Der Effekt des "negativen Stimmgewichts" sei bei der Dresdner Nachwahl offenkundig geworden, die wegen des plötzlichen Todes der NPD-Direktkandidatin im Wahlkreis 160 in Dresden nötig wurde. Die 219 000 Wahlberechtigten durften erst zwei Wochen nach der Bundestagswahl vom 18. September 2005 wählen und konnten - da sie das Ergebnis der übrigen Wähler kannten - ihre Zweitstimme taktisch einsetzen.
Ihnen war aus der Presse bekannt, dass die Union bei einem zu guten Zweitstimmenergebnis im Wahlkreis 160 ein schon sicher geglaubtes Mandat in den alten Ländern wieder verlieren würde. Dies ergab die Berechnung der Überhangmandate. Die CDU hätte bei einer Zweitstimmenzahl von mehr als 41.225 Stimmen in Dresden bundesweit ein Mandat verlieren können. Deshalb gab eine ganze Reihe von CDU-Anhängern offenbar ihre Stimme der FDP.
Das Resultat: Die Liberalen erreichten in Dresden ihr bestes Wahlkreisergebnis bei dieser Bundestagswahl. Die Union gewann zwar das Direktmandat im Wahlkreis 160, hatte jedoch ein ungewöhnlich niedriges Zweitstimmenergebnis von nur 38.208 Stimmen, das sich deutlich von den 57.931 Erststimmen unterschied. Letztlich konnte die CDU aber ihren Vorsprung vor der SPD-Fraktion im neuen Bundestag von drei auf vier Mandate ausbauen.
Die beiden Kläger wenden sich nicht direkt gegen die Dresdner Nachwahl, wie eine Gerichtssprecherin betonte. Sie halten aber die im Bundeswahlgesetz verankerte Möglichkeit des negativen Stimmgewichts für verfassungswidrig, weil dadurch "die Freiheit und Unmittelbarkeit der Wahl verletzt" werde. Der Wählerwille werde ins Gegenteil verkehrt, wenn ein Wähler bei der Stimmabgabe für "seine" Partei befürchten müsse, dieser zu schaden.
Nach Ansicht des Vorsitzenden des Wahlprüfungsausschusses des Bundestages, Thomas Strobl (CDU), hat sich das seit 50 Jahren geltende Wahlsystem bewährt. Das Bundeswahlgesetz sei zudem an Veränderungen etwa im Zuge der Wiedervereinigung angepasst worden.
Mellinghoff äußerte sich jedoch kritisch. Da der Effekt des negativen Stimmgewichts auch vom Entstehen von Überhangmandaten abhänge, seien "tatsächlich nicht alle Parteien gleichermaßen von dem Phänomen betroffen". Kleine Parteien würden meist gar keine Wahlkreismandate erringen oder nur so wenige, dass es nicht zu Überhangmandaten kommen könne. Wähler kleiner Parteien nähmen mit ihrer Stimme also praktisch kein Risiko auf sich, ihrer Partei bei der Mandatszuteilung zu schaden - anders als Wähler einer großen Partei.
Gerichtsvizepräsident Winfried Hassemer fragte, ob es realistische Alternativen zur bestehenden Regelung gebe. Das Urteil wird in einigen Monaten erwartet.