"Die EU-Kommission rollt Sozialversicherungsbetrügern den roten Teppich aus", kritisierte Thomas Fritz von Attac. Weil grenzüberschreitend tätige Firmen nach der geplanten Richtlinie keine Meldungen mehr abgeben müssten, könnten sie Arbeitnehmer sogar sozialversicherungsfrei beschäftigen. Während dem Tätigkeitsland Kontrollen untersagt seien, habe das Herkunftsland weder ein Interesse noch ernsthaft die Möglichkeit, diese Aufgabe wahrzunehmen.
Neben Tarifverträgen und Sozialabgaben nehme die Richtlinie auch Gebühren- und Honorarordnungen unter Beschuss, warnte Fritz: "Damit werden die für viele Freiberufler überlebenswichtigen Honorarordnungen auf Dumpingniveau getrimmt."
Attac bemängelt auch einen von der Richtlinie ausgehenden "Privatisierungsdruck", der jetzt auch Bereiche wie Gesundheitsversorgung und soziale Dienste erreiche.
Attac-Sektionen mehrerer Länder mobilisieren derzeit nach eigenen Angaben gegen die Annahme der Dienstleistungsrichtlinie. Am Donnerstag solle es eine Demonstration in Brüssel geben. Mit Protestbriefen wenden sich Attac-Mitglieder aus Deutschland zudem an die Abgeordneten des EU-Parlaments in Straßburg, die bis zum Jahresende eine Stellungnahme zum Entwurf verfassen wollen.
SPD-Anhörung: Keine Chancen zu entdecken
Nach einem von Attac verfassten Bericht über eine Anhörung der SPD-Bundestagsfraktion am 27. Oktober äußerten die meisten eingeladenen Sachverständigen, dass es ihnen schwer falle, überhaupt irgendwelche Chancen zu entdecken. Mit Ausnahme des Bundesverbandes der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hätten alle Experten deutliche Kritik an dem Richtlinienentwurf geübt.
Die größten Risiken hätten die Sachverständigen beim Dumping der Arbeitsstandards und für die Daseinsvorsorge, die Kommunen und die Sozialversicherungen gesehen. Der Vertreter des Handwerks habe genüsslich die künftigen Schwierigkeiten beschrieben, grenzüberschreitend tätige Briefkasten-Firmen zu kontrollieren. Der Vertreter der Finanzkontrolle habe den SPD-Abgeordneten zudem bescheinigt, dass es zu Ausfällen bei der Umsatzsteuer kommen könne, wenn die Firmen im Tätigkeitsland keinerlei Meldungen mehr abgeben müssten.
EU-Kommission wehrt sich gegen "falsche Vorstellungen"
Die EU-Kommission ist der Überzeugung, dass die Dienstleistungsrichtlinie einen Beitrag zu wirtschaftlichem Wachstum und zur Schaffung von Arbeitsplätzen leisten kann. Sie verweist auf den Binnenmarkt, der seit 1993 fast 1000 Milliarden Euro Wohlstand und 2,5 Mio. neue Arbeitsplätze geschaffen habe. "Dies lässt sich noch erheblich steigern, wenn wir einen echten Binnenmarkt für Dienstleistungen schaffen."
Die neue Richtlinie würde "den grenzüberschreitenden Wettbewerb für Dienstleistungen stärken und eine Senkung der Preise bei einer Verbesserung von Qualität und Auswahl mit sich bringen".
In einem Papier vom 11. August 2004 möchte die Kommission "falsche Vorstellungen über den Richtlinienvorschlag" ausräumen. So würde die Richtlinie die Mitgliedsstaaten nicht zwingen, den "öffentlichen Dienstleistungssektor" zu liberalisieren oder zu privatisieren oder sie dem Wettbewerb zu öffnen. Die Richtlinie beschränke sich darauf, die Dienstleistungsaktivitäten in den Bereichen zu erleichtern und zu vereinfachen, die bereits für den Wettbewerb geöffnet seien.
Unternehmen wird es nach Angaben der EU-Kommission auch nicht ermöglicht, "Billigarbeiter" aus anderen Mitgliedsstaaten mitzubringen. Der Vorschlag ändere nichts an der Regel, dass für ein Unternehmen aus einem Mitgliedstaat, das Arbeitnehmer in einen anderen Mitgliedsstaat entsendet, die Arbeitsbedingungen - einschließlich der Minimallöhne - des Aufnahmestaates gelten und damit "Sozialdumping" verhindert werden würde.
Auch im Gesundheitssektor sieht sich die Kommission mit unzutreffenden Behauptungen konfrontiert. Die Mitgliedstaaten seien nicht dazu verpflichtet, ihre Gesundheitssysteme und die Systeme der sozialen Sicherheit zu ändern. "Es bleibt in der Verantwortung der Mitgliedstaaten zu entscheiden, in welchem Maße und unter welchen Bedingungen Dienstleistungen privater Betreiber - wie beispielsweise Privatkrankenhäuser - durch das System der sozialen Sicherheit finanziert werden."
EP-Abgeordnete: Ausdruck von "Turbo-Kapitalismus"
Die Sichtweise der EU-Kommission wird von vielen nicht geteilt. In Paris wurde der scheidende EU-Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein als "Frankenstein" verunglimpft, der den "service public" zerschlagen wolle, schreibt das "Handelsblatt". Zu den heftigsten Gegnern der Richtlinie zähle auch die deutsche Bauindustrie, die ebenso "verbissen" wie Attac gegen die neue Richtlinie vorgehe. Die rot-grüne Bundesregierung dränge daher auf eine Ausnahmeregelung für die Bauwirtschaft und weitere "für Deutschland sensible Bereiche".
Hierzu zählen laut Handelsblatt auch Ärzte, Apotheker und andere Freiberufler. Schon jetzt habe die Kommission in ihrem Richtlinienentwurf 23 Ausnahmetatbestände verankert.
Im Europaparlament wurde die Richtlinie am 11. November überwiegend kritisiert. Während Bundeskanzler Schröder und Wirtschaftsminister Clement hinter der Richtlinie stünden, sei sie für die zuständige Europaabgeordente, die deutsche Sozialdemokratin Evelyne Gebhardt, ein Ausdruck von "Turbo-Kapitalismus".