Bundesstaatliche Hilfeleistung durch Mittel zur Sanierung sei nur "als Ultima Ratio (letztes Mittel) erlaubt". Dies sei aber nur dann zulässig und geboten, wenn die Haushaltsnotlage eines Landes im Verhältnis zu den übrigen Ländern als extrem zu werten sei. Außerdem müsse sie auch absolut ein so extremes Ausmaß erreicht haben, dass ein bundesstaatlicher Notstand im Sinne einer "Existenzbedrohung des Landes" eingetreten sei.
Es sei dem Berliner Senat jedoch "nicht gelungen, die Alternativlosigkeit von Sanierungshilfen hinreichend plausibel zu begründen". Das Verfassungsgericht bemängelte die "hohen Ausgaben" Berlins. Zu vermuten seien "noch nicht ausgeschöpfte Einsparpotenziale in erheblichem Umfang", heißt es in dem 109 Seiten umfassenden Urteil. (AZ: 2 BvF 3/03 - Urteil vom 19. Oktober 2006)
Reaktionen Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) zeigte sich enttäuscht: "Jetzt müssen wir den Schuldenberg allein bewältigen." Zum Hinweis des Gerichts, Berlin könne weiteres Vermögen verkaufen, sagte Wowereit: "Davon haben wir reichlich Gebrauch gemacht, sonst wäre der Schuldenstand nicht bei 61, sondern bei 80 Milliarden Euro."
Auch hinsichtlich der Sparmöglichkeiten bei den Kulturausgaben zeigte sich der Bürgermeister skeptisch. "Es macht keinen Sinn, dass die Kultur in Berlin sich auf das Niveau einer Kleinstadt reduziert." Er werde allerdings mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Kulturstaatsminister Bernd Neumann verhandeln, inwieweit der Bund dem Land Berlin hier helfen könne. Vielleicht könne etwa die Staatsoper in die Regie des Bundes überführt werden.
Berlins Finanzminister Thilo Sarrazin hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegen Finanzhilfen für Berlin scharf kritisiert. Das Gericht habe "nicht gewürdigt", dass die meisten der bereits eingeleiteten Maßnahmen wie Personalabbau "mehr Zeit brauchen", um in der Finanzbilanz des Landes wirksam zu werden, sagte Sarrazin am Donnerstag im Nachrichtensender N24. Derartige Sparanstrengungen des Landes seien bei der Karlsruher Urteilsfindung offenbar unberücksichtigt geblieben. Sarrazin fügte hinzu: "Das Gericht denkt innerhalb recht kurzer Zeiträume."
Die Gerichtsentscheidung bedeute "eine ganz harte Anspannung". Ob und welche zusätzlichen Kürzungen künftig geplant seien, wollte Sarrazin noch nicht sagen.
BDI-Präsident Jürgen R. Thumann sagte zu der Entscheidung: "Das ist eine herbe Nachricht für das Land Berlin." Mit der Abweisung der Klage des Landes Berlin stärke das Bundesverfassungsgericht aber "die Verantwortung der Bundesländer für ihr wirtschaftliches Handeln". Damit könnten die Länder, die ihren Haushalt in Ordnung halten, sich klare "Wettbewerbsvorteile erarbeiten, von denen Bürger und Unternehmen in dem jeweiligen Bundesland profitieren. Diese Stärkung der finanziellen Eigenverantwortung sollte nun auch Leitlinie für eine Reform des Länderfinanzausgleichs werden."
Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) sagte, jedes Bundesland stehe in der Verantwortung, seine Finanzprobleme selber in den Griff zu bekommen. Er werde sich bei den Verhandlungen über die Föderalismusreform II für Regelungen einsetzen, die künftig "haushaltswirtschaftliche Schieflagen verhindern". Die Mittel dafür seien ein Frühwarnsystem und eine gesetzlich verankerte Schuldenbremse.
