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"Schlampereien in Biblis"

Gabriel lässt Atomkraftwerke weiter laufen und weiter prüfen

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Die deutsche Bundesregierung hat sich in ihrer Kabinettsitzung am Mittwoch darauf verständigt, keine deutschen Atomkraftwerke vom Netz zu nehmen, da der Störfall im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark vom 25. Juli "nicht eins zu eins übertragbar" sei. Dennoch werfe der Störfallablauf "eine Reihe von Fragen auf, die wir sorgfältig klären müssen", sagte Bundesumweltminister Sigmar Gabriel. Eine weitere sicherheitstechnische Überprüfung der deutschen Atomkraftwerke sei notwendig. Das sei das Ergebnis einer Umfrage bei den für die Atomaufsicht zuständigen Länderministern. Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW warf den Behörden vor, sie konzentrierten sich auf elektrische Schaltpläne und setzten dabei voraus, dass bei Wartungsarbeiten keine Fehler gemacht würden, "die die Sicherheitssysteme jederzeit außer Kraft setzen können". Das gehe aber an der Praxis in den deutschen Atomkraftwerken völlig vorbei. "Zeitdruck, Hetze, Planungsfehler, Montagefehler, Prüffehler, der Einsatz von Hilfskräften und Leiharbeitern, überfordertes Personal, 10-Stunden-Schichten und mehr in Strahlenbereichen, Nachtschichten, unzureichende Kontrollen durch die TÜVs, die Verzögerung von sicherheitstechnisch wichtigen Reparaturen und Prüfungen" - das sei die Realität in den deutschen Atomanlagen.


Nach Auffassung von Gabriel muss nach der "vorläufigen Stellungnahme der Bundesländer" jetzt eine detaillierte Abarbeitung der Fragen des Bundesumweltministeriums stattfinden. Prinzipiell müsse für die bundesdeutschen Atomkraftwerke geklärt werden, "was passiert, wenn von außerhalb der Anlage Überspannungen eingetragen werden und welche Auswirkungen in die anlageninternen Netze hinein möglich sind." Dazu sei auch ein Abgleich nötig zwischen den jeweiligen Anlagenunterlagen und "dem tatsächlichen Ist-Zustand" der Anlagen. "Die Frage ist: Kann durch einen Kurzschluss oder einen Blitz ein Zustand entstehen, durch den Sicherheitseinrichtungen der Atomkraftwerke unwirksam werden", so Gabriel.

Auch in Schweden werde unter anderem noch der Frage nachgegangen, wie es zu einem Ausfall der zur Steuerung des Reaktors notwendigen Anzeigen habe kommen können. Deshalb, so der Bundesumweltminister, können auch alle Einschätzungen zur Übertragbarkeit des Vorfalles nur vorläufig sein.

Gabriel: "Der Störfall war von keiner Sicherheitsanalyse zuvor erfasst worden"

Gabriel betonte, dass der Störfall in Schweden "von keiner Sicherheitsanalyse zuvor erfasst worden ist". Dies zeige, "dass die Atomkraft derart komplex ist, dass derartige Vorfälle zu den systembedingten Risiken der Technik gehören". Es sei gar nicht möglich, im Vorhinein alle praktisch auftretenden Möglichkeiten zu untersuchen, so der Bundesumweltminister. "Das, was wir hier erleben, learning by doing, gehört zum Normalfall der Nutzung der Atomenergie. Und genau das ist das Problem dieser Energieform", sagte Gabriel.

Das Bundesumweltministerium sieht offenbar insbesondere Probleme bei älteren Reaktoren. So forderte Gabriel die deutschen Atomkraftwerkbetreiber auf, von der im Atomgesetz vorgesehenen Übertragung von Reststrommengen von älteren auf neuere, modernere Reaktoren Gebrauch zu machen. "Das würde einen Beitrag zur Sicherheit in Deutschland leisten", so Gabriel.

Nach Auskunft des Bundesumweltministeriums waren sowohl die Bundesatomaufsicht als auch die Landesbehörden schon zwei Tage nach dem Störfall am 27. Juli informiert. Trotz der sehr seltenen Einstufung des Störfalls in die INES-Stufe 2 und einer offenbar bereits vorliegenden "Kurzbeschreibung" schien keine der Aufsichtsbehörden die Brisanz des Störfalls bemerkt zu haben. Am Donnerstag, den 3. August, habe dann eine "vorläufige Analyse des Störfalls" vorgelegen.

