Krebsraten
Die seit Wochen fertiggestellte SSK-Stellungnahme wurde am Donnerstag (9. Oktober) der Öffentlichkeit vorgestellt. Zwar bestätigte die Kommission "die zentrale Aussage der Studie, dass es aufgrund von Statistiken im Umkreis um die Standorte von Atomkraftwerken ein erhöhtes Leukämierisiko für Kinder unter fünf Jahren gibt".
Jedoch: "Strahlenexposition durch Kernkraftwerke kann die Ergebnisse der Kinderkrebs-Studie nicht erklären". Eine andere Erklärung hatte die Strahlenschutzkommission allerdings auch nicht. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), das die Studie in Auftrag gegeben und für eine ungewöhnlich breite fachliche Absicherung des Studien-Designs gesorgt hatte, wies die Kritik der Strahlenschutzkommission am Studiendesign zurück. Die Behörde verweist auf deutliche Unterschiede zwischen der insbesondere für die Öffentlichkeit bestimmten Zusammenfassung der SSK-Stellungnahme und den Aussagen im Haupttext. "Insbesondere werden relativierende Aussagen des Haupttextes in der Zusammenfassung zu definitiven Aussagen umformuliert." Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW hielt den amtlichen Strahlenschützern vor, sie relativiere die Studienergebnisse "wider besseren Wissens".
Das Bundesumweltministerium sieht weiterhin keinen Anlass, die Strahlenschutz-Grenzwerte zu verschärfen. Die Strahlenexposition aus einem Atomkraftwerk könne die festgestellten Leukämie-Erkrankungen nicht erklären, teilte das Ministerium am Donnerstag in Berlin zur Begründung mit.
Das Umweltministerium bedauert eigenen Angaben zufolge, "dass die Ursachen der festgestellten Leukämie-Erkrankungen weiterhin im Unklaren bleiben. Leider haben auch die weltweiten Forschungsanstrengungen hierzu bisher keine Erklärungsmuster geliefert." Daher gebe es "keine Alternative dazu, auf breiter Grundlage die Ursachenforschung zu verstärken".
SSK: Die Studie entspricht den Grundsätzen der "Guten Epidemiologischen Praxis" - es wäre vernünftiger gewesen, die Studie in dieser Weise nicht durchzuführen Die Strahlenschutzkommission (SSK) bestätigte in ihrer Stellungnahme die zentralen Befunde der so genannten KiKK-Studie. Die Kommission bestätigte ferner, dass die Studie entsprechend den Grundsätzen der "Guten Epidemiologischen Praxis" durchgeführt worden sei.
Andererseits übte die SSK heftige Kritik an der zuvor von allen Fachleuten gelobten Studie. Gabriels Kommission bemängelte, "dass in der Studie keine Aussagen zur Strahlenexposition und Erhebung von Einflussfaktoren gemacht werden. Sie kommt zum Schluss, dass es deshalb vernünftiger gewesen wäre, die Studie in dieser Weise nicht durchzuführen." Der Risikoanstieg im Nahbereich der Kernkraftwerke stehe nicht kausal mit der Radioaktivität im Zusammenhang, "die von Kernkraftwerken emittiert wird".
BfS: Die SSK hat die Positionierung des BfS vom Dezember 2007 bestätigt
Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), das ebenfalls Umweltminsiter Gabriel untersteht, setzte sich in einer "vorläufigen" Stellungnahme ausführlich mit der SSK-Stellungnahme auseinander. Die Fachbehörde betont auf der einen Seite immer wieder, dass die SSK-Bewertung "die Positionierung des BfS vom Dezember 2007" bestätigt.
Die Kritik der Kommission weist die Strahlenschutzbehörde allerdings in aller Schärfe zurück. Auf der einen Seite kritisiere die SSK pauschal die Methodik, auf der anderen Seite aber ergänze die, dass trotz dieser Schwächen das Studiendesign geeignet sei, eine Abstandsabhängigkeit zu analysieren.
