DIE Internet-Zeitung
Ein Mord genügt

Die Prägung der Mörder

Am

dr. nicolette bohn Dr. Nicolette Bohn ist studierte Germanistin und Literaturwissenschaftlerin und promovierte im Fachbereich Kinder- und Jugendliteratur. Sie ist als Buchautorin, Drehbuchautorin für Film und Fernsehen und als Studienleiterin an der Schule des Schreibens in Hamburg tätig. In ihren Werken beschäftigt sie sich meist mit den Abgründen der menschlichen Existenz u. a. auch mit Mord und Serienmord.


Der Jugendfriedenspreis

Bekannt geworden ist sie bereits im Jugendalter, als sie für ihren Jugendroman „Plötzlich war es kein Spiel mehr“ den Jugendfriedenspreis für Nachwuchsautoren erhielt. Aber den Durchbruch als bekannte Autorin schaffte sie erst mit dem Buch: „Anwalt des Teufels – der Fall Jürgen Bartsch. Im Emons - Verlag erschien kürzlich ihr aktuelles Buch: „ Ein Mord genügt“. Dr. Bohn bedient nicht das übliche Täter-Klischee in ihren Büchern, sie geht auf Opfer- und Täteraspekte ein, die normalerweise in kriminalistisch orientierter Literatur nicht vorzufinden sind. In neun realen Kriminalfällen zeichnet Dr. Bohn ihre hervorragend recherchierten Entwicklungen detailgetreu nach, und lässt die Leserschaft an der Tragik krimineller Entwicklungen teilhaben.

Kein Weg zurück

Fr. Dr. Bohn, wo liegt der Schwerpunkt in Ihrem Buch?

Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt auf der Frage: Wie konnte es zu dieser Situation kommen? Welche lebensgeschichtlichen Gründe hat es bei Opfern und Tätern gegeben, die schließlich in diese Situation mündeten? Als Drehbuchautorin verfüge ich berufsbedingt über dramaturgische Kenntnisse. Wo liegt der sogenannte "Point of no return", der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt - also der Punkt, an dem es unweigerlich zu dieser Tat kommen muss? Diese Frage stellt sich sowohl für das Opfer als auch für den Täter. Beide sitzen in einem Boot, sind sozusagen zwei Seiten einer Medaille und stehen in einer Beziehung, die sicher tragisch ist, aber eine soziale Beziehung bildet. Sie sind in unheilvoller Weise miteinander verbunden. Und das ist sicher auch die Sichtweise, die ungewöhnlich ist: Es gibt in meinem Buch nicht das Gute und das Böse, sondern Menschen, die von den Bedingungen, unter denen sie aufgewachsen sind, in einer bestimmten Art und Weise geprägt worden sind. Und diese Prägung mündet schließlich in der Tat.

Diese Sozialisation bzw. Prägung einmal herauszuarbeiten und Schritt für Schritt zu zeigen, welche Faktoren hier wirksam waren - das war eine echte Herausforderung. Das hat mich innerlich stark angesprochen und interessiert.

Der Zwang zur Tat?

Gehen Sie davon aus, dass Sozialisation und Prägung „bestimmend“ bzw. „zwingend“ sind und der Täter keine andere Wahl hatte?

Gute Frage ... ich denke, dass man grundsätzlich immer eine Wahlmöglichkeit hat. Wir sind ja als menschliche Spezies keine Pantoffeltierchen, die wahllos auf Reize reagieren und einem primitiven Nervenmuster folgen - einem Reiz- Reaktionsschema - sondern Lebewesen, die gerade, weil sie komplexe Entscheidungen treffen können, als Menschen überhaupt erst bezeichnet werden. Was ich beim Schreiben meines Buches festgestellt habe ist, dass im Augenblick der Tat Umstände vorlagen, die es dem Täter unmöglich machten, noch andere Reaktionen in Betracht zu ziehen, als zum Mörder zu werden. Die Täter waren nicht grundsätzlich "wahllos", wenn ich das mal so ausdrücken kann, sondern die Umstände, die sich im Augenblick der Tat bündelten, waren so angelegt, dass hier eigentlich nur noch eine Reaktionsmöglichkeit blieb. Wobei natürlich der Täter selbst auch andere Möglichkeiten des Handelns als Möglichkeiten in sich getragen hat - aber in dem Moment kam alles zusammen.

Dr. Bohn, hat ein Fall Sie ganz besonders beschäftigt?

Unter den Fällen ist ein Beispiel, das mich besonders betroffen gemacht hat, nämlich eine junge Frau, die ihren Vater erschießt, der die ganze Familie dominiert und misshandelt hat. An dem Abend ist bei dieser jungen Frau die Sicherung "durchgebrannt", wie man umgangssprachlich sagen würde. Der Vater hatte ihr versprochen, dass sie mit 21 Jahren ausziehen und heiraten darf. Darauf hatte sie die ganze Hoffnung gelenkt. Als der Vater an dem Abend dieses Versprechen zurückzog, griff die Tochter zum Gewehr und drückte ab. Natürlich hätte sie grundsätzlich eine Wahl gehabt. Im Augenblick der Tat blieb aber nicht mehr viel davon übrig. Da gab es nur noch diese Kurzschlusshandlung. Und das Besondere an diesem Fall: Die junge Frau wurde von aller Schuld freigesprochen. Sie verließ den Gerichtssaal als freier Mensch. Die Richter haben die besonderen Lebensumstände anerkannt und festgestellt, dass die Tochter ihr ganzes Leben lang unter dem Vater gelitten hat. Ein Fall, der sich in den 60ger Jahren ereignet hat. Aber auch in den anderen Fällen ist es ähnlich: im Augenblick der Tat hat die Dramatik ihren Höhepunkt erreicht. Die Tat würde ich als "Spitze eines Eisbergs" bezeichnen. Das, was sich im Vorfeld abgespielt hat, ist hier sicher ausschlaggebend gewesen.

