Bei Jura-Studierenden ist Hesse insbesondere als einer bekannt, der sich mit den im Grundgesetz verankerten Grundrechten auseinandergesetzt hat. Beim Lesen des Nachrufs in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kann der Eindruck entstehen, als sei es Hesse vornehmlich darum gegangen, die Bedeutung des Grundgesetzes zu relativieren.
"Hesse prägte den Begriff der Offenheit der Verfassung", schreibt die große meinungsbildende Zeitung aus Frankfurt. Weiterhin heißt es, Hesse habe "die geradezu bibelähnliche Autorität", die dem Grundgesetz zugeschrieben werde, kritisiert.
Einst wurde das Grundgesetz nahezu strömungsübergreifend als "die beste aller Verfassungen" in den höchsten Tönen gepriesen. Bei allen Differenzen in der Tagespolitik ließ kaum jemand etwas auf das Grundgesetz kommen. Ganzen Schülergenerationen wurde die deutsche Nachkriegs-Verfassung als das Größte vermittelt, als die zentrale Lehre, die man aus dem NS-Regime gezogen hatte.
Diese Bedeutung des Grundgesetz unterliegt einem Wandel. In den vergangenen Jahren werden Vorschläge zur Änderung - zur "Anpassung" - des Grundgesetzes zunehmend lapidarer unterbreitet, so als handele es sich um einfache Gesetzesänderungen. Die Verfassung wird regelmäßig den jeweils aktuellen politischen Bedürfnissen angepasst. Die Bedeutung als wirklich grundlegendes und nur schwer umstößliches Gesetz hat das Grundgesetz scheinbar längst eingebüßt.
Ein weiteres Phänomen ist das Ignorieren des Grundgesetzes. Ob eine verfassungsrechtliche Bestimmung verletzt ist, ist sicherlich im Einzelfall interpretationswürdig. Friedenspolitische Organisationen und manche Staatsrechtler vertreten jedenfalls den Standpunkt, dass das in Artikel 26 verankerte Verbot, einen Angriffskrieg vorzubereiten oder sogar zu führen, durch die Beteiligung Deutschlands am "NATO-Krieg gegen Jugoslawien" (Kosovo-Krieg) mißachtet wurde.
In jüngster Zeit mehren sich in den Medien - mal offen, aber eher subtil - sogar Äußerungen, die nicht nur auf die Änderung oder Uminterpretation einzelner Artikel abzielen, sondern vielmehr das Grundgesetz als Ganzes in Frage stellen. Steht die freiheitlich-demokratische Grundordnung auf dem Prüfstand? Wird man dem Lebenswerk des ehemaligen Verfassungsrichters Hesse tatsächlich gerecht, wenn man beim Lesen eines Nachrufs den Eindruck gewinnen kann, er habe die Bedeutung des Grundgesetzes relativieren wollen?
Noch unterliegen zentrale Artikel des Grundgesetzes - jedenfalls theoretisch - nach Artikel 79 einer Ewigkeitsgarantie. Sie dürfen nicht geändert werden. Dies betrifft den Föderalismus, Artikel 1, wonach die Würde des Menschen unantastbar und Menschenrechte unveräußerlich sind, und Artikel 20. Nach Artikel 20 hat die Bundesrepublik sowohl ein demokratischer als auch ein sozialer Bundesstaat zu sein. Die ausschließlich vom Volke - und beispielsweise nicht von einflussreichen Unternehmen - auszugehende Staatsgewalt, soll in Wahlen und auch in Abstimmungen ausgeübt werden. Hinzu kommt das Widerstandsrecht gegen jeden, der diese Ordnung beseitigen möchte, sofern andere Abhilfe nicht möglich ist.
Sind diese Festlegungen des Grundgesetzes tatsächlich noch ewig garantiert, wenn möglicherweise diese Verfassung als Ganzes in Frage gestellt wird? Welche Interessen werden verfolgt, wenn von einer Tageszeitung herausgestellt wird, dass jemand eine "bibelähnliche Autorität" des Grundgesetzes kritisiert habe, ohne dass der genauere Zusammenhang dieser Aussage transparent gemacht wird? Geht es um die Abschaffung des Grundgesetzes? Warum reden wir nicht offen darüber?
Noch vor wenigen Jahren dürfte es in breiten Bevölkerungkreisen schlichtweg unmöglich gewesen sein, an eine Abschaffung des Grundgesetzes zu denken. Ist das noch so? Oder ist unser Denken längst geändert, ohne es richtig gemerkt zu haben? Müssen wir nicht immer wieder darüber staunen, wie mit einer beständigen Folge subtil vorgetragener Meinungsäußerungen diese Welt Schritt für Schritt einem bemerkenswerten Wandel unterzogen ist?