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IPPNW-Studie

Krebs: Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl in Deutschland

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Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW veröffentlichte am Donnerstag eine Studie zu den gesundheitlichen Folgen von Tschernobyl. Die Atomkritiker werfen der Internationalen Atomenergie Organisation (IAEA) und der Weltgesundheitsorganisation WHO bei ihrer Darstellung der Tschernobyl-Folgen "gravierende Unstimmigkeiten" vor: In einer Pressemitteilung im September 2005 sei mitgeteilt worden, dass künftig höchstens 4.000 zusätzliche Krebs- und Leukämietote unter den am meisten belasteten Menschengruppen zu befürchten seien, obwohl der Originalquelle 10.000 bis 25.000 zusätzliche Krebs- und Leukämietote zu entnehmen seien. Nach Auffassung der IPPNW-Vorsitzenden Angelika Claußen kann es nicht darum gehen, "den offenkundig falschen Zahlen der IAEO" die "richtigen" Zahlen gegenüberzustellen, da es diese aus methodischen Gründen niemals geben könne. Es sei "aber möglich, Anhaltspunkte dafür zu geben, mit welcher Vielfalt von Gesundheitsschäden wir uns befassen müssen und mit welchen Größenordnungen man es zu tun hat, wenn man von den gesundheitlichen Folgen von Tschernobyl spricht", so Claußen.


Die Studie mit dem Titel "Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl - 20 Jahre nach der Reaktorkatastrophe" stützt sich nach Angaben der IPPNW auf wissenschaftliche Arbeiten, Einschätzungen von Fachleuten und offizielle Angaben von Behörden. Die Analyse der Tschernobylfolgen werde durch eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Sachverhalte erschwert: Wesentliche Daten zum Ablauf der Tschernobyl-Katastrophe und zu den gesundheitlichen Folgen seien nicht frei zugänglich. Sie unterlägen in Ost und West "der Geheimhaltung". Die Ermittlung der Strahlenbelastungen der Liquidatoren und der Bevölkerung habe außerdem "die zuständigen Strukturen überfordert".

Auch habe es "erhebliche Wanderungsbewegungen aus den mit Radioaktivität belasteten Gebieten in weniger belastete" gegeben, die heute nur unvollständig rekonstruierbar seien. Kontaminierte Nahrungsmittel seien in sauberen Gebieten verteilt und saubere Nahrungsmittel in die kontaminierten Regionen transportiert worden. Damit würden Vergleiche zwischen belasteten und unbelasteten Regionen "fragwürdig". Außerdem habe sich die Altersstruktur der drei hauptsächlich betroffenen Staaten der Tschernobyl-Region stark verändert. Das sei bei Vergleichen in der Krebs- und Erkrankungsstatistik "nicht einfach zu berücksichtigen". Stochastische Strahlenschäden seien methodisch schwer nachzuweisen, heißt es weiter.

Zudem: Große epidemiologische Untersuchungen seien sehr teuer und nur mit staatlicher Unterstützung möglich. "Doch sowohl die Regierungen in Russland, Belorussland (Weißrussland) und der Ukraine als auch die der Atomkraftwerke betreibenden Staaten des Westens und auch die relevanten Organisationen der Vereinten Nationen (Internationale Atomenergie Organisation IAEA und Welt-gesundheitsorganisation WHO) haben kein Interesse an einer umfassenden und öffentlich überprüfbaren Erforschung der Tschernobyl-Folgen", schreiben die Atomkritiker. Hinzu käme, dass aufgrund der Sprachbarriere "viele wichtige, in russischer Sprache publizierte Studien in Russland der westlichen Fachwelt nicht gelesen und berücksichtigt werden".

In der Studie seien wissenschaftliche Arbeiten ausgewertet worden, "die plausible Hinweise auf Gesundheitsschäden infolge der Katastrophe von Tschernobyl enthalten". Es sei um die Auswahl von "methodisch sauberen und nachvollziehbaren Analysen" gegangen.

Angesichts der methodischen Schwierigkeiten geht es den Atomkritikern nun offenbar nicht darum, den - wie sie schreiben - "offenkundig falschen Zahlen der Internationalen Atomenergie Organisation die 'richtigen' Zahlen gegenüberzustellen", weil es diese niemals geben werde. Man könne also nur "Anhaltspunkte" für das Ausmaß der Katastrophe geben.

Die Opfer in Zahlen

Nach diesen umfangreichen Vorbehalten hinsichtlich der methodischen Schwierigkeiten bei der Beurteilung der Tschernobyl-Folgen gehen aus der Zusammenfassung der Studie auch diverse konkrete Zahlen hervor.

Unter Verweis auf russische Angaben heißt es, es seien "über 90 Prozent der Liquidatoren genannten "Aufräumhelfer" des Katastrophenreaktors Invaliden, also krank oder arbeitsunfähig. Übertrage man das auf die Gesamtzahl der 600.000 bis 1.000.000 Liquidatoren, dann müsse man mit 540.000 bis 900.000 Invaliden alleine aus dieser Menschengruppe rechnen.