Tatmuster

Lassen sich in Ihrem Buch „Ein Mord genügt“ parallele Handlungsmuster von Tätern und Opfern erkennen?

Ja, das Besondere an dem Buch ist ja vor allem, dass hier eben nicht das arme Opfer und der böse Täter gezeigt werden, sondern deutlich wird, wie beides ineinandergreift. Täter und Opfer "basteln" sozusagen gemeinsam an ihrem Schicksal, stehen in einer lebensgeschichtlichen Verbundenheit und Interaktion. Die Grenzen verschwimmen. Man weiß am Ende nicht mehr, wer Opfer und wer Täter war. Denn auch derjenige, der am Ende die Tat begeht, hat ja entsetzlich leiden müssen unter den Umständen. Der dramatischste Fall ist hier sicher wieder die Geschichte mit der jungen Frau, die seit ihrer Kindheit vom Vater sexuell missbraucht und dominiert wurde. Diese Frau hat den Vater am Ende erschossen und wurde freigesprochen, weil sie wesentlich mehr Opfer war, als derjenige, der umgebracht wurde, nämlich der eigene Vater. Und das macht auch - meiner Meinung nach - den Wert des Buches aus. Dass es hier eben - in keinem der neun Kriminalfälle - klare Grenzen gibt.

Prävention

Lassen sich präventive Maßnahmen durch das Aufzeigen der Gesetzmäßigkeiten aus Ihrem Buch ableiten?

Präventiv wäre es sicher, wenn die Gesellschaft insgesamt sozialer und zwischenmenschlicher würde. Aber das scheint ja leider eher nicht der Fall zu sein. Im Gegenteil macht sich eine zunehmende Vereinsamung und Isolierung breit. Kommunikation findet ohnehin zu einem ganz großen Teil nur noch über Handy und Internet statt. Aber genau da müsste eine Gesellschaft, die Verbrechen dauerhaft vermeiden will, ansetzen. Viele Taten, die in meinem Buch beschrieben wurden, konnten nur deshalb geschehen, weil niemand richtig hingesehen hat. Sehr oft kommt der Satz: "Ja, wir haben etwas geahnt...aber wir haben es nicht gewusst!" Warmherzigkeit, Liebe und Geborgenheit würde vielen Menschen sicher helfen, nicht zum Täter zu werden. Viele Täter, die in meinem Buch beschrieben wurden, sind in der Kindheit sehr einsam gewesen und zum Teil in Heimen aufgewachsen. Ich denke da an den jungen Mann, der schon als Kind unter dem alkoholkranken Vater gelitten hat und sein einziger Halt war eine Sinti und Roma Sippe, die ihr Lager auf einem Kirmesplatz aufgeschlagen hatte. Dort fand der Junge das, was er zuhause vermisste. Er verliebte sich in ein gleichaltriges Sinti und Romamädchen, mit dem er gemeinsam aufwuchs. Doch als der Junge dann älter wurde, wurde er von den Sinti und Roma verstoßen, weil diese Angst um die Tochter hatten. Der Mann konnte aber das Bild von dem Mädchen - das sicher der einzige Mensch in seinem Leben war - der dauerhaft nett und liebevoll zu ihm gewesen war, innerlich nicht loslassen. Die junge Frau wollte sich von ihm trennen, er war dazu nicht in der Lage und brachte sowohl Frau als auch Kind (und unglücklicherweise auch noch einen Vermieter, der sich dem Ganzen in den Weg stellen wollte) am Ende in einer Affekthandlung um. Hätte dieser Junge in der Kindheit Geborgenheit im Elternhaus erlebt, wäre diese Tat sicher nie geschehen. Aufmerksamkeit, Zwischenmenschlichkeit und Wärme würde ich als Präventivmaßnahmen auf die Liste ganz nach oben setzen...da geht sicher nichts drüber!

Fr. Dr. Bohn, ich bedanke mich für das Gespräch.

Leserkommentar:

Liebe Frau Dr. Nicolette Bohn,

ich habe soeben ihr Interview gelesen und freue mich sehr, dass Sie hier im Forum zu Wort kommen. Ihr Buch "Ein Mord genügt" habe ich mir vor Monaten zu meinem Geburtstag schenken lassen, denn ich war neugierig darauf.

Und genau so, wie Sie es im Interview schildern, habe ich es beim Lesen empfunden. Auch für den Täter entwickle ich ein Mitgefühl und manchmal mehr als für das Opfer. Die gesellschaftlichen Hintergründe, die sich in Ihren Geschichten widerspiegeln, machen mir oft Angst, denn bis heute hat sich nicht viel verändert.

Wie bedeutsam für ein Kind wahre Liebe und Geborgenheit sind, können viele Eltern oftmals nicht einschätzen. Durch Ihr Buch wurden mir die Augen geöffnet, wozu unglückliche Missstände führen können. Es gibt so viel Traurigkeit in den Familien und in der Gesellschaft, und wie oft fühle ich mich hilflos.

Vielleicht liebe ich deshalb meinen Beruf als Erzieherin.

Herzliche Grüße

Ihre Studentin

Kerstin Werner

Auswahl an Beiträgen zu den Stichworten