Überblick
“Gestatten - mein Name ist SALMIAK”, sagte der Geist und entwich aus der Flasche
Nachdem ich heute morgen in der Zeitung von der angeblichen E.ON-Entwicklung einer neuen Entstickungs-Technik mit einem Ammoniak-Wasser-Gemisch (auch Salmiakgeist genannt) im Kühlturmbereich las (!!!) und dass Datteln4 dadurch “Mit neuer Technik doch noch ans Netz ?” gelangen könnte, da habe ich erst einmal auf den Kalender geschaut, um mir auch sicher zu sein, dass heute nicht der 1. April ist. Heute ist Freitag, der 05. November 2010 und Schalke spielt heute abend. Willkommen in der Realität.
In diesen Halloween-Tagen ist eher die Zeit für Geister. Aber dazu gleich mehr.
Ich hatte in den letzten Tagen bereits das zweifelhafte Vergnügen, eine auffällige Häufung von ´geistigen Sprengsätzen´ bzgl. des Kraftwerk-Schwarzbaus festzustellen. Jetzt bin ich einen Sprengsatz weiter. Jetzt muss schon eine “Geisterlösung” (im wahrsten Sinne des Wortes) bemüht werden. Weitere Steigerungen sind nicht auszuschliessen.
Worum geht es ?
Das Problem ist, dass das - zur Entstickung der Rauchgase üblicherweise eingesetzte - gasförmige Ammoniak (NH3) äußerst giftig/gefährlich für Mensch und Umwelt ist, sodass ganz besondere Sicherheitsmaßnahmen und -mindestabstände dafür einzuhalten sind. Nach dem Sevesounglück vom 10. Juli 1976, bei dem hochgiftiges Dioxin austrat, ist die Seveso-II-Richtlinie vom 9. Dezember 1996 benannt, die auch für Datteln4 zur Anwendung kommt.
Damit Datteln4 nicht mehr unter die Seveso II-Richtlinie fällt, soll laut Tagespresse das ´Gefahrgut Ammoniak durch ein Wasser-Ammoniak-Gemisch ersetzt werden, welches erst am Kühlturm erhitzt wird und dann über Düsen ins Rauchgas eingeleitet wird´ (Quelle: Dattelner Morgenpost + Waltroper Zeitung vom 05.11.2010).
Wir wollen an dieser Stelle kein noch so kleines Hoffnungsflämmchen auspusten. Aber ein paar ergänzende Hinweise seien erlaubt:
Die sekundären Entstickungstechniken unterscheiden zwischen katalytischen (SCR=Selective Catalytic Reduction) und nichtkatalytischen (SNCR=Selective Non Catalyic Reduction) Verfahren.
Katalytische Verfahren erreichen eine 85%-tige NOx-Minderung, wobei Harnstoff oder Ammoniak gasförmig in Anwesenheit einer Katalysatormasse bei Temperaturen von 150 bis 400 °C für die Zerlegung in Sauerstoff (O2) und Stickstoff (N2) sorgen.
Nichtkatalytische Verfahren erreichen eine Stickoxidminderungsrate von ca. 70% und arbeiten mit Ammoniak, Harnstoff, Gülle o.ä. als Reduktionsmittel, das in den Brennraum bei ca. 1000 °C eingedüst wird.
(Quelle: Handbuch für Praxis und Lehre von Bilitewski, Härdtle, Marek)
Verfahren hätte große Zukunft . . .
Wir können nicht erkennen, dass das neue Verfahren von den Möglichkeiten der - bisherigen - Verfahrenstechniken umfasst wird, insbesondere nicht, wenn die beschriebene Beimischung des erhitzten Ammoniak-Wasser-Gemisches im Kühlturmbereich stattfindet (wie in der WaltroperZeitung berichtet). Dort treffen sich die - mit Wasserdampf gesättigten - Rauchgase aus der REA (mit ca. 46 °C) mit den - ebenfalls gesättigten - Kühlluftschwaden (ca. 30-32 °C). Wie eine Entstickung in dieser Niedrigtemperatur-Umgebung funktionieren soll, bleibt unerfindlich. - Aber vielleicht war der Hinweis auf die Verwendung von Ammoniakwasser im Kühlturm auch nur ein kleiner Irrtum. “Kann ja mal vorkommen”.
Eine Internet-Recherche in Bezug auf ein neues großtechnisches Verfahren zur Rauchgasentstickung in Großkraftwerken mit Ammoniawasser blieb ergebnislos.
Nichtkatalytische Verfahren (SNCR) sind danach bisher nur bei mittelgroßen Anlagen, z.B. in Müllverbrennungsanlagen, installiert worden. Zudem werden mit dem nichtkatalytischen wohl kaum die gesetzlichen Emissionswerte nach BImSchG zu erreichen sein.
Das Eindüsen von Ammoniakwasser müsste direkt im Feuerraum, d.h. inmitten des Kessels, erfolgen, bei Temperaturen um 1000 °C. Ob so eine Technik überhaupt nachträglich in einen bestehenden Kessel der Größe von Datteln4 eingebaut werden kann, ist ebenfalls zweifelhaft. Für die Reaktion/Reduktion werden Verweilzonen benötigt, die “Strecke” brauchen. Zudem ´verschiebt´ sich die örtliche Lage des notwendigen Temperaturfensters lastabhängig.
