EU-Reformvertrag
- Merkel: Bekenntnis zu einem europäischen Wirtschafts- und Sozialmodell
- Bisky: Die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD, AfA, lehnt den Lissabon-Vertrag ab
- Schwall-Düren: Das Prinzip des unverfälschten Wettbewerbs ist nicht mehr Ziel, sondern Instrument der EU
- Nitzsche: In Deutschland ist es zwar trauriger Weise Usus, daß das Volk bei Europa-Angelegenheiten nicht gefragt wird
Der Vertrag von Lissabon wurde am 18. und 19. Oktober 2007 in Brüssel verhandelt und am 13. Dezember 2007 von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet. Er soll als neuer Grundlagenvertrag der Europäischen Union den derzeit gültigen Nizza-Vertrag ablösen.
Der neue Vertrag enthält geänderte Regelungen zur Subsidiarität, zur Kompetenzordnung und zur Bürgerbeteiligung. Institutionelle Änderungen gibt es insbesondere bei den Entscheidungsverfahren und bei der außenpolitischen Vertretung der Europäischen Union. Das Europäische Parlament erfährt eine Aufwertung: Es soll neben dem Rat gleichberechtigter Mitgesetzgeber und Teil der Haushaltsbehörde werden. Vorgesehen ist auch, die Europäische Kommission zu verkleinern und erneut den Anwendungsbereich der so genannten qualifizierten Mehrheit auszuweiten.
Zudem soll die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) ausgebaut und die EU in Zukunft von einem "Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik" international vertreten werden. Insbesondere die Aufwertung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist für viele Anlass für Kritik.
Merkel: Bekenntnis zu einem europäischen Wirtschafts- und Sozialmodell
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bezeichnete den EU-Reformvertrag als ein "fundamentales Bekenntnis" zu einem europäischen Wirtschafts- und Sozialmodell. Sie verwies auf wichtige Neuregelungen wie den europäischen Präsidenten und den Außenminister, ein demokratischeres Abstimmungsverhältnis, mehr Rechte für die nationalen Parlamente, eine bessere Abstimmung in der Justiz- und Sicherheitsstruktur sowie eine engere Zusammenarbeit in den "großen Zukunftsfragen" wie Umwelt- und Klimaschutz. Ihr Fazit: "Der neue Vertrag ist gut für Europa."
Die Bundeskanzlerin betonte die Stärke eines gemeinsamen Europa gegenüber dem Rest der Welt: "Wenn wir uns zusammentun, kann man in der Welt nicht einfach daran vorbeigehen", unterstrich Merkel. Zudem könne die EU besser ihrer Verantwortung zur "politischen Gestaltung der Globalisierung" gerecht werden. Es gelte, den Grundgedanken der sozialen Marktwirtschaft – nämlich einen geordneten Wettbewerb – auf die EU zu übertragen. Neben einer "Wirtschaftsordnung mit menschlichem Gesicht" gehörten zu den Fundamenten "wertegebundene Außenpolitik, Klima- und Umweltschutz, die Sicherung der Energieversorgung und eine geregelte Migrations-und Integrationspolitik", so Merkel.
SPD-Parteichef Kurt Beck bezeichnete die europäische Einigung als Erfolgsgeschichte bezeichnet und mahnte, die "soziale Dimension Europas" nicht zu vergessen. "Es fehlt an Europa ein ganz entscheidender Teil - nämlich, was wir soziales Europa nennen", sagte der SPD-Chef. In Europa dürfe es keinen "Wettbewerb um die schnellere soziale Abwärtsspirale" geben. Beck bedauerte, dass 2005 die Einigung auf eine Verfassung für Europa gescheitert sei.