"Liquidatoren altern vorzeitig", heißt es weiter. Sie erkrankten "überdurchschnittlich an verschiedenen Krebserkrankungen, an Leukämie, an somatischen und psychischen Erkrankungen, zudem habe ein sehr hoher Anteil Katarakte. Aufgrund der langen Latenzzeiten werde für die kommenden Jahre noch eine erhebliche Zunahme der Krebserkrankungen erwartet, schreiben die Atomkritiker. Sie verweisen weiterhin auf den Tschernobyl-Experten Professor Edmund Lengfelder von der Universität München. Dieser sei zu der Einschätzung gekommen, "dass bis zum Jahr 2006 50.000 bis 100.000 Liquidatoren gestorben sind".

Nach Tschernobyl habe auch die Säuglingssterblichkeit - genauer: die Perinatalsterblichkeit - in mehreren europäischen Ländern nach Tschernobyl zugenommen. Auch in Deutschland. Die vorliegenden Studien ergäben für Europa "Tschernobyl-bedingte Todesfälle unter Säuglingen in der Größenordnung von 5.000".

Weitere Folgen der Reaktorkatastrophe seien "genetische und teratogene Schäden", also Fehlbildungen. Diese hätten "in mehreren Ländern Europas signifikant zugenommen". Allein in Bayern sei es nach Tschernobyl zu 1.000 bis 3.000 zusätzlichen Fehlbildungen gekommen. Es sei zu befürchten, "dass es in Europa strahlenbedingt zu mehr als 10.000 schwerwiegenden Fehlbildungen kam", heißt es in der Studie. Die Dunkelziffer sei hoch, wenn man zudem berücksichtige, dass sogar die IAEA zu der Einschätzung gekommen sei, "dass es in Westeuropa 100.000 bis 200.000 Abtreibungen wegen der Tschernobylkatastrophe gab". Unter Bezug auf die UN-Organisation UNSCEAR käme man auf 12.000 bis 83.000 mit genetischen Schäden geborene Kinder in der Tschernobylregion und etwa 30.000 bis 207.500 genetisch geschädigte Kinder weltweit.

Seit Jahren breit diskutiert sind die gehäuft auftretenden Schilddrüsenkrebserkrankungen nach Tschernobyl. In Weißrussland seien seit der Katastrophe über 10.000 Menschen an Schilddrüsenkrebs erkrankt. Zudem: Einer WHO-Prognose zufolge würden allein im weißrussischen Gebiet Gomel mehr als 50.000 Kinder im Laufe ihres Lebens Schilddrüsenkrebs bekommen. "In allen Altersgruppen zusammengenommen wird man dann mit etwa 100.000 Schilddrüsenkrebsfällen in dem Gebiet Gomel rechnen müssen."

Auch außerhalb der Tschernobyl-Region nahm offenbar der Schilddrüsenkrebs zu. Eine Untersuchung für Tschechien etwa habe über 400 zusätzliche Schilddrüsenkrebs-Erkrankungen ergeben. "Insgesamt wird die Zahl der bisher durch Tschernobyl bedingten Schilddrüsenkrebsfälle in Europa (außerhalb der Grenzen der früheren Sowjetunion) zwischen 10.000 und 20.000 liegen", schätzen die Atomkritiker.

Neben Schilddrüsenkrebs sollen auch andere Krebserkrankungen und Leukämien nach Tschernobyl zugenommen haben. Besonders betroffen seien wieder die Liquidatoren sowie die Einwohner höher belasteter Gebiete. "Frauen erkranken in Weißrussland schon in jüngeren Jahren verstärkt an Brustkrebs", heißt es beispielsweise in der Studie. In der Ukraine habe die Zahl der Kinder mit bösartigen und gutartigen Tumoren des Zentralnervensystems beunruhigend zugenommen, besonders stark sei die Zunahme dieser Tumoren bei Kleinkindern. In der Ukraine und in Weißrussland habe es auch in verschiedenen Bevölkerungsgruppen "eine deutliche Zunahme der Neuerkrankungen an Leukämie" gegeben.

"In höher belasteten Gebieten Süddeutschlands gab es eine signifikante Häufung eines sehr seltenen Tumors bei Kindern, des so genannten Neuroblastoms", heißt es weiter. Zu signifikanten Anstiegen der Leukämieerkrankungen sei es in Deutschland, in Griechenland, in Schottland und in Rumänien gekommen. Und hoch im Norden Europas: "Allein in den Falloutgebieten Nordschweden kam es bis 1996 zu 849 zusätzlichen Krebserkrankungen", schreiben die Autoren der Studie. Insgesamt sei zu befürchten, dass sich die sonstigen Krebs- und Leukämieerkrankungen nach Tschernobyl auf mehrere Zehntausend beliefen.