Vor Vergabe der Studie habe das BfS in intensiven fachlichen Diskussionen "alle sinnvoll realisierbaren Optionen" geprüft, um die Fragestellung der KiKK-Studie in einer "praktisch durchführbaren Untersuchung" beantworten zu können. Im Kern wirft die Bundesbehörde der SSK vor, eine realitätsfremde Kritik zu üben. Schließlich sei mit der Studie das "bestmögliche" und "praktisch umsetzbare" realisiert worden.
Bemerkenswert differenziert äußert sich die Strahlenschutzbehörde zur Frage, ob die radioaktiven Partikelemissionen aus Kernkraftwerken ursächlich für die Krebserkrankungen sein können. So bestätige die SSK die Bewertung durch das BfS, dass die zusätzliche Strahlenexposition um etwa den Faktor 1000 höher liegen müsste, um die Ergebnisse plausibel mit dem gegenwärtigen Stand des Wissens zur Strahlenbiologie und -epidemiologie erklären zu können. Aber: "Mögliche Unsicherheiten zum Stand des gegenwärtigen Wissens werden im Bewertungsbericht der SSK nicht diskutiert."
Die Meinung, dass radioaktive Strahlung "grundsätzlich nicht" oder dass Strahlung nicht kausal mit dem Anstieg des Erkrankungsrisiko in Zusammenhang stehe, "werden allerdings vom BfS in dieser Stringenz nicht geteilt". Es falle schwer nachzuvollziehen, auf welcher fachlichen Grundlage ein Umweltfaktor "mit nachgewiesenen leukämogenem bzw. karzinogenem Potential wie Strahlung" von der weiteren Diskussion "grundsätzlich" ausgeschlossen werde "und stattdessen über unbekannte Umweltfaktoren spekuliert wird", moniert das Bundesamt für Strahlenschutz.
IPPNW: Strahlenschutzkommission relativiert Studienergebnisse wider besseren Wissens
Auch für die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW ist die Kritik der SSK an der Studie nicht nachvollziehbar. "Obwohl das Studiendesign von allen an der Studie direkt und indirekt beteiligten Experten im Grundsatz unterstützt und die Seriosität der Studie immer wieder auch vom Bundesamt für Strahlenschutz betont wurde, übt nun die Strahlenschutzkommission Kritik am Studien-Design, ganz offensichtlich nur deswegen, weil ihr das Ergebnis der Studie nicht gefällt", so Reinhold Thiel von der IPPNW. "Die Strahlenschutzkommission schützt mit dieser Stellungnahme nicht die Bürgerinnen und Bürger, sondern die Atomindustrie."
Für Thiel ist es insbesondere auch nicht verständlich, dass die Strahlenschutzkommission "versucht, den Blick auf einen 5-Kilometer-Umkreis um die deutschen Kernkraftwerke zu verengen. Die KiKK-Studie hat eindeutig nachgewiesen, dass in einer Entfernung bis zu 50 Kilometern um Atomkraftwerke Kinder verstärkt an Krebs erkranken."
Die IPPNW kritisiert ferner, dass die Strahlenschutzkommission verharmlosend die "natürlichen Strahlenexpositionen im Untersuchungsgebiet" als Vergleichsgröße zur radioaktiven Belastung durch Atomkraftwerke heranziehe. "Die Kommission unterscheidet gegenüber der Öffentlichkeit nicht zwischen der natürlichen Strahlung, die unsere Körper vornehmlich von außen trifft, und der Aufnahme hochgefährlicher Radionuklide, die aus Atomkraftwerken freigesetzt werden und vom Menschen über die Luft und die Nahrung aufgenommen werden können", kritisiert Thiel. "Im ungünstigen Fall kann bereits ein einziges im Körper aufgenommenes radioaktives Partikel eine Krebsentwicklung auslösen. Deshalb ist es mittlerweile unstrittig, dass es keine Schwellendosis für Schäden durch Radioaktivität gibt."