Diese Auffassung teilte FDP-Chef Guido Westerwelle. Der EU-Reformvertrag sei zweitbeste Lösung nach einer Verfassung. Da dies aber nicht zustande kam, sei man gut beraten, das Zweitbeste zu machen. Westerwelle erinnerte an die Rede, die der SPD-Politiker Hans-Jochen Vogel vor wenigen Wochen bei der Gedenkstunde anlässlich des vor 75 Jahren erlassenen Ermächtigungsgesetzes im Bundestag gehalten hatte. "Das, was Hans-Jochen Vogel uns als denen, die heute Verantwortung tragen, da gesagt hat, ist in meinen Augen auch erhellend dafür, warum wir Europa machen müssen", so Westerwelle. "Hans-Jochen Vogel sagte damals hier von diesem Platz aus: Für meine Generation war Krieg die Normalität. Für euch ist Frieden die Normalität."
Wir, die wir im Frieden leben, sollten nach Auffassung von Westerwelle "nicht vergessen, dass das das größte Geschenk der europäischen Geschichte ist. Hätte Europa nicht mehr gebracht als Frieden, es hätte sich schon gelohnt."
Bisky: Die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD, AfA, lehnt den Lissabon-Vertrag ab
Linke-Parteichef Lothar Bisky richtete den Blick stärker in die Zukunft und bezweifelte die künftige Friedfertigkeit der Europäischen Union. Er sagte, die Linke engagiere sich "für ein Europa des Friedens, der Freiheit, der Demokratie, der sozialen und ökologischen Sicherheit und der Solidarität". Zwar seien die Linken im Bundestag die Einzigen, die dem Vertrag von Lissabon die Zustimmung verweigerten. "In der Gesellschaft und in Europa stehen wir mit unserer kritischen Haltung keineswegs allein da", betonte Bisky.
Auf der europäischen Ebene - auch in Deutschland hätten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ihre Bedenken "gegen den neoliberalen Geist des Lissabon-Vertrages" deutlich gemacht, so Bisky. "Die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD, AfA, lehnt den Lissabon-Vertrag ab und fordert die SPD-Abgeordneten auf, diesem Vertrag im Bundestag nicht zuzustimmen. Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges fordern, den EU-Vertrag nicht zu ratifizieren. Ob Pax Christi oder Attac, sie alle weisen darauf hin, dass der Lissabon-Vertrag nicht den Interessen der Mehrheit der Menschen entspricht."
Wenn Kurt Beck der Ansicht sei, dass man mit einer Partei, die diesen EU-Vertrag ablehne, nicht koalieren könne, "dann sage ich als Antwort darauf ganz deutlich: Wenn sich Regierungsfähigkeit an der Akzeptanz von Beihilfe zum Sozialdumping bemisst, dann wollen wir nicht regierungsfähig sein", so Bisky.
Die Linke übersehe nicht, dass dieser Vertrag gegenüber dem Vertrag von Nizza Verbesserungen bringe, etwa beim Mitentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments. "Der Vertrag von Lissabon bringt aber leider vor allem gravierende Nachteile", so Bisky. "Von diesem Reformvertrag geht kein Friedenssignal aus." Die Bestimmungen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind nun vor allem militärisch geprägt. Wir halten diese Ausrichtung für falsch und auch für gefährlich. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten auf schrittweise Verbesserung ihrer militärischen Fähigkeiten, Artikel 42 Absatz 3, heißt doch im Klartext: ständige Aufrüstung."
Für ebenso kontraproduktiv wie überflüssig hält Bisky die "Battle-Groups". "Zur Terrorismusbekämpfung taugen sie nicht, und weltweite Militärinterventionen sind der falsche Weg, um Frieden zu erhalten oder herzustellen. Wir bleiben dabei: Wir sagen Ja zur Selbstverteidigung, aber außerhalb des Hoheitsgebietes der EU sollen militärische Operationen der EU nicht stattfinden." Man wolle keine völkerrechtswidrigen Kriege, sondern friedliche Lösungen politischer und sozialer Konflikte. "Das heißt, wir wollen ein vertraglich zu verankerndes Verbot von Angriffskriegen, eine strikte Bindung an die UN-Charta und die Einhaltung der international anerkannten Völkerrechtsnormen."
