Das Atomgesetz sehe eigens den so genannten "Widerruf" einer Betriebsgenehmigung vor, wenn der Stand von Wissenschaft und Technik als so genannte Genehmigungs-Voraussetzung "später weggefallen ist", betont Rülle-Hengesbach. Wenn also bei einem alten Atomkraftwerk Jahre "später" der aktuelle Sicherheitsstandard nicht mehr gegeben sei, dann sei die Anlage nach pflichtgemäßem Ermessen stillzulegen, so die IPPNW-Anwältin. Denn es sei im vorliegenden Fall auch keine "Abhilfe" möglich, da Biblis B mehr als 150 praktisch nicht behebbare Sicherheitsmängel aufweise.
Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem "Kalkar-Urteil" schon 1978 den Aufsichtsbehörden die Vorgabe gemacht, für eine "laufende Anpassung" an den "jeweils neuesten Erkenntnisstand" zu sorgen, so Rülle-Hengesbach. Nur dann sei eine "bestmögliche Gefahrenabwehr und Risikovorsorge" gewährleistet. Andernfalls sei der Betrieb eines Atomkraftwerks grundgesetzwidrig. "Da sich die vielen Sicherheitsmängel von Biblis B praktisch aber nicht beseitigen lassen und eine Anpassung an den aktuellen Erkenntnisstand insofern nicht möglich ist, muss die Behörde das Atomkraftwerk stilllegen."
Rülle-Hengesbach: Die Atomindustrie kann sich weder auf den Eigentumsschutz, die Berufsfreiheit noch auf einen Vertrauensschutz berufen
Dem stehe auch nicht der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entgegen, wie die Behörde annehme, so die Fachanwältin für Verwaltungsrecht. "Das Bundesverfassungsgericht hat längst eine Verhältnis¬mäßigkeitsprüfung vorgenommen. Die Verfassungsrichter stellten im Kalkar-Urteil unmissverständlich fest, dass sich ein Atomkraftwerksbetreiber weder auf das Eigentumsrecht noch auf das Recht auf freie Berufsausübung berufen kann, wenn der Stand von Wissenschaft und Technik nicht gewährleistet ist", so Rülle-Hengesbach. "Maßgebend hierbei ist das Grundrecht der Bevölkerung auf Leben und Gesundheit." Auch könne kein Vertrauensschutz geltend gemacht werden, weil die Genehmigung von Biblis B von Beginn an unter dem "Widerrufsvorbehalt" des Atomgesetzes gestanden hätte.
Die IPPNW-Anwältin bemängelt, dass das Hessische Umweltministerium in seinem die Stilllegung ablehnenden Bescheid vom 10. April 2008 auf die rechtliche Argumentation der Antragsteller nicht konkret eingegangen sei. "Wie so häufig" seien zentrale Passagen aus dem Kalkar-Urteil lediglich zitiert worden, um dann praktisch losgelöst davon die hinlänglich bekannte eigene Rechtsauffassung wiederzugegeben. "Das zeigt, dass sich die Behörde schwer damit tut, unsere rechtlichen Argumente zu widerlegen. Man scheut offenbar eine ernsthafte rechtliche Auseinandersetzung", so Rülle-Hengesbach. Das Einzige, was dem hessischen Ministerium bleibe, sei der Verweis darauf, dass andere deutsche Atomaufsichtsbehörden ähnlich handelten. "Das ist aber kein Beweis für die Rechtmäßigkeit des Behördenhandelns." Rülle-Hengesbach: "Wer auf die Verlängerung von Laufzeiten setzt, spielt mit dem Überleben der Bürger."
IPPNW kritisiert rechtlich unstimmige Aussagen der hessischen Atomaufsicht
Ein Sprecher des hessischen Umweltministeriums wollte sich zu dem zitierten Aktenvermerk nicht äußern, sagte aber, beide Blöcke des Atomkraftwerkes seien "sicher". Ein Sprecher der IPPNW hielt dem entgegen, dass es sich beim "Stand von Wissenschaft und Technik" sowohl nach dem Atomgesetz als auch nach dem Kalkar-Urteil des Bundesverfassungsgerichts um den zentralen sicherheitstechnischen Maßstab für die Bewertung der Atomenergie handele. Im atom- wie auch im verfassungsrechtlichen Sinne könne man also nicht sagen, ein Atomkraftwerk sei "sicher", wenn es "selbstverständlich nicht dem heutigen Stand von Wissenschaft und Technik entspricht". Die Rechtsgrundlage für die Atomaufsicht sei aber das Atomgesetz. IPPNW: "Die Aussage des Ministeriums, Biblis sei sicher, ist insofern nicht nachvollziehbar."