Auch Niedersachsens Regierungschef Christian Wulff (CDU) sagte: "Wir sollten gemeinsam vereinbaren, wie die Bundesländer ihre Schulden auf Null zurückführen - und wie anschließend mit neuen Schulden umzugehen ist." Klar sei bereits, dass der Berliner Senat seine Konsolidierungsanstrengungen deutlich erhöhen müsse. Ähnlich äußerten sich Hessens Ministerpräsident Roland Koch und Thüringens Regierungschef Dieter Althaus (beide CDU).
Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) nannte das Karlsruher Urteil einen "Sieg solider Finanzpolitik". Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) sagte: "Solange sich Länder in ihrem Bereich Ausgaben leisten, die sich andere Länder bundesweit nicht leisten solange kann man erhöhte Sonderzuweisungen nicht begründen."
Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) forderte, die "breite Mehrheit der großen Koalition im Bundestag und im Bundesrat" müsse jetzt für einen "nationalen Stabilitätspakt" genutzt werden. Stoiber forderte eine rasche Aufnahme der Verhandlungen über eine neue Ordnung der Finanzbeziehungen. Die Maßstäbe seien dabei "klare Schuldengrenzen mit einem Schuldenverbot, Sanktionen bis hin zu Geldstrafen bei einem Verstoß nach dem Vorbild des EU-Stabilitätspakts und ein Frühwarnsystem gegen Haushaltskrisen". Bayern hatte vor Jahrzehnten massiv vom Länderfinanzausgleich profitiert.
Der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) sagte, Berlin habe kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem.
Das Bundesfinanzministerium sieht sich durch das Urteil bestätigt und kaum noch Erfolgschancen für die Klagen von Bremen und dem Saarland in Karlsruhe. "Das Gericht hat deutlich gemacht, dass Sanierungshilfen nur als Ultima Ratio gewährt werden dürfen, wenn zuvor alle anderen Möglichkeiten der Abhilfe erschöpft wurden", sagte die Parlamentarische Staatssekretärin Barbara Hendricks (SPD). Beide Länder kündigten jedoch ein Festhalten an ihrer Klage an.
Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) sagte, mit dem Urteil sei für Berlin eine "sehr schwierige Situation" eingetreten. Es sei jetzt mehr denn je im Interesse beider Länder, stärker als bisher Kooperationsmöglichkeiten zu nutzen.
Die Links-Politiker Sahra Wagenknecht und Tobias Pflüger (beide Europaparlament) sowie Nele Hirsch und Ulla Jelpke (beide Bundestagsabgeordnete) vertraten die Auffassung, dass die rot-rote Senatspolitik der vergangenen Jahre nun "endgültig ad absurdum geführt" sei. "Die Hoffnung, durch eine rabiate Sparpolitik das Bundesverfassungsgericht dazu zu bewegen, die Haushaltsnotlage der Stadt anzuerkennen, hat sich mit dem heutigen Urteil zerschlagen. Berlin kann nicht auf Finanzhilfen des Bundes zur Entspannung seiner Haushaltssituation setzen."
"Wenn die soziale Kahlschlagspolitik der vergangenen Jahre immer noch nicht ausreicht, um Bundeshilfen zu akquirieren, dann muss die Stadt offensichtlich vollends kaputt gespart und sämtliches öffentliches Eigentum verschleudert werden, bis es so weit ist", kritisieren die vier Politiker. SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin habe bereits in den vergangenen Tagen vorgezeichnet, wie er sich die zukünftige Senatspolitik vorstelle: "Der vollständige Ausverkauf des öffentlichen Wohnungsbestandes ist dabei nur einer der Pläne. Kürzungen bei behinderten Menschen ein anderer." Tabus dürfe es nicht mehr geben.
