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Arbeitslosen soll zügig alles Geld gestrichen werden können

Fortentwicklungsgesetz

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Die Koalition verschärft den Druck auf die Arbeitslosen. Ihnen sollen bereits nach dreimaliger "Pflichtverletzung", etwa dem Ablehnen eines angebotenen "Jobs", die Leistungen komplett gestrichen werden können, beschloss die Koalition am Mittwoch im Sozialausschuss des Bundestags. Wie der SPD-Arbeitsmarktexperte Klaus Brandner sagte, betrifft dies nicht nur den Regelsatz, sondern auch die Übernahme der Unterkunfts- und Heizkosten. Das so genannte Fortentwicklungsgesetz zu Hartz IV soll am Donnerstag im Bundestag verabschiedet werden. Bislang führte eine wiederholte "Pflichtverletzung" nur zu Kürzungen, wenn dies innerhalb eines Vierteljahres geschah. Künftig soll ein Zeitraum von einem Jahr gelten.


Bei eheähnlichen Gemeinschaften soll künftig die Beweislastumkehr gelten. Die Arbeitsgemeinschaften gehen dann von einer eheähnlichen Gemeinschaft aus, wenn etwa die beiden Erwachsenen länger als ein Jahr zusammenwohnen oder gemeinsame Kinder haben.

Junge Erwachsene unter 25 Jahren dürfen sich nach dem geplanten "Fortentwicklungsgesetz" auf Staatskosten nur noch im Ausnahmefall eine eigene Wohnung nehmen. Sie müssen stattdessen bei ihren Eltern wohnen und erhalten nur 80 Prozent des Regelsatzes.

Um "Leistungsmissbrauch" besser aufzudecken, will die Regierung zudem den Datenabgleich zwischen den Behörden verstärken. Auch sollen Außendienstmitarbeiter die Haushalte stärker überprüfen. Ein solcher Außendienst wird den Behörden gesetzlich vorgeschrieben.

Vorgesehen ist ferner, die bisherige Ich-AG und das Überbrückungsgeld zu einem neuen "Existenzgründungszuschuss" für Arbeitslose zusammenzufassen.

Verfassungswidrigkeit? - "Schweigen"

Die Vertreter der Links-Fraktion verließen bei der Abstimmung im Bundestag aus Protest den Saal. Der Abgeordnete Wolfgang Neskovic sagte, mit den quasi über Nacht eingebrachten Änderungsanträgen zur Verschärfung von Hartz IV entwürdige die große Koalition nicht nur den Bundestag, sondern mache auch das Sozialrecht "in verfassungswidriger Weise zum Feindrecht".

Nach dem Fortentwicklungsgesetz sollten "Arbeitsunwillige" durch Verlust jeglicher Unterstützung einschließlich der Kosten für die Unterkunft "bestraft werden". Zudem werde eine "Stallpflicht" für Erwerbslose eingeführt, sagte der Linksabgeordnete: "Auch derjenige, der sich unerlaubt längere Zeit außerhalb seines Wohnorts aufhält, soll seinen Anspruch auf alle Sozialleistungen verlieren. Dies ist mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht vereinbar, wonach dem mittellosen Bürger zumindest das Existenzminimum zu sichern ist."

"Da verwundert es nicht", so der ehemalige Bundesrichter Neskovic, "dass ich im Rechtsausschuss auf die Frage, ob wenigstens über die Verfassungswidrigkeit der Änderungen nachgedacht worden sei, von den Mitgliedern der CDU/CSU und der SPD eine einheitliche Antwort erhielt: Schweigen."

Die Grünen-Arbeitsmarktexpertin Brigitte Pothmer warf der Koalition Politik nach dem Motto "Knüppel aus dem Sack" vor. Die Sanktionen seien völlig unverhältnismäßig, bewegten sich am Rande der Verfassungsmäßigkeit und seien zudem praxisuntauglich. Ungelöst bleibe das Hauptproblem, dass es immer weniger Stellen gebe. Die Grünen bemängelten zudem, dass von der möglichen Kürzung der Unterkunftskosten auch unschuldige Partner oder Kinder betroffen wären. Dies könnte schlimmstenfalls die Obdachlosigkeit von Familien bedeuten.