Man höre, dass die Linke wegen ihrer friedlichen Außenpolitik nicht salonfähig sei. "Wenn die Meinung der anderen Parteien darin besteht, dass weitere kriegerische Lösungen anzustreben sind, dann sind wir froh, nicht salonfähig zu sein", so Bisky. "Wenn die Salonfähigkeit durch Krieg definiert wird, dann heben wir uns gerne davon ab. Zu einem solchen Salon begehren wir keinen Einlass."
Die Ausführungen Biskys kommentierte der SPD-Abgeordnete Gerd Andres mit dem Zwischenruf: "So ein gequirlter Unsinn! Wirklich wahr!" Der Unionsabgeordnete Hartmut Koschyk ergänzte: "So etwas Verquastes bei so einem Thema."
Nach Auffassung von Bisky sind die EU-Verträge hinsichtlich ihrer wirtschaftspolitischen Orientierung widersprüchlich. Zum einen sei von einer "sozialen Marktwirtschaft" die Rede. Zum anderen von einer "offenen Marktwirtschaft" und einem "freien Wettbewerb". Jeder könne sich beliebig aussuchen, auf was gebraucht werde. "Letztlich entscheiden die Gerichte", so Bisky. Wohin das führe, hätten die jüngsten drei Urteile des Europäischen Gerichtshofes zu Viking, Laval und Rüffert deutlich gezeigt: "zu Lohndumping, zu Sozialdumping und zu einem eingeschränkten Streikrecht."
Schwall-Düren: Das Prinzip des unverfälschten Wettbewerbs ist nicht mehr Ziel, sondern Instrument der EU
Die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Angelica Schwall-Düren, sagte nach der Abstimmung, sie sei sehr froh, dass sich im Deutschen Bundestag eine deutliche Mehrheit für den Lissabon-Vertrag ausgesprochen habe. "Mit der Ratifizierung des Lissabonner Vertrages gewinnen die Bürgerinnen und Bürger Europas. Es gewinnen die Parlamente, die Zivilgesellschaft, die Nationalstaaten, die Regionen und Europa selbst."
Durch die Stärkung des Europäischen Parlaments und die Einführung eines Bürgerbegehrens werde es mehr Demokratie und Mitbestimmung in der EU geben, so Schwall-Düren. Besonders wichtig sei der soziale Aspekt des Lissabon-Vertrags. "In der Grundrechtecharta sind eine ganze Reihe sozialer Grundrechte enthalten, wie zum Beispiel die Koalitionsfreiheit und das Streikrecht. Das Prinzip des unverfälschten Wettbewerbs ist nicht mehr Ziel, sondern Instrument der EU und soll den Zielen der Vollbeschäftigung, des sozialen Fortschritts und der Preisstabilität dienen."
Nitzsche: In Deutschland ist es zwar trauriger Weise Usus, daß das Volk bei Europa-Angelegenheiten nicht gefragt wird
Auf scharfen Widerspruch trafen die Äußerungen des fraktionslosen Abgeordneten Henry Nitzsche. In seiner Plenarrede kritisierte dieser, dass das Volk nicht nur von Fragen der Souveränität ausgeklammert, sondern von der Regierung bewusst über die Konsequenzen des Vertrages im Unklaren gelassen werde. "In Deutschland ist es zwar trauriger Weise Usus, daß das Volk bei Europa-Angelegenheiten nicht gefragt wird. Es hätte sich dann aber zumindest gehört, daß man den Bürgern erklärt, was da die Politik heute in trauter Gemeinsamkeit verabschiedete und was das für das Volk bedeutet. Mit Phrasen wie 'Glückstag für Deutschland und Europa' alleine ist es damit nicht getan", meint Nitzsche.
Nach Auffassung des fraktionslosen Abgeordneten verliert Deutschland durch den EU-Reformvertrag weite Teile seiner Gesetzgebungskompetenzen und Einflussmöglichkeiten auf die Europapolitik. So bestimmten künftig die 27 Staats- und Regierungschefs die Politik für alle Mitgliedsstaaten "nahezu im Alleingang".