Das System der staatlichen Atomaufsicht in Deutschland soll im kommenden Jahr durch ein Experten-Team der IAEA überprüft werden. "Das ist in anderen Ländern wie Frankreich oder Großbritannien längst üblich", so Gabriel. Die IAEA überprüft bei diesen Untersuchungen die in einem Land existierende Struktur daraufhin, ob sie im internationalen Vergleich verbessert werden kann. "Wir wollen uns als Bund dieser Überprüfung selbst unterziehen, gehen aber davon aus, dass das auch im Interesse der Länder ist. Das ist mit Sicherheit kein geeignetes Thema für föderale Profilierungssuche", sagt Gabriel.

Die Atomwirtschaft hielt sich mit Kommentaren zu den Bewertungen zurück. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace sagte, es sei "falsch, wenn die Minister aus den unionsgeführten Bundesländern behaupten, ein solcher Störfall wie in Forsmark, Schweden, vor zwei Wochen könnte hier in Deutschland nicht passieren. Denn bis heute ist die Ursache für den Störfall unklar." Der entscheidene Bericht über den Hergang des Störfalls, den die schwedische Atomaufsichtsbehörde (SKI) vom Betreiber Vattenfall gefordert habe, liege noch nicht vor.

Deshalb dürfe man einen ähnlichen Verlauf für andere Atomkraftwerke nicht ausschließen. Zudem gebe es auch in Deutschland Wechselrichter, die in der schwedischen Anlage Teil des Problems gewesen seien.

IPPNW: Fehler bei Wartungsarbeiten können zum Super-GAU führen

Vor dem Hintergrund, dass im schwedischen Forsmark angeblich Wartungsarbeiten die Ursache für den Kurzschluss waren, kritisierte die IPPNW die bei der Wartung der deutschen Atomkraftwerke auftretenden Fehler. Die Organisation führt diese Fehler auch maßgeblich auf den "Kostendruck im Zuge der Liberalisierung der Energiewirtschaft" zurück. Deswegen seien die so genannten Revisionszeiten in den deutschen Atomkraftwerken zur Durchführung von Wartungsarbeiten "drastisch verkürzt" worden. In Neckarwestheim habe man die Zeit vor einigen Jahren von 33 auf 17 Tage verkürzt. Faktisch blieben dann noch rund 10 Tage für Wartungsarbeiten.

Siemens habe vor Jahren verkündet, Arbeiten am Schnellabschaltsystem im Atomkraftwerk Isar-1 - unter Beteiligung von "Hilfskräften" - "in Rekordzeit" durchgeführt zu haben. Im Atomkraftwerk Neckarwestheim 1 habe Siemens 1998 für das Schnellabschaltsystem die digitale Leittechnik TELEPERM XS nachgerüstet. Der Atomkraftwerkshersteller habe von einem "Rekord" und von einem "Traumstart" gesprochen, weil das neue System in nur 19 Tagen installiert worden sei. Am 10. Mai 2000 sei es dann aufgrund der neuen digitalen Leittechnik zu einer Blockade der für eine Reaktorschnellabschaltung erforderlichen Steuerstäbe gekommen.

Auch in Forsmark-3 habe Siemens TELEPERM XS im Bereich der Steuerstabsteuerung nachgerüstet. "Glücklicherweise wurde am 25. Juli in Forsmark-1 und nicht in Block 3 das Schnellabschaltsystem angefordert", kommentierte die IPPNW.

Die IPPNW hatte das Bundesumweltministerium eigenen Angaben zufolge schon vor Jahren vor neuen "Instandhaltungskonzepten" gewarnt, "zu denen auch gehört, dass man den Prüfaufwand von Sicherheitssystemen reduziert und Reparaturarbeiten zeitlich verschiebt, um kurze Revisionen zu erreichen". Umweltminister Jürgen Trittin habe am 20. Dezember 1999 die Kritik bestätigt.

Trittin schrieb an die IPPNW: "Es trifft zu, dass in jüngerer Zeit die Revisionszeiten in Atomkraftwerken insbesondere durch Verringerung von Wartezeiten für das Personal durch Optimierung der Arbeitsplanung nennenswert verkürzt wurden und damit Kosteneinsparungen bei den Betreibern erreicht werden." In der Sache habe sich aber nichts geändert, kritisiert die IPPNW. Trittin habe sich auch ausdrücklich geweigert, 10-stündige-Arbeitsschichten in Strahlenbereichen bei der Prüfung und Reparatur von Sicherheitssystemen zu verbieten.