Die FDP bemängelte im Ausschuss, der Gesetzentwurf sei ein "weiteres Kurieren am Symptom". Die Maßnahmen reichten nicht aus.

"Absolut notwendig"

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verteidigt die Änderungen bei der Arbeitsmarktreform "Hartz IV". Die Kürzung oder Streichung von Leistungen bei Ablehnung von Arbeitsangeboten sei "absolut notwendig", sagte Merkel am Donnerstag auf der Jahrestagung des CDU-Wirtschaftsrates in Berlin. Es müsse die alte Regel sichergestellt werden, dass Arbeitende mehr haben als Menschen, die nicht arbeiten.

Merkel bekräftigte zugleich die Notwendigkeit einer "grundlegenden Überholung" der "Hartz-IV"-Regeln. Dabei müsse auch die Verzahnung der Kooperation von Kommunen und örtlichen Arbeitsagenturen überdacht werden. Die Kanzlerin verwies dabei auf begrenzte Möglichkeiten der Kommunen zur Vermittlung von Langzeitarbeitslosen in andere Regionen Deutschlands.

"Reparatur"

Auch Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) verteidigte die geplanten Änderungen beim Arbeitslosengeld II. "Es geht nicht darum, die Menschen dauerhaft darin einzurichten", sagte Müntefering am Donnerstag in einer Aktuellen Stunde des Bundestages zu "Hartz IV" in Berlin. Mit einer "Reparatur" der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, die grundsätzlich richtig gewesen sei, würden nun Fehlentwicklungen korrigiert. Damit könnten im kommenden Jahr 3,8 bis vier Milliarden Euro eingespart werden.

Zugleich wies Müntefering eine angebliche "Kostenexplosion" bei "Hartz IV" zurück, mit denen Radikalkürzungen verlangt werden. Es sei richtig, dass die Kosten im Dezember vergangenen Jahres bei 1,75 Milliarden Euro gelegen hätten und im Januar auf 2,45 Milliarden Euro geklettert seien, sagte der Minister. Doch hätten sie im Februar und im März bei jeweils 2,25 Milliarden Euro betragen. Von einer "Explosion" könne also keine Rede sein.

"Auf der anderen Seite senken wir massiv die Steuern für Unternehmen und Reiche"

Links-Fraktionschef Oskar Lafontaine sagte in der Aktuellen Stunde des Deutschen Bundestages, zwei Drittel der Bevölkerung hätten die Hartz-Gesetze abgelehnt. "Heute, nach gut einem Jahr, muss festgestellt werden, dass diese Gesetze alle Ziele verfehlt haben, die mit ihnen verbunden waren. Es gab das Versprechen, dass 2 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen und die Arbeitslosigkeit drastisch sinkt. Nichts davon ist erreicht worden."

"Die ganze Philosophie" sei auf zweierlei zu reduzieren, so Lafontaine: "Auf der einen Seite kürzen wir massiv die Leistungen für die sozial Schwächeren, auf der anderen Seite senken wir massiv die Steuern für Unternehmen und Reiche, was zu einem wirtschaftlichen Aufschwung führen soll. Dieser hat aber nicht stattgefunden."

Ein 53 Jahre alter Durchschnittsverdiener habe 60.000 Euro in die Arbeitslosenkassen eingezahlt, so Lafontaine. "Wenn er arbeitslos wird, bekommt er ein Jahr Arbeitslosengeld und damit 10.000 Euro zurück. Arbeitslosengeld II bekommt er nur dann, wenn er vorher seine Versicherung verscherbelt, sein Vermögen angreift, vielleicht sein Haus verkauft usw. Das ist und bleibt ein ungeheuerlicher Skandal, der niemals akzeptiert werden kann."

Wenn es irgendeine Berufsgruppe gebe, bei der man sich eine solche Enteignung vorstellen könne, "dann bitte ich darum, dass jemand aufsteht und diese Berufsgruppe nennt", so Lafontaine. "Kann sich irgendjemand vorstellen, dass beispielsweise mit Unternehmen so verfahren würde und dann in diesem Hause eine Mehrheit aufrechtzuerhalten wäre?"