Deutschland werde durch den Reformvertrag zu einem "Gliedstaat eines Europäischen Bundesstaates", so Nitzsche. "Was hat das noch mit Demokratie zu tun, wenn sich nationale Parlamente selbst entmachten und ihre Entscheidungskompetenzen an Brüssel abtreten. Berlin ermächtigt durch den Reformvertrag Brüssel, über die zukünftige Politik Deutschlands in weiten Teilen zu entscheiden. Der formaljuristische Schluss, von einem Ermächtigungsgesetz zu reden, liegt da wohl nahe und genau vor einem solchen habe ich gewarnt. Von einer inhaltlichen Gleichsetzung, wie sie mir andere jetzt vorwerfen, war dagegen nie die Rede", sagte Nitzsche. Die amtierende Parlamentspräsidentin kritisierte die Äußerungen von Nitzsche als "undemokratisch und falsch".
Der Präsident des Europaparlaments, Hans-Gert Pöttering (CDU), trat Bedenken gegen den Vertrag von Lissabon entgegen. "Dieser Vertrag bringt mehr Demokratie, mehr Transparenz, löst mehr Probleme oder bietet die Grundlage dafür, mehr Probleme zu lösen", so Pöttering.
IPPNW: Sicherheitspolitisch wird Aufrüstung zur Verfassungsverpflichtung erhoben Die Ärzteorganisation IPPNW hatte die Mitglieder des Deutschen Bundestages im Vorfeld der Abstimmung aufgefordert, den neuen EU-Vertrag abzulehnen. In ihrem Brief an die Abgeordneten warnte die IPPNW: "Einmal beschlossen wird es für die nationalen ParlamentarierInnen kein Zurück geben." Die IPPNW, die sich seit über 25 Jahren für Frieden und gegen atomare Bedrohung einsetzt, kritisiert den Lissabon-Vertrag in vier zentralen Punkten. So sei der EURATOM-Vertrag an den allgemeinen EU-Vertrag angekoppelt. "Sein Inhalt, die Förderung der atomaren Energiegewinnung, läuft dem Atomausstiegs-Konsens zuwider und ist ein energiepolitischer Anachronismus", so die IPPNW. Ein Quasi-Verfassungsvertrag dürfe einer zukunftsorientierten Energiepolitik nicht im Weg stehen.
"Sicherheitspolitisch wird Aufrüstung zur Verfassungsverpflichtung erhoben", kritisiert die Friedensorganisation. So schreibe Artikel 49 fest: "Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern." Die IPPNW hält eine solche Vertragsklausel für "einseitig und gefährlich kurzsichtig, kurz: nicht zeitgemäß". Selbst Befürworter einer militärischen Entwicklung müssten sich die "Möglichkeit zur Rüstungsbeschränkung und Abrüstung erhalten".
Hinzu komme, dass laut Reformvertag Entscheidungen über Militäreinsätze zunehmend der parlamentarischen Kontrolle entzogen werden würden. Das demokratische Grundprinzip der Gewaltenteilung werde schrittweise verlassen, kritisiert die IPPNW. "Ausnahmen vom Parlamentsvorbehalt mag man in akuten Gefahrsituationen für notwendig halten - seine strukturelle Aushöhlung wird aber nicht nur das Streben nach militärischen Lösungen von Problemen fördern, die eigentlich kausaler Ansätze bedürfen, sondern sie führt zurück in vor-demokratisches Denken."
Die IPPNW kritisiert auch die vertragliche Festlegung einer umfassenden Liberalisierung der Wirtschaft, einschließlich des Kapitalverkehrs und öffentlicher Dienstleistungen. "Wie die aktuelle internationale Finanzkatastrophe zeigt, gefährden wirtschaftspolitische Extreme wie ungezügelter Marktliberalismus nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die politische Stabilität und Sicherheit, mit völlig unüberschaubaren Konsequenzen."