"Dass in deutschen Atomkraftwerken alles gründlich geprüft und gewartet werde, mag man zwar gerne der Öffentlichkeit erzählen, mit der Realität hat das allerdings nichts zu tun, wie uns auch ehemalige Beschäftigte der Atomwirtschaft bestätigten", teilte die atomkritische Organisation in einer Stellungnahme mit. Der neue Umweltminister müsse jetzt diesen "Unsicherheitszustand" beseitigen. Die Wartung von Atomkraftwerken soll nach Auffassung der Atomkritiker "durch ein Bundesgesetz geregelt werden, welches diese Zustände beseitigt. Um die Anlagen auch nur halbwegs vernünftig prüfen, reparieren und nachrüsten zu können, müssen die Jahresrevisionen mindestens zwei Monate pro Jahr dauern".

Dokumentation: Menschliches Versagen im Atomkraftwerk Biblis

Nach Angaben der IPPNW kommt es auch im Atomkraftwerk Biblis regelmäßig zu schweren Fehlern aufgrund menschlichen Versagens. Die Organisation nennt hierfür zahlreiche Beispiele, die wir wie folgt dokumentieren:

  • Am 3. Oktober 1989 war die Notstandsstromversorgung von Biblis B für Block A teilweise ausgefallen, weil es bei der Revision von Biblis B zu Fehlern bei Freischaltmaßnahmen kam. Dieser Zustand wurde vom Personal erst nach rund 14 Stunden erkannt und behoben.
  • Am 6. Juni 1990 wurden in Biblis A während der Jahresrevision zwei Schalter verwechselt. Durch den vollständigen Ausfall der Gleichstromversorgung wurden - ähnlich wie in Forsmark - wichtige leittechnische Einrichtungen nicht mehr mit Strom versorgt.
  • Am 23. Januar 1991 wurde in Biblis B ein Brennelement versehentlich in den Reaktorkern transportiert und auf ein dort befindliches anderes Brennelement aufgesetzt.
  • Am 9. September 1993 wurde bei Wartungsarbeiten in Biblis B festgestellt, dass in einem sicherheitstechnisch wichtigen Ventil des Not- und Nachkühlsystems falsche Ventilteile eingebaut worden waren.
  • Im März 1994 brannte in Biblis A der Motor einer Hauptkühlmittelpumpe, weil es aufgrund eines bei Wartungsarbeiten in dem Motor vergessenen Stahlmeißels zu einem Kurzschluss gekommen war.
  • Am 23. Februar 1995 kam es in Biblis B zu einer gefährlichen Leckage. Die betreffende Rohrleitungsstelle war erst wenige Monate zuvor geprüft worden. Hierbei gab es keinerlei Hinweise auf mögliche Schäden.
  • Am 18. August 1997 fielen in Biblis B zwei Nebenkühlwasserpumpen aus, die für die Wärmeabfuhr aus dem Reaktorkern in Betrieb waren. Ursache war ein Lagerschaden an einer Pumpe, der vermutlich durch einen im Laufrad der Pumpe befindlichen Schutzhelm ausgelöst worden war.
  • Bei der Anlagenbegehung von Biblis A am 9. Mai 1999 zur Überprüfung des Notkühlsystems wurden Abweichungen der Siebflächen von der Anlagendokumentation und der Genehmigung weder vom Betreiber noch vom TÜV-Nord erkannt.
  • Am 6. August 2001 riss in Biblis B ein abgebranntes, hochradioaktives Brennelement beim Verladen mit dem Hallenkran auseinander und stürzte ab, weil das Bedienungspersonal des Betreibers das Brennelement nicht hoch genug angehoben hatte.
  • Am 18. Oktober 2001 teilte das Bundesumweltministerium mit, dass in Biblis B Korrosionserscheinungen in den Hauptkühlmitteilleitungen möglicherweise 23 Jahre lang nicht entdeckt wurden.
  • Am 13. März 2002 stürzte in Biblis A eine Ultraschallmesseinrichtung in den gefluteten Reaktordruckbehälterraum.
  • Am 19. Juni 2002 kam es in Biblis B zum Ausfall der Notstandsstromversorgung für Block A, weil elektrische Arbeiten in zwei Schaltern fehlerhaft geplant und entsprechend falsch ausgeführt wurden. - Am 28. August 2002 kam es in Biblis B zum Ausfall der Notstandsstromversorgung für Block A, weil elektrische Arbeiten in einer falschen Redundanz durchgeführt wurden.
  • Am 9. Mai 2004 wurde bei Sonderprüfungen festgestellt, dass Schalter an Komponenten des Notspeisewassersystems fehlerhaft eingestellt waren. Nach Angaben der hessischen Atomaufsicht handelte es sich um eine "systematische Störung", die in Biblis A und B an insgesamt 15 Komponenten gefunden wurde. Der systematische Fehler wurde erst aufgrund von Sonderprüfungen und aufgrund erster Befunde aufgrund weiterer gezielter Prüfungen gefunden.

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