DIE Internet-Zeitung
Armutslöhne statt Tariflöhne

Europäischer Gerichtshof contra Bundesverfassungsgericht

Am

Die Vergabe von öffentlichen Aufträgen darf nicht in jedem Fall an die Einhaltung von Tarifverträgen gekoppelt werden. So lautet das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 3. April. Gesetze, durch die Arbeitgeber zum Zahlen von Mindestlöhnen gezwungen werden, widersprächen der EG-Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern. Das Urteil stellt das niedersächsische Landesvergabegesetz in Frage, das vorsieht, dass dass Bau-Aufträge nur an Unternehmen vergeben werden dürfen, die ihren Arbeitnehmern Tariflohn zahlen. Die Linksfraktion leitete umgehend eine drastische Forderung aus dem Urteil ab: Der Bundestag müsse "nach dem skandalösen Urteil des EuGH" die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon sofort aussetzen. Zur Begründung gaben die Abgeordneten Diether Dehm und Ulla Lötzer an: "Mit der Absage an die Tariftreue bei öffentlichen Aufträgen wendet sich der EuGH gegen eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das die Tariftreue bei öffentlichen Bauaufträgen als verfassungsgemäß erklärt hat."


Das Oberlandesgericht Celle hatte sich an den Europäischen Gerichtshof gewendet, weil es als Berufungsinstanz in einem Rechtsstreit zwischen einem Bauunternehmen und dem Land Niedersachsen zu entscheiden hat. Das Unternehmen hatte den Zuschlag zum Bau der Justizvollzugsanstalt Göttingen-Rosdorf erhalten und sich verpflichtet, den eingesetzten Bauarbeitern Tariflohn zu zahlen. Diese Regelung galt auch für Nachunternehmen.

Als sich herausstellte, dass eine von dem Bauunternehmen beauftragte polnische Firma weniger als die Hälfte des festgelegten Mindestlohnes zahlt, wurde der Vertrag mit Hinweis auf das niedersächsische Landesvergabegesetz gekündigt. Dieses sieht vor, dass Bau-Aufträge nur an Unternehmen vergeben werden dürfen, die ihren Arbeitnehmern Tariflohn zahlen.

EuGH: Bundesweite Tarifverträge haben weiterhin Gültigkeit - regionale Tarifverträge nicht allgemein verbindlich

Der EuGH erklärte, diese Regelung des Landes Niedersachsen sei mit EU-Recht "unvereinbar". Unterschieden werden müsse zwischen allgemeingültigen Tarifverträgen und Regelungen, die nur regional gültig sind. So müsse sich ein Auftragnehmer bei öffentlichen Ausschreibungen auch weiterhin an vorgeschriebene Tarifbindungen halten, wenn diese bundesweit gelten. Der Bautarifvertrag, um den es im konkreten Fall ging, sei hingegen "nicht für allgemein verbindlich erklärt worden", heißt es in der EuGH-Mitteilung.

Sommer: Urteil konterkariert die europäische Vergabe-Richtlinie von 2004

Nach Ansicht von DGB-Chef Michael Sommer konterkariert das Urteil die europäische Vergabe-Richtlinie von 2004. Darin sei festgelegt worden, "dass bei der Vergabe öffentlicher Aufträge ein Mitgliedstaat auch soziale Kriterien und Tariftreueregelungen berücksichtigen darf."

Durch "die dogmatische Auslegung der Entsenderichtlinie" werde die Zulässigkeit der niedersächsischen Tariftreueregelungen einschränkt, kritisierte Sommer. "Der Gerichtshof akzeptiert in diesem Fall nicht, dass es in Bezug auf Vergaberegelungen einen zwingenden Arbeitnehmerschutz geben kann, der höhere Löhne vorsieht als nur den Mindestlohn nach Entsenderichtlinie."

Wiesehügel: Ein weiterer Schritt hin zum Raubtierkapitalismus

Die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) hält die Feststellung des EuGH, dass die Verpflichtung zur Tariftreue bei der Vergabe öffentlicher Aufträge sowohl gegen die Entsenderichtlinie als auch gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoße, für falsch. Tariftreuegesetze dienten dem Schutz der Arbeitnehmer, der Sozialsysteme und des fairen Wettbewerbs, so IG BAU-Chef Klaus Wiesehügel.

"Dieses Urteil ist verheerend für die Bauwirtschaft. Es ist ein weiterer Schritt hin zum Raubtierkapitalismus, der dazu führen wird, dass die Bürger Europa endgültig ablehnen", meint Wiesehügel. "Bundesregierung und Europäische Kommission sind aufgefordert, schleunigst dafür zu sorgen, dass Tariftreuegesetze europarechtlich möglich sind."

Es sei nie die Absicht des europäischen Gesetzgebers gewesen, mit der Entsenderichtlinie Höchstbedingungen zu verabschieden, sondern einen Mindestschutz für entsandte Arbeitnehmer zu garantieren, so Wiesehügel. "Das hat der europäische Generalanwalt Yves Bot in seinen Schlussanträgen vom September 2007 zu Recht betont."

