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"Selbstbetrug des eigenen Gewissens"

Ärzte kritisieren eine fortschreitende Ökonomisierung des Gesundheitssystems

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Auf einem Kongress der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) kritisierten viele der rund 1000 Teilnehmer und 70 Referenten am Wochenende eine "fortschreitende Ökonomisierung des Gesundheitssystems". Auf dem Kongress mit dem Titel "Medizin und Gewissen - Im Streit zwischen Markt und Solidarität" wurde statt dessen für mehr "Solidarität zwischen Ärzten, Pflegern und Patienten" geworben. "Es herrschte unter den Teilnehmern weitgehend Einigkeit darüber, dass in der derzeitigen Debatte zu sehr über ökonomische Aspekte diskutiert wird", so Stephan Kolb, Mitorganisator des Kongresses. Ein Mensch, gerade als Patient, dürfe nicht auf sein Dasein als homo oeconomicus reduziert werden. Der Reformbedarf im Gesundheitssystem werde dabei keinesfalls ignoriert, es komme aber darauf an, dass Effizienzsteigerungen und Kosteneinsparungen nicht zulasten von Patienten und Ärzten erreicht würden.


Unübersehbar habe sich in den letzten Jahren auch in der Gesundheitspolitik ein "Trend zur Kommerzialisierung und Gewinnorientierung" der Medizin durchgesetzt, der bereits seit Jahren in der Gesetzgebung angelegt sei und der in der Praxis in zunehmendem Maß vollzogen werde: Reduktion von Leistungen, Ausweitung der Eigenfinanzierung und Instrumentalisierung der Arzt-Patienten-Beziehung.

Ökonomische Denkmodelle würden unkontrolliert und unreflektiert auf den medizinischen Bereich angewandt, kritisiert die Ärzteorganisation IPPNW. "Das halten wir jedoch für unzulässig, denn Gesundheit und Krankheit sind keine marktfähigen Waren und PatientInnen keine Kunden."

"Trend zu Basisversorgung und Privatisierung"

Die "bisher relativ umfassende Gesundheitsversorgung" werde in Richtung Basisversorgung reduziert und der Spielraum für privat finanzierte Gesundheitsleistungen damit vergrößert. Immer häufiger würden Gesundheitskosten nicht mehr von der Solidargemeinschaft der gesetzlich Versicherten übernommen, sondern dem Einzelnen aufgebürdet. "Will er eine umfassende Gesundheitsversorgung erhalten, muss er diese aus eigener Tasche finanzieren oder eine private Zusatzversicherung abschließen. So wird es zwangsläufig eine Frage des Geldbeutels sein, wer künftig noch Zugang zu welchen Leistungen haben wird", so die IPPNW.

Begründet würden diese Maßnahmen mit dem Zwang, auf die ständig wachsenden Ausgaben im Gesundheitssektor zu reagieren. Nicht selten werde sogar von einer "Kostenexplosion" im Gesundheitswesen gesprochen, die bedingt sei durch den demographischen Wandel und den technologischen Fortschritt. "Schaut man jedoch genauer hin, so stellt sich die Kostenexplosion als Märchen heraus."

Auch werde im Rahmen der Gesundheitsreformen gerne von "verstärkter Eigenverantwortung" gesprochen. Die Menschen sollten mehr Verantwortung für ihren Gesundheitszustand übernehmen. Das sei sicher ein wichtiges Ziel, meinen die Ärzte, gerade bei der Prävention von Krankheiten bestehe noch ein großer Förderungsbedarf. Allerdings dürfe das weder zu "undifferenzierten Schuldzuweisungen und Leistungsverweigerungen" führen, noch dürfe der Begriff allein "im Sinne einer rein finanziellen Verantwortung" verstanden werden. "Denn dann bedeutet er schlicht und einfach Ausgrenzung."

Uminterpretation des "Medizinisch Notwendigen

Rein rechtlich sei den Versicherten in Deutschland durch das SGB V das Recht auf "das medizinisch Notwendige" gesichert. Allerdings finde eine stetige Veränderung der gesetzlichen Interpretation des Begriffs der "Notwendigkeit" medizinischer Leistungen statt. Während "notwendig" lange Zeit noch als das verstanden worden sei, was medizinisch "möglich" war, würden "notwendige" Leistungen jetzt immer öfter im Sinne einer medizinischen Basisversorgung interpretiert.

"Diese Umdeutung des zentralen Begriffs der 'Notwendigkeit' und die damit einhergehende Reduzierung der Leistungen im allgemeinen Leistungs­katalog der GKV bringen im Alltag von Klinik und Praxis viele Ärztinnen und Ärzte in gravierende Gewissenskonflikte", kritisiert die IPPNW. Sie müssten sich selbst und ihren Patienten gegenüber immer öfter die Verweigerung von Leistungen "recht fertigen oder diese verschleiern". Die Folge seien Anpassungs- und Gewöhnungsprozesse und mit der Rechtfertigung den Patienten gegenüber gehe nicht selten "der Selbstbetrug des eigenen Gewissens" einher.

Kolb: "Ein gerechtes, bezahlbares und trotzdem effektives System"

"Es liegen zahlreiche Vorschläge auf dem Tisch", sagte Stephan Kolb nach Abschluss des Kongresses. Die Veranstaltung habe gezeigt, dass die am medizinischen Bereich Beteiligten sehr kreativ und fachkompetent Auswege aus der schwierigen Situation aufzeigen könnten. "Eine Zweiklassenmedizin, in der vor allem sozial schwache Menschen am Ende die Verlierer sein werden, ist das Gegenteil davon", so Kolb. Allerdings sei dafür der politische Wille der Entscheidungsträger nötig.

Es gebe gute Beispiele für Alternativen für ein "gerechtes, bezahlbares und trotzdem effektives System", meint Kolb. Man müsse stärker hin zu einer grundsätzlichen Orientierung ärztlichen Handelns an der körperlichen wie psychischen Not des Einzelnen. Eine weitere "Verschlankung" des Begriffs des "medizinisch Notwendigen" und damit eine faktische Ausgrenzung medizinischer Leistungen für zunehmend größere Bevölkerungsgruppen "wird von unserer Seite scharf kritisiert".

Vor allem der Erhalt und die Stärkung des Gedankens der Solidarität im Gesundheitswesen sei ein zentrales Anliegen. Angesichts der unübersehbaren Finanzierungsprobleme der Gesetzlichen Krankenversicherung sei eine "beherzte Veränderung der Einnahmestruktur" zwingend.

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