Wenn man weiß, dass die Entstehung von Stickoxiden bei sehr hohen Temperaturen (>>1000 °C) erfolgt (im Kraftwerkskessel wie auch im Verbrennungsraum eines Motors), dann liegt die Vermutung nahe, dass es sich um eine sehr stabile chemisch/physikalische Verbindung handelt, welche nur mit einem ähnlich hohen Aufwand wie bei ihrer Entstehung wieder rückgängig zu machen sein wird. - Wäre es so einfach, Stickoxide (NOx) ohne besonderen technischen Aufwand (im Niedertemperaturbereich) in seine ungefährlichen Bestandteile zurück zu zerlegen (wie in der Presse zitiert), dann hätte so ein Verfahren wohl eine ganz außergewöhnliche Zukunft zu erwarten, das käme einer technischen Sensation/Revolution gleich - nicht nur im Kraftwerksbereich.
. . . wenn da nicht noch größere Probleme wären
Ein großes Problem bei der Entstickung ist die stöchiometrische Zugabe des Reduktionsmittels, hier des Ammoniaks. Dies gilt prinzipiell für beide Entstickungsverfahren.
Die Verteilung/Eindüsung muss so erfolgen, dass an den Stellen mit höheren NOx-Frachten auch entsprechend mehr Ammoniak zugeführt wird. Das ist - besonders beim nichtkatalytischen Verfahren - unmöglich einstellbar, schließlich ist weder die Rauchgasmassen- als auch die NOx-Konzentrationsverteilung als homogen anzunehmen, weder zeitlich noch örtlich, dazu ist “viel zu viel Leben” in der Feuerwalze eines Kraftwerkskessels. Diese Problematik führt regelmässig zu einer überstöchiometrischen Reduktionsmittelverteilung, d.h. zu ´überschüssigem´ Ammoniak und daraus resultierend zu einem ungewollten Ammoniak-Schlupf bei SNCR (gasförmiges Ammoniak ohne Teilnahme an der Reduktion der Stickoxide), welcher sich ggf. bis zum Ende des Abgasweges in den Kühlturm und damit in die Atmosphäre fortsetzen kann. - Wer wollte dafür die Verantwortung tragen ?
Technische Phantasie mit dem Wissen um die Aussichtslosigkeit - macht die Not erfinderisch ?
Wenn es aber so wäre, dass hier - im Zuge eines “ergebnisoffenen Verfahrens” - eine technische Phantasie (mit dem ziemlich sicheren Wissen um die spätere Aussichtslosigkeit) in die “Welt gesetzt” wird, nur um die Akzeptanz im weiteren Verlauf des Doch-Noch-Genehmigungsverfahrens zu erlangen, dann käme dieses einem Täuschungsversuch nahe, der nur der momentanen genehmigungstechnischen Notsituation der Kraftwerksbefürworter geschuldet sein kann. - Es stände zu erwarten/zu befürchten, das am Ende (der “ergebnisoffenen Abwägungen”) wieder nur die gasförmige Ammoniaktechnik mit Katalysatoreinsatz übrig bleibt - vielleicht sogar erst kurz vor der Inbetriebsetzung ? Das wäre fatal.
Versuche mit Gülle hat es gegeben - aber diese waren wohl wenig erfolgreich
Großtechnische Versuche in Kohlekraftwerken mit Gülle und ähnlichen Ammoniak-Wasser-Gemischen zur Entstickung von Rauchgasen in nichtkatalytischen Verfahren hat es bereits vor vielen Jahren gegeben. Dabei wurde dieses Flüssigkeitsgemisch bei hohen Temperaturen im Kessel (Rauchgasseite) eingedüst. Diese Technik konnte sich aber nicht durchsetzen, weil die damit einhergehenden Ergebnisse hinter den Erwartungen zurückblieben.
Salmiakgeist ist auch nicht “ohne” . . .
. . . eine hohe Gefahrenklasse zu haben. In Rede steht eine 25-%-ige Lösung. Dafür gilt das EG-Sicherheitsdatenblatt gemäß Verordnung (EG) Nr. 1907/2006. U.E. liest sich dieses Datenblatt auch nicht viel sorgloser als das EG-Sicherheitsdatenblatt nach RL 1907/2006 für gasförmiges reines Ammoniak. Im Gegenteil:
Für den Fall, dass daran gedacht ist, die SCR-Technik (Einsatz von gasförmigem Ammoniak und Katalysator) beizubehalten und das Ammoniak lediglich in gelöster Form auf dem Kraftwerksgelände zu lagern, stellt sich die Frage, wo denn die Trennung/das Austreiben das Ammoniakgase aus der Lösung erfolgen soll - und wenn, mit welcher Technik? Jedenfalls würde in einem solchen Fall der Bau/Betrieb einer Ammoniak-Erzeugungs-/Austreibungs-Anlage auf dem Kraftwerksgelände erforderlich. So etwas ist im Moment nicht vorstellbar.
“Ergebnissoffen” oder “Zielgerichtet”
Wie der Zufall es will, kommt die Meldung über eine Ammoniakwasser-Lösung genau zum ´richtigen Zeitpunkt´, d.h. zu einer Zeit, in der “ergebnisoffen” alle in Frage kommenden Argumente pro Datteln4 gesucht - und gefunden werden (müssen). Ein Schelm, wer Böses dabei denkt ! - Wenn das “ergebnisoffen” ist, was ist dann “zielgerichtet” ?
Anmerkungen
- Das Reduzieren der Störfallproblematik auf die Seveso II-Gültigkeit, z.B. wegen einer möglichen Ammoniak-Gefährdung, greift viel zu kurz. In Datteln wird nicht nur eine Ammoniak-Verdampfungsanlage und ihre Bevorratung geplant, sondern ein komplexes Großkraftwerk mit vielen weiteren Störfallmöglichkeiten. Das erfordert eine ganzheitliche, und keine isolierte Gefährdungsbetrachtung.
Quelle: http://www.aufpunkt.de - wir bringen es auf den PUNKT!