In der Studie wird betont, dass es eine ganze Reihe von Erkrankungen gäbe, die aber von den offiziellen Stellen im Westen weitgehend unbeachtet blieben. Bei diesen Erkrankungen aber habe es nach Tschernobyl "einen steilen Anstieg" gegeben: "In einer vom Tschernobylministerium der Ukraine publizierten Arbeit wurde in der Ukraine eine Vervielfachung der Erkrankungen des Endokrinen Systems (25fach von 1987 bis 1992), des Nervensystems (6fach), des Kreislaufsystems (44fach), der Verdauungsorgane (60fach), des Haut und Unterhautgewebes (50fach), des Knochen-Muskel-Systems und der Psychischen Störungen (53fach) registriert."

Umgekehrt sei der Anteil der gesunden Menschen drastisch zurückgegangen: "Unter den Evakuierten ist der Anteil der gesunden Menschen von 1987 bis 1996 von 59 Prozent auf 18 Prozent gesunken, unter den Einwohnern in den belasteten Gebieten von 52 Prozent auf 21 Prozent und unter den Kindern betroffener Eltern sank er von 81 Prozent auf 30 Prozent", schreiben die Atomkritiker. Seit mehreren Jahren werde zudem berichtet, daß Diabetes Typ I, also Zuckerkrankheit mit Insulinmangel bei Kindern und Jugendlichen stark zugenommen habe. Zahlenmäßig würden diese Erkrankungen die Leukämie- und Krebserkrankungen "noch bei weitem überwiegen".

Kritik an IAEA und WHO

Bei den im September 2005 vom "Tschernobylforum der Vereinten Nationen" unter Federführung der IAEA und der WHO vorgelegten "Arbeitsergebnissen" zu den Folgen von Tschernobyl lassen sich nach Darstellung der Atomkritiker "gravierende Unstimmigkeiten nachweisen".

Dies soll folgendes Beispiel deutlich machen: "In den Presseerklärungen von WHO und IAEA wird erklärt, dass künftig höchstens 4.000 zusätzliche Krebs- und Leukämietote unter den am meisten belasteten Menschengruppen zu befürchten wären. Im zugrunde liegenden Bericht der WHO für das Tschernobylforum geht es jedoch tatsächlich um 8.930 künftige Tote, die kommen aber in keinem Zeitungsbericht vor. Überprüft man die im WHO-Bericht zu dieser Frage angegebene Literaturquelle, so ergeben sich aus dieser Quelle sogar 10.000 bis 25.000 zusätzliche Krebs- und Leukämietote."

Vor diesem Hintergrund sei "nüchtern festzustellen: Die offiziellen Verlautbarungen der IAEA und der WHO manipulieren sogar die eigenen Daten." Harte Vorwürfe an die UN-Organisationen: Die "Darstellungen der Folgen von Tschernobyl" von IAEA und WHO haben nach Auffassung der IPPNW "mit der Realität wenig zu tun".

Das Tschernobylforum berücksichtige beispielsweise "auch nicht, dass sogar UNSCEAR die Kollektivdosis (das übliche Maß für Strahlenschäden) für Europa außerhalb des Gebietes der ehemaligen Sowjetunion höher einschätzt als die entsprechenden Daten für die Tschernobylregion". Die Kollektivdosis infolge der Katastrophe verteile sich zu 53 Prozent auf Europa außerhalb des Gebietes der ehemaligen Sowjetunion, 36 Prozent auf die betroffenen Gebiete der ehemali-gen Sowjetunion, 8 Prozent auf Asien, 2 Prozent auf Afrika und 0,3 Prozent auf Amerika. "Folgt man den Daten und der Denkweise von UNSCEAR und WHO, so ergeben sich 28.000 bis 69.000 Krebs- und Leukämietote infolge der Tschernobylkatastrophe weltweit." Würde man die Krebserkrankungen zählen - so die Studie -, käme man zusätzlich auf sogar noch deutlich höhere Zahlen.

"Bisher gibt es keinen geschlossenen Überblick über die Veränderungen des Gesundheitszustandes der gesamten betroffenen Bevölkerung in der Tschernobylregion und erst recht keinen Überblick über die Folgen der Katastrophe für die Menschen auf der nördlichen Halbkugel", resümieren die Atomkritiker. Die erwähnten Zahlen seien einerseits "erschreckend hoch, an anderer Stelle scheinbar niedrig". Dabei sei zu bedenken, dass nahezu alle wissenschaftlichen Arbeiten "sich mit relativ kleinen Teilgruppen aus der Bevölkerung befaßt haben". Selbst unscheinbar anmutende Veränderungen von Erkrankungsraten könnten jedoch "gravierende Gesundheitsschäden und ein großes Ausmaß an menschlichem Leid bedeuten, wenn sich diese Raten auf eine große Population beziehen".