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Soziale Herkunft entscheidet über den Kompetenzerwerb
An deutschen Schulen ist die soziale Herkunft in besonderem Maße entscheidend für die Erlangung eines hohen Kompetenzniveaus, wie die PISA- (Programme for International Student Assessment) und IGLU- (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) Studien offenbarten. Kinder aus sozial schwachen Familien schneiden wesentlich schlechter an hiesigen Schulen ab als welche aus der Mittel- und Oberschicht. Entscheidende Faktoren für den Erfolg von Kindern in der Schule sind der sozioökonomische Status und das Bildungsniveau der Eltern. Viele Schüler aus bildungsfernen Schichten besuchen später eine Hauptschule, während Kinder aus der Mittel- und Oberschicht zumeist eine höhere Schulform besuchen.
Selbst wenn Schüler aus sozial schwachen Familien dieselben Kompetenzen aufweisen wie Schüler aus der Mittel- und Oberklasse, erhalten diese seltener die Gymnasialempfehlung. Pädagogen entscheiden also mehr oder weniger unterbewusst nach subjektiven Kriterien, welcher Schüler befähigt ist, ein Gymnasium zu besuchen. Vielen Lehrern scheint es wesentlich schwerer zu fallen einem Lernenden, dessen Eltern ihrem Kind immer wieder verantwortungsvoll über die Schulter schauen, dem Bildungsbürgertum zugehörig sind und sich vielleicht zusätzlich im Schulalltag engagieren, eine höhere Schulempfehlung abzusprechen als einem Schüler aus einer bildungsfernen Familie.
Homogene oder heterogene Lerngruppen
Das deutsche Schulsystem, welches sich nach der Grundschule in die Haupt- und Realschule sowie in das Gymnasium aufgliedert, ist darauf ausgelegt, dass in möglichst homogenen Lerngruppen gearbeitet wird. Man geht davon aus, dass Lerngruppen, in denen Schüler einen ähnlichen Leistungsstand aufweisen, einen größeren Lernerfolg erzielen als heterogene Gruppen. Die Dreigliederung des deutschen Schulsystems und die damit einhergehenden Homogenisierungsbestrebungen bedeuten auch eine soziale Segregation sowie Klassifizierung entlang sozialer Linien, da der Kompetenzerwerb in der Schule mit der sozialen Herkunft korreliert.
Allerdings haben komparative Analysen mit Bildungssystemen anderer Länder ergeben, dass Systeme, bei denen nicht bereits nach dem vierten Schuljahr selektiert wird, und dementsprechend die Lerngruppen längere Zeit heterogen bleiben, insgesamt der Lernerfolg größer ist.
Eine Verbesserung im Hinblick auf Heterogenitätssteigerungen in Lerngruppen stellt das zweigliedrige Schulsystem dar, dessen Einführung beispielsweise in Niedersachsen beschlossen wurde. Insgesamt dürfte diese Zweigliederung das Kompetenzniveau und die Chancengleichheit der Lernenden erhöhen, wenngleich ein eingliedriges Schulsystem, bei dem erst zum Abitur hin differenziert wird, größere Lernerfolge verspricht.
Das Lernumfeld ist ein entscheidender Faktor für den Lernerfolg. Kommen Schüler an eine niedrigere Schulform erlangen sie bei gleicher Ausgangskompetenz im Vergleich zu anderen ein geringeres Kompetenzniveau als Lernende, die eine höhere Schule besuchen.
Verbesserungspotentiale im deutschen Schulsystem
Um soziale Disparitäten des Kompetenzerwerbs und der Bildungsbeteiligung zu reduzieren, sollten Maßnahmen, die Schüler fördern, früh einsetzen. So können kumulative Auswirkungen gering gehalten werden. Ausgeprägte Unterschiede sozialer Disparitäten in den Leistungsniveaus lassen sich bereits am Ende der vierten Klasse erkennen.
Da das Schulsystem in seinen Strukturen rigide und selektiv ist, trägt es im besonderen Maße dazu bei, dass soziale Ungleichheiten dauerhaft bestehen bleiben als sei dies normbedingt. Auch zählt die Prädisposition immer noch zu den gern gewählten Argumenten, um die Reproduktion der Sozialstruktur zu begründen. Derartige Aussagen führen letztlich zu Vorverurteilungen und begünstigen Lernschwierigkeiten und Misserfolge der Schüler, da Lehrer diese als unumgängliche Tatsachen interpretieren. Durch das Inkorporieren solcher Argumentationsmuster ist die Gefahr groß, dass der gemeinhin wohlwollende Pädagoge resignierend dem vermeintlich unvermeidlich begrenzten Kompetenzerwerb der mangelnden Intelligenz seines Schülers zuschreibt.
Schenkt man den Ergebnissen der PISA-Studien Glauben, soll von 2000 bis 2009 eine Verringerung des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und erlangtem Kompetenzniveau erzielt worden sein. Allerdings hat sich in den vergangenen zehn Jahren wenig verändert, das auf eine Verbesserung dieses Kausalzusammenhangs schließen lässt. Nicht undenkbar ist, dass, nach dem schlechten Abschneiden bei PISA 2000 und 2003, im Schulunterricht gezielt „pisatypische Aufgaben“ trainiert wurden und es somit zu einer Verbesserung der Ergebnisse bei den nachfolgenden PISA-Studien kam. Es wäre ein vorschneller Umkehrschluss anzunehmen, dass ein verbessertes Abschneiden von Kindern aus sozial schwachen Verhältnissen bei PISA gleichbedeutend mit einer Abnahme des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und erreichten Kompetenzerwerb sei.
In dem Maße wie die Lehrer versuchen, ihre Schüler im Unterricht gleich zu behandeln, benachteiligen sie letztlich Kinder aus der Arbeiterschicht und versetzen Schüler obendrein in den Glauben, dass sie für ihre eigene Leistungsschwäche selbst verantwortlich sind. Die Gleichbehandlung ist eine latente Diskriminierung der Schüler aus Unterschichtmilieus.
Um die Reproduktion von Sozialstrukturen im Bildungssystem zu verringern, sind kleine heterogene Lerngruppen, eine gezielte früh einsetzende individuelle Förderung, stärkere Binnendifferenzierung im Unterricht und mehr Schulpersonal entscheidend. Auch sollte die Verteilungsstruktur der Schüler innerhalb eines Klassenverbands ausgewogen sein, so dass die gesellschaftlichen Verhältnisse im Klassenraum wieder zu finden sind. Außerdem scheint die Einstellung des Pädagogen hinsichtlich der vermeintlichen Kausalität von sozialer Schichtzugehörigkeit eines Schülers und den damit verbundenen Chancen des Kompetenzerwerbs ein wesentlicher Faktor der Reproduktion von Sozialstrukturen zu sein.