Etwa hundert Meter vor mir qualmt etwas. Einige, zumeist Jugendliche, haben Reifen auf die Fahrbahn der insgesamt 4-spurigen Rama-IV-Road gerollt und nach eigenen Angaben auch mittels Benzin zum Brennen gebracht. Ich nähere mich weiter dieser Stelle. Obwohl hier keine direkte Absperrung nach oben über die Fußgängerbrücke ist, warnen mich die Umstehenden, es seien überall Scharfschützen versteckt, die auf jedes sich bewegende Ziel feuern, vor allem auf Personen auf den Brücken. Sogar auf Dächern würden einige Schützen sich versteckt halten. Ach, jetzt muss ich auch noch die SD-Karte für meine Minikamera auswechseln! Was war das? Bumm, es hat mörderisch gekracht. Der Tank des hinter den brennenden Reifen abgestellten Busses ist explodiert. Nun entwickelt sich eine riesige Rauchwolke. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist das Bild ähnlich. Zerstörte Fahrzeuge, aufsteigender Qualm, verstreute und teilweise brennende Reifen.
Hm, was wird hier eigentlich gespielt? Heee, wo bin ich denn? Im falschen Film gelandet oder was? Oh Gott! Es knattert, hört sich an wie Gewehrschüsse. Alle springen schnurstracks in Deckung. Mein Körper reagiert zum Glück schneller als meine Sinne. Ehe ich es so recht begreife, hocke ich hinter einer Hausecke genau wie die meisten Leute um mich herum: Einige wackere Herren, Jugendliche, Passanten oder die letzte Bastion der Anwohner.
Da kommt einer angestürzt: „ Gerade haben sie einen abgeknallt, einfach zwischen die Augen geschossen. Das war es dann wohl … Vorsicht, die Verrückten sind überall. Jeden von uns kann es erwischen …“ Die Rettungskräfte verschiedenster Organisationen und Krankenhäuser stehen weiter abseits in Richtung Sicherheit. Es fragt sich nur, wie sollen Verwundete aus dem laufend wieder aufflammenden Gewehrfeuer gerettet werden?
Ich sehe mich etwas weiter um, ins Karree hinein, und finde ein Geisterviertel vor. Eine total desorientierte Frau wankt über einen Platz, hinter dem sich einige ausgebrannte Häuser aneinander reihen. Hier wird es mir unheimlich. Ist es die Totenstille nach einem alles vernichtenden Sturm oder die Ruhe vor dem Sturm? Die allerletzten Bewohner dieses Karrees sind gerade dabei, mit ihrem Hab und Gut zu verduften auf unbestimmte Zeit.
Ist das hier das Bangkok, das ich schon seit über zehn Jahren kenne und mittlerweile auch lieb gewonnen habe? Wie soll ich hier aus dieser Hölle herauskommen? Der Rückweg über das Ufer zum Boot hin ist durch überall aufflammende Feuer und durch Kämpfe zwischen Rothemden aus dem Norden Thailands und Armeeeinheiten abgeschnitten. Über die bisher sehr schöne Einkaufsmeile mitsamt der Hochstraße für Fußgänger geht es auch nicht mehr. Der hübsche Lumpini-Park ist nicht mehr passierbar. Früher haben da die Chinesen Qui Gong und ihre Lieder und Tänze geübt. Damit ist es vorläufig aus. Viele Gebäude und Einrichtungen sind zerstört, müssen erst wieder aufgebaut werden. Warum erst aufbauen, um es dann zu zerstören? Ist die Menschheit denn total bekloppt? Wie bezeichnet man einen, der stets ein Bild malt und es gleich wieder zerreißt?
Eigenartig: Genau in diesen Stunden empfinde ich rein gar nichts, ich funktioniere nur, konzentriere mich lediglich darauf, was als Nächstes geschehen wird. Muss ich mich ducken oder gar woanders hinrennen? Was wird aus dem Jungen da, der sich in Schlängellauf uns nähert? Kein Schuss fällt. Glück gehabt. Aber warum musste dieser Junge ins Schussfeld rennen? War es eine Art Mutprobe, vielleicht auch von vielen anderen? Wer weiß. Ich werde es wohl nie erfahren.
Ich weiß plötzlich nur eins: Meine Beine in die Hand nehmen und weg, nichts als weg! Schnellstens ergreife ich mein Gepäck in der Pension und setze mich sogleich in den nächsten Bus Richtung Flughafen. Vom Highway aus sind überall über die Stadt verteilt Rauchschwaden zu erkennen. Eine besonders starke Rauchwolke entwickelt sich genau von meinem Lieblingseinkaufszentrum her. Wie lange wird es wohl dauern, um all diese sehr geschmackvollen Gebäude wieder in neuem Glanz entstehen zu lassen?
Überall sehe ich auf den zahlreichen Straßen sich dahinwälzende Blechkolonnen. Wer es irgendwie schafft und sich leisten kann, verschwindet Richtung Stadtausgang. Vielerorts kommt der Verkehr zum Erliegen. Ich habe mit dem Bus noch Glück und erreiche vor dem totalen Verkehrskollaps den Flughafen. Ade, geliebtes Bangkok, lecke deine Wunden gut und erhole dich von diesen Strapazen, werde schöner als je zuvor! Krungtep, pop gan mai! Auf Wiedersehen.
Ein Halbes Jahr später:
In banger Erwartung nähere ich mich meinem Ziel: Bangkok. Wie wird es nun aussehen? Liegt es immer noch in Schutt und Asche? Was vor allem ist aus dem wunderschönen Geschäftszentrum geworden?