"Eine solche Politik mitzutragen, verbietet sich für eine linke Partei", appellieren die Politiker an ihre Kollegen in Berlin. Bereits in der Vergangenheit habe der neoliberale Kurs des rot-roten Senats für die Linke zu einem "massiven Vertrauensverlust" geführt. Das hätten die Wahlergebnisse überdeutlich gezeigt. Jetzt unter dem Vorzeichen einer noch schärferen Spar- und Privatisierungspolitik erneut in die Koalition einzutreten, "wäre politischer Selbstmord und eine Entscheidung mit katastrophalen Konsequenzen für die Perspektive der neuen Linken insgesamt." Die Linke habe in Berlin schon viel zu viel Glaubwürdigkeit verloren. "Mit neoliberalen Spar- und Privatisierungsfanatikern vom Schlage Sarrazin und Co. darf es keine Neuauflage der Koalition geben."
Der einstige Berliner Wirtschafts-Senator und derzeitige Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Gregor Gysi, kritisierte, dass das Bundesverfassungsgericht Anfang der 1990iger Jahre dem Saarland und dem Stadtstaat Bremen Bundeshilfen wegen einer Haushaltsnotlage zugebilligt habe. "Beide Länder waren in keiner schwierigeren Situation als Berlin heute. Einem Vergleich hält die heutige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht stand", so Gysi.
"Schon vor fünf Jahren hatte ich eine Hauptstadtkommission empfohlen, weil in ganz Deutschland, das heißt von Schleswig-Holstein bis Bayern klar gemacht werden muss, was das ganze Land von einer funktionierenden Hauptstadt hätte. Leider ist dies nicht geschehen. Aus unserer Geschichte heraus wird die Hauptstadt vielfach als Last empfunden." Das spiegele sich auch in der Einstellung der Verfassungsrichter wider. Ihre Auffassung, wonach der Stadtstaat Hamburg weniger Geld für Hochschulen, Wissenschaft und Kultur ausgebe als Berlin, zeige, dass das Wesen einer Hauptstadt nicht begriffen worden sei. Gerade in einer Hauptstadt müsse es für die Bereiche Wissenschaft und Kultur die stärksten Investitionen geben, meint der Politiker.
In der Zeit des Kalten Krieges habe es viel Solidarität mit Berlin gegeben, von der kaum etwas übrig geblieben sei.
Der Berliner Senat sollte sich durch das Bundesverfassungsgericht aber nicht zu einer neoliberalen Politik verführen lassen, fordert Gysi. "Weder dürfen die Investitionen für Hochschulen, Wissenschaft und Kultur gekürzt und auch nicht die landeseigenen Wohnungen verkauft werden." Das bedeutete nämlich, die politische Verantwortung aufzugeben. Wenn die Politik irgendwann einmal alles verkauft hätte, hätte sie auch nichts mehr zu entscheiden und brauchte sich über geringe Wahlbeteiligungen zumindest nicht mehr zu wundern.
"Selbstverständlich" bleibe es die "Aufgabe der Bundesregierung, die Hauptstadtfunktionen zu bezahlen, die mit dem Land und der Kommune Berlin nichts zu tun haben. Hier muss endlich Gerechtigkeit hergestellt werden", so Gysi.
Perspektive des Wirtschaftsforschers: Theoretisch in 140 Jahren schuldenfrei
Nach dem Scheitern der Berliner Verfassungsklage auf Sanierungshilfen wird das Land Wirtschaftsexperten zufolge seine "Neuverschuldung" in frühestens sieben Jahren auf null senken können. "Selbst unter der sehr günstigen Annahme, dass die Einnahmen die Ausgaben pro Jahr um 500 Millionen Euro übersteigen, würde Berlin noch sechs Jahre brauchen", sagte der Finanzexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Dieter Vesper, dem "Tagesspiegel".
Rein rechnerisch betrachtet wäre das Land, das derzeit auf einem Schuldenberg von mehr als 60 Milliarden Euro sitzt, in einem solchen Szenario nach 140 Jahren schuldenfrei, so Vesper. Realistisch sei dies aber nicht, sagte er dem Blatt und mutmaßte. "Berlin wird nie schuldenfrei sein."