Den Mitgliedstaaten solle also gestattet sein, die Einhaltung von Tariflöhnen bei der Ausführung von öffentlichen Aufträgen zu verlangen, solange sie dies diskriminierungsfrei tun. Dies habe eine Reihe von Bundesländern durch Tariftreuegesetze getan. "Dazu gehören Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, das Saarland und Schleswig-Holstein", so Wiesehügel. Rheinland-Pfalz sei gerade dabei, ein Tariftreuegesetz einzuführen.

Landsberg: Dem wirtschaftlichsten Bieter den Zuschlag zu erteilen

Der Deutsche Städte- und Gemeindebund stellte fest, dass der EuGH mit dem Urteil einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2006 widersprochen hat.

Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, sieht das positiv: "Die Vergabe öffentlicher Aufträge ist von dem Ziel geleitet, dem wirtschaftlichsten Bieter den Zuschlag zu erteilen. Hiermit nicht vereinbar sind vergabefremde und nicht leistungsbezogene Aspekte."

Hinzu komme, dass für die Kommunen als größtem öffentlichen Auftraggeber mit der Einhaltung von Tariftreueerklärungen "erhebliche bürokratische und kostenintensive Aufwendungen" verbunden seien, die die Vergabe öffentlicher Bauaufträge um bis zu 5 Prozent verteuerten. Dies sei "nicht zu rechtfertigen", meint Landsberg, der selbst keinen Niedriglohn bezieht.

An den deutschen Gesetzgeber appellierte Landsberg, bei der aktuell anstehenden Reform des Deutschen Vergaberechts von einer Ausweitung auf "vergabefremde Aspekte, insbesondere im Sozialbereich", abzusehen.

Die Erfahrungen mit inzwischen wieder aufgehobenen Tariftreuegesetzen, etwa in Nordrhein-Westfalen, hätten gezeigt, dass die "erheblichen Schwierigkeiten" bei der Prüfung der anzuwendenden Tarifverträge im Ergebnis nur zu "unnötigem" Bürokratismus und zu Kostensteigerungen, nicht aber zum Schutz von Sozialstandards geführt hätten, so Landsberg.

Bundesregierung bereitet eigenes Vergabegesetz für Bundesaufträge vor

Niedersachsens Wirtschaftsstaatssekretär Joachim Werren sagte in Hannover, das 2002 verabschiedete Landesvergabegesetz werde nach dem EuGH-Urteil nun aufgehoben. Die Bundesregierung bereitet ein eigenes Vergabegesetz vor, das vom Bund beauftragte Unternehmen zur Einhaltung von Tarifverträgen zwingen soll. "Ich bin sicher, dass wir eine Tarifbindung der Unternehmen als Vergabekriterium rechtskonform ausgestalten werden", sagte Rainer Wend, wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.

Noch im Frühjahr solle ein entsprechender Entwurf vorgelegt werden. Uneins seien Union und SPD zurzeit noch, ob die Tarifbindung unabdingbare Voraussetzung für die Auftragsvergabe sein soll.

Linksfraktion fordert neues Protokoll für EU-Vertrag zum Sozialstaatsprinzip

Der Linksabgeordnete Dehm verlangt, dass die Ratifizierung des neuen EU-Vertrages erst fortgesetzt werden soll, "wenn sich die Europäischen Regierungen auf ein zusätzliches Protokoll geeinigt haben, in dem eindeutig geregelt wird, dass die wirtschaftlichen Grundfreiheiten des EU-Rechts die mitgliedsstaatlichen Grundrechte und die Grundwerte der Verfassungen, wie das Sozialstaatsprinzip, nicht aushebeln dürfen." Es sei nicht hinzunehmen, dass über die Europäische Union und den EuGH Gesetze wie das Niedersächsische Landesvergabegesetz aufgehoben würden, die die Vergabe öffentlicher Aufträge an die Einhaltung von Tarifverträgen binden. "Durch eine Präzisierung der Europäischen Verträge muss das in Zukunft ausgeschlossen werden", fordert Dehm.

Das Urteil sei sozialpolitisch und lohnpolitisch ein Schlag ins Gesicht von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, "die durch die Definition von freier Marktgestaltung innerhalb der Rechtsprechung des EuGH immer weiter unter die Räder kommen", meint Dehm. Die Bundesregierung müsse endlich ihre Verweigerungshaltung gegen die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen aufgeben. Zur Sicherung der Tarifstandards in Deutschland müssten sofort Gegenmaßnahmen "gegen dieses Skandalurteil" eingeleitet werden.

Lötzer forderte die Bundesregierung auf, für eine Klarstellung in der Europäischen Vergaberichtlinie zu sorgen, wonach Tariftreue auch bei nicht allgemein verbindlichen Tarifverträgen auch bei staatenübergreifenden Auftragsvergaben verbindlich vorgeschrieben wird.

Auswahl an Beiträgen zu den Stichworten