen schreien oft stumm, sie ziehen sich lieber in sich - ins Private zurück.
Unsere gesellschaftliche Situation ist derzeit so gestaltet, dass ein öffentliches Nachdenken über alternative Gesellschaftsmodelle fehlt. Vielen Menschen geht es psychisch schlechter als je zu vor und dennoch gibt es kein oder kaum Interesse eines gesellschaftlichen Diskurses für eine bessere Gesellschaft. Es ist schon im großem Maß Lethargie, bei großem Leidensdruck vieler Menschen.
Und DIE LINKE, die die Menschen 2004 schon einmal aufgerüttelt hat, dreht sich seit ziemlich langer Zeit um sich selbst. Die Menschen für die sich DIE LINKE eigentlich einsetzt, sie scheinen vergessen. Oder man entsinnt sich derer wieder, wenn Wahlen anstehen. DIE LINKE ist angekommen in der Mitte der kapitalistischen Gesellschaft. Begehrlichkeiten und der Ausbau der eigenen Machtpositionen stehen im Vordergrund. Und wo bleiben die Menschen ?
Wir brauchen eine neue, menschliche und ökologische Art des Lebens und Wirtschaftens. Wir brauchen eine Gesellschaft, in welcher die Menschen im Mittelpunkt stehen und nicht das Kapital. Wir brauchen eine Gesellschaft mit gesetzlich verankerten flächendeckenden Mindestlohn von mindestens 10,-Euro, mit einer solidarischen BürgerInnenvversicherung, in die alle Menschen und alle Einkommensarten einbezogen werden und jeder Mensch die medizinisch hochwertigen Leistungen erhält, die er braucht. Wir brauchen eine Gesellschaft, in der eine ganzheitliche Bildung für alle im Mittelpunkt steht und in der jedes Kind optimal gefördert wird. Wir brauchen eine Gesellschaft mit einer Grundsicherung, von der man exitenzsichernd leben kann und eine Gesellschaft ohne Niedriglohnsektor und Hartz -IV. Wir brauchen eine Gesellschaft in der die Würde eines jeden Menschen wirklich unantastbar ist und wir gleiche Chancen für alle Bürgerinnen und Bürger in allen Lebensbereichen haben werden.
Heidelinde Penndorf