Im Ausländerviertel rund um die Khao San Road ist nicht die Spur davon zu entdecken, was im Mai los war. Gleich am Tag nach der Ankunft suche ich das hypermoderne Geschäftszentrum auf. Ich bin erstaunt, wie rührig die Thais die Zeugnisse aus den Tagen der Kämpfe zwischen Rothemden und regierungstreuer Armee weggewischt haben. Nur noch hier und da sieht das aufmerksame Auge einige Brandmale. An meinem ehemaligen Standort nahe Lumpinipark und Schlangenfarm des Roten Kreuzes warten allerdings noch einige Ruinen auf die Beseitigung der letzten Kampfesspuren. Die Stellen an den Brücken sind größtenteils übertüncht worden.
Die Bewohner der Stadt reagieren abwehrend auf Fragen bezüglich der Kämpfe. Nein, wahrscheinlich habe ich das alles nur geträumt!
Zum Hintergrund:
Der ehemalige, 2006 durch einen Militärputsch gestürzte Premierminister hatte geschickt seine Anhänger um sich geschart. Er versuchte mit allen Mitteln die verloren gegangene Macht wieder an sich zu reißen. Thaksin, der Milliardär, tat in seiner Amtszeit dem Anschein nach so Einiges für die Armen. Zum Beispiel führte er eine kostenlose Grundversorgung im Gesundheitswesen ein oder gewährte Kredite. Tatsächlich bereicherte er sich durch Wucherzinsen für „großzügig“ an kleine Leute gewährte Kredite: 50 bis 100 Prozent Zins im Jahr. Thailand ist insgesamt relativ reich, der Tourismus macht nur vier bis sechs Prozent des BIP aus. Die Leute bekommen keine Bankkredite, wenn sie Autos und dergleichen kaufen wollen. Daher haben Kredithaie ein leichtes Spiel. Wer in Schwierigkeiten geriet, dem gab Thaksin Aufschub, wenn er für die Roten eintrat. Durch solcherlei Maßnahmen gewann Thaksin große Teile der Bevölkerung der weniger entwickelten Gebiete im Norden und Nordosten für sich und somit mehr Wählerstimmen.
Es hieß, dass die in Bangkok einmarschierten Rothemden durch Thaksin und seine Hintermänner gestützt wurden. Wie sollten auch sonst arme Menschen die für sie recht teuren Transportpreise bezahlen und obendrein den Aufenthalt in Bangkok? Wer finanzierte ihre Ausrüstung, sogar Schusswaffen?
2008 war es schon zu beträchtlichen Demonstrationen der Gelben, der Königsnahen, in den Straßen um das Parlament gekommen. Es war eine friedliche Demo gewesen, die sich bis zum Flughafen ausgeweitet hatte. Auch viele Muslime aus den südlichen Teilen waren gekommen. Sie wandten sich gegen die damalige Militärregierung, die nur als langer Arm der 2006 gestürzten Thaksin- Regierung fungierte. Dabei kam es teilweise schon zu ernsthaften Übergriffen auf die Demonstranten, wobei einige Sprengkörper direkt im Gelben Lager gelandet waren.
Im März 2010, kurz nachdem die jetzige Regierung etwa 1,4 Mrd. Dollar aus Thaksins Vermögen eingefroren hatte, knallte die erste Bombe vor einer Bank in Bangkoker Geschäftsviertel. Damit war der Start gegeben für den Einmarsch der Rothemden. Man setzte auf Terror.
Die Übergangsregierung setzte einen Moslem als Innenminister ein in der Hoffnung, dass der jahrzehntelange Konflikt in Südthailand beigelegt werden könnte. Etwa 10 Prozent der Thais sind Moslems. Im Süden des Landes wie auch in Bangkok hat sich nun die Lage entspannt, ein friedliches Miteinander zwischen Moslems und Buddhisten ist wieder möglich.
Bilanz der Bangkoker Unruhen im Frühjahr 2010: 89 (?) Tote und über 1400 Verletzte.
Heute:
Nach Neuformierung wechselte das Lager der Rothemden seine Strategie. Nun demonstrierten die Rothemden in geschlossener, aber dieses Mal friedlicher, ca. 10.000 Mann starken Front gegen die Regierung. Angekündigt wurden zwei Großdemos pro Monat in Bangkok. Auf diese Weise blockieren zigtausende Demonstranten den Verkehr und das öffentliche Leben, um so eine politische Wirkung zu erzeugen. Am 25.01. 2011 soll eine groß angelegte Protestaktion im Herzen der Hauptstadt stattfinden, ungeachtet des von der Regierung seit 22.Dezember 2010 ausgerufenen Ausnahmezustands.
Zu Thaksin:
Mit geschätzten 10 bis 15 Milliarden US Dollar (ja, nicht Millionen, sondern Milliarden) gehört er mit zu den Reichsten der Kugel. Neben Korruption sollen seine Einnahmen aus dem Drogenhandel stammen, denn er kontrollierte zum Teil das Rotlichtmilieu in Thailand und im Ausland. Mit seinem Vermögen soll sich Thaksin weltweit auch in Medien eingekauft haben, womöglich sogar in Deutschland. Er war 2008 monatelang in Deutschland im "Exil". Ein Milliardär als Asylant? Was wahrscheinlich die Wenigsten wissen: Thailand beteiligte sich sogar mit Truppen im Irakkrieg. So konnte Thaksin auf Rückendeckung durch die USA hoffen.