Es habe auch "das klägliche Argument" gegeben, man habe das Prinzip einer Versicherung nicht verstanden. "Nennen Sie mir eine einzige Versicherung - Feuerversicherung, Sachversicherung oder eine sonstige -, bei der man, wie bei der Arbeitslosenversicherung, 60.000 Euro einbezahlt, aber nur 10.000 Euro zurückbekommt. Sie können sich noch so sehr herausreden. Das ist kein sozialpolitischer Flop, sondern das ist und bleibt eine einzige sozialpolitische Sauerei, um das in aller Deutlichkeit einmal zu sagen", sagte der Linksfraktionschef. Der "Grundfehler" sei, dass Druck auf die Arbeitslosen ausgeübt werde, bevor neue Arbeitsplätze geschaffen worden seien.

"Ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners"

Die stellvertretende Unions-Fraktionsvorsitzende Ilse Falk sprach in der Aktuellen Stunde des Bundestages von "Fehlentwicklungen in der Gesellschaft". Die Menschen würden sich nicht mehr als Teil des Staates, sondern den Staat als Gegner ansehen. Sie würden versuchen, sich "möglichst viel zurückzuholen", die Grenze zum Missbrauch könne dabei schon einmal übersehen werden, kritisierte Falk.

Der Bundesrechnungshof habe dem Bundestag eindeutige Handlungsempfehlungen gegeben, die mit dem sogenannten SGB-II-Fortentwicklungsgesetz umgesetzt würden. Der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales, Ralf Brauksiepe, sagte, dass das SGB-II-Fortentwicklungsgesetz einen Beitrag zur Verbesserung von Hartz IV leisten werde.

"Wir lösen nicht alle Probleme gleichzeitig, sondern Schritt für Schritt", so Brauksiepe. Aus diesem Grund werde die Koalition die weitere Entwicklung beobachten und wenn notwendig, wieder handeln.

Die Ausgaben nach der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe seien um 7 Milliarden Euro gestiegen. Vorwürfe der Linksfraktion, die Reform sei "sozialer Kahlschlag", seien daher unsinnig. Mit dem Fortentwicklungsgesetz würden die Ansprüche der Menschen nicht reduziert, sondern Missbrauch bekämpft, so Brauksiepe.

Zu den Änderung gehöre unter anderem eine Klarstellung, dass weitergehende, von den im SGB II vorgesehenen Bedarfen abweichende Leistungen - zum Beispiel für atypische Sonderbedarfe -, ausgeschlossen seien. Für Personen, die sich "ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners" außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereichs aufhielten, würden Leistungen ausgeschlossen.

Arbeitslose sollen fast jede normale Erwerbstätigkeit annehmen

"Sich besserstellen"

Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) plädiert für weitere "Einschnitte" beim Arbeitslosengeld II. "Der Arbeitslose darf sich nicht besserstellen als ein Arbeitnehmer", sagte er der "Welt am Sonntag". Das bedeute, "dass Arbeitssuchenden wirklich fast jede normale Erwerbstätigkeit zuzumuten ist". Wer nicht mitmache, müsse mit empfindlichen Geldeinbußen rechnen.

Der Ministerpräsident kündigte an, das von der Bundesregierung beschlossene Fortentwicklungsgesetz zur Arbeitsmarktreform "Hartz IV" werde im Bundesrat Zustimmung finden. "Wir tragen die Reform mit, aber sie ist zu wenig", sagte er. "Unsere Zustimmung wird verbunden sein mit der Mahnung, einen zweiten Reformschritt folgen zu lassen. Der muss die Mitnahme- und Missbrauchseffekte bekämpfen", so Oettinger.

Das Fortentwicklungsgesetz der Regierung sieht bereits Verschärfungen vor, die Oettinger nicht weit genug gehen. So ist bereits geplant, das Arbeitslosengeld II vollständig zu streichen, wenn Arbeitslose innerhalb von zwölf Monaten mehrmals angebotene Jobs ablehnen.

Am 12. Jun. 2006

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