IPPNW: Professor Müller von der SSK berichtete dem Bundesumweltministerium über Tumorauslösung bei Niedrigstrahlung
Nach Darstellung der IPPNW steht die Stellungnahme der SSK in klarem Widerspruch zu den eigenen Erkenntnissen. Wolfgang-Ulrich Müller, Professor für Strahlenbiologie im Institut für medizinische Strahlenbiologie der Universität Essen, habe in Berlin die SSK-Stellungnahme erläutert, wonach die Radioaktivität aus Kernkraftwerken als Ursache für die Erkrankungen nicht in Betracht käme. Auf einer vom Bundesumweltministerium am 19. Juni 2007 in Berlin ausgerichteten Konferenz "Neue Erkenntnisse zur Wirkung der Strahlung auf den Menschen - die neuen ICRP-Empfehlungen" habe Müller aber andererseits dargelegt, "über welche Mechanismen selbst niedrigste Strahlendosen zu Krebs führen können".
Müller verweise in seinem Vortrag auf zahlreiche bekannte biologische Faktoren, auf denen die Strahlenempfindlichkeit im Niedrigstrahlenbereich (unter 100 Millisievert) beruhe. Einige wie etwa der "Bystander effect" könnten ein erhöhtes Risiko bei Niedrigstrahlen erklären. Auch könnten fehlerhafte Zellreparaturen nach einer Strahleneinwirkung zur Entstehung von Tumorzellen führen. Die Strahlenwirkung im Niedrigstrahlenbereich sei nicht unbedingt linear, vielmehr könnten ganz bestimmte niedrige Strahlendosen große Wirkungen entfalten.
Laut Müller sei die Strahlenempfindlichkeit von Embryonen in der Frühphase der Schwangerschaft groß, berichtet die IPPNW. Beispielsweise bestehe schon bei 10 Millisievert ein statistisch signifikant erhöhtes Leukämierisiko während der Schwangerschaft. Im Vergleich zum Erwachsenen im mittleren Alter wiessen bestimmte Altersgruppen eine höhere Strahlenempfindlichkeit auf, unter anderem Kinder, Jugendliche und Frauen unter 30 Jahren. Generell seien Frauen strahlenempfindlicher als Männer. Durch Radioaktivität bekämen sie häufiger Speiseröhren-, Magen-, Dickdarm-, Leber-, Lungen-, Brust- und Blasenkrebs. Müller weist laut IPPNW ferner auf die individuellen Unterschiede bei der Strahlenempfindlichkeit hin.
Die IPPNW zieht daraus den Schluss, dass "die auf dem Durchschnitts-Erwachsenen basierenden Strahlenschutzgrenzwerte insofern massiv in Frage stehen".
Die Vorsitzende der IPPNW, Dr. Angelika Claußen, sagte, dass die Behörden schon in der Vergangenheit immer wieder das tatsächliche Strahlenrisiko unterschätzt hätten, "auf Kosten vieler Menschenleben". Claußen verwies in diesem Zusammenhang auf die Aussage von Professor Müller auf dem 13. Deutschen Atomrechtssymposium im Dezember 2007, wonach keiner "das wirkliche Ausmaß des Krebsrisikos im Dosisgrenzwertbereich unseres Strahlenschutzsystems" kenne. Claußen: "Die Strahlenschutzkommission vermittelt mit ihrer Stellungnahme insofern eine Sicherheit bei der Bewertung des Strahlenrisikos, die schlichtweg nicht besteht."
Claußen erinnerte auch daran, dass "die ungewöhnlich aufwändige" Kinderkrebs-Studie vom Mainzer Kinderkrebs-Register durchgeführt wurde, das für "seine atomenergie-freundliche Grundhaltung einschlägig bekannt" sei. Die im Zusammenhang mit der Studie erhobenen Fakten weisen laut IPPNW alle auf eine Schlussfolgerung hin: "Kernkraftwerke verursachen Krebs."