Deshalb fordern Pro Asyl und Flüchtlingsrat im Vorfeld der Innenministerkonferenz, die am 18. und 19. November unter schleswig-holsteinischem Vorsitz in Lübeck stattfinden wird, eine großzügige Bleiberechtsregelung für bis dato bleiberechtsungesicherte afghanische Flüchtlinge, unbedingte Freiwilligkeit bei der Frage der Rückkehr, eine künftig sorgfältige Prüfung von Asylgesuchen und angesichts der in Afghanistan herrschenden Gewalt und des Elends ein sofortiges Ende der Widerrufverfahren gegen anerkannte afghanische Flüchtlinge.
Die Delegation hatte Gelegenheit mit dem afghanischen Flüchtlingsminister und anderen hochrangigen Regierungsvertretern sowie mit Vertretern von Hilfsorganisationen zu sprechen. Bei ihren Gesprächspartnern trafen die Besucher aus Deutschland immer wieder auf erhebliche Bedenken gegenüber einer verstärkten Rückführung derzeit noch in Deutschland lebender Flüchtlinge.
Die vollständig ruinierte Stadt Kabul - einst ausgelegt für 700.000 Menschen - beherbergt inzwischen rund 3 Mio. Bewohner. Täglich kehren 4.000 Rückkehrer aus iranischen Flüchtlingslagern nach Afghanistan zurück. Es mangelt an allem: an bezahlbarem Wohnraum, Trinkwasser, ausreichender Gesundheitsversorgung und an Arbeit.
"Natürlich brauchen wir qualifizierte und motivierte Menschen, die mithelfen wollen, dieses Land wieder aufzubauen!" erklärte Flüchtlingsminister Qaderi der Hamburger Delegation. Eine erzwungene Rückkehr, insbesondere ohne das Vorhandensein funktionierender sozialer Bezüge in Kabul, liefe jedoch Gefahr, zur weiteren Destabilisierung der Lage in der noch sehr fragilen Gesellschaft beizutragen.
Die Sicherheitslage - auch in Kabul - ist sehr labil. Landesweit hatten bewaffnete Konflikte zwischen offiziellen Sicherheitskräften und regionalen Milizen sowie Attentate im Vorfeld der Präsidentschaftswahl zugenommen. Am Tag der Wahl starben "lediglich" 38 Personen, wie Paul Barker von CARE International gegenüber der Delegation erleichtert feststellte. Allgemein wird befürchtet, dass die Gewalttätigkeiten im Vorfeld der für April geplanten Parlamentswahlen erneut zunehmen werden.
Davon unbeeindruckt drängt der Bundesinnenminister die afghanische Regierung zu einem bilateralen Rücknahmeübereinkommen. Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein und Pro Asyl appellieren an die Länderinnenminister und die anderweitig in Afghanistan engagierten Bundesministerien (Verteidigung, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Auswärtiges Amt), sich in diese Verhandlungen einzubringen und dabei das Interesse an der Stabilisierung der afghanischen Gesellschaft geltend zu machen.
Die Erfahrungen mit Rückkehrprozessen in der Vergangenheit haben gezeigt, dass eine konsistente Rückkehrpolitik sehr viel mehr sein muss als der Abschluss eines Rückübernahmeabkommens. Folgende Eckpunkte sollten Berücksichtigung finden:
Rückkehr sollte ausschließlich auf freiwilliger Basis geschehen. Die Lage in Afghanistan ist weiterhin so problematisch, dass sich eine durch sozialen Druck erzwungene Rückkehr oder gar Abschiebungen auf lange Sicht verbieten. Rückkehrinteressierte können eine sachgerechte Entscheidung treffen, wenn sie einen sicheren Aufenthalt in Deutschland haben. Analog zu den Erfahrungen mit bosnischen Flüchtlingen sollte afghanischen Staatsangehörigen, die eine Rückkehr versuchen wollen, die Möglichkeit einer Wiederkehr eingeräumt werden.
Afghanische Flüchtlinge aus Europa können nur reintegriert werden, wenn eine gezielte Rückkehrförderung erfolgt. Sie muss über den Rahmen der REAG/GARP-Programme hinausgehen. Aufgrund der unsicheren Lage im größten Teil des Landes ist eine sinnvolle Existenzförderung, die die Eingliederung in lokale Gemeinschaften zum Ziel hat, in großem Rahmen (noch) nicht möglich.
Die Lage von Frauen in Afghanistan ist weiterhin besonders problematisch. Die entsprechenden Risiken müssen ausländerrechtlich und bei der Ausgestaltung von Rückkehrmöglichkeiten berücksichtigt werden. Zu den außerdem besonders verletzbaren Gruppen gehören Kinder und alte Menschen. Bei einer Kindersterblichkeit von 25 Prozent in Afghanistan und einer Lebenserwartung von 44 Jahren bedarf dies keiner besonderen Begründung.
Die Stadt Kabul ist angesichts ihrer bereits jetzt völlig überforderten Infrastruktur weder eine "inländische Fluchtalternative" noch eine zumutbare Option für eine größere Zahl von Rückkehrern. Die Sicherheitslage im Land erlaubt keine Prognose, ob es in absehbarer Zeit zu einer dauerhaften Wiederansiedlung von Binnenflüchtlingen in den Regionen kommen wird. Die Situation selbst von Menschen, die familiäre Bindungen oder andere Anknüpfungsmöglichkeiten in Kabul haben, ist sehr schwierig. Vollends unmöglich ist es für Menschen ohne diese Bindungen, im überlaufenen Kabul Fuß zu fassen. Dies muss bei den Entscheidungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und den Entscheidungen der Innenministerkonferenz berücksichtigt werden.
Angesichts der Lage in Afghanistan sind Widerrufsverfahren gegen anerkannte Flüchtlinge, die sich allein auf die Tatsache des Regimewechsels stützen, unvertretbar und ein Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Asylanträge afghanischer AntragstellerInnen müssen auch künftig gründlich geprüft werden. Menschenrechtsverletzungen durch Warlords, Parteien und selbst staatliche Institutionen sind weiterhin an der Tagesordnung. Das Vorliegen politischer Verfolgung muss deshalb individuell und sorgfältig geprüft werden. Insbesondere betrifft dies auch Fälle geschlechtsspezifischer Verfolgung. Angesichts des weitgehenden Fehlens eines handlungsfähigen Justizwesens und noch im Aufbau befindlicher Polizeistrukturen ist die Abschiebung von Straftätern oder von Terrorismusverdächtigen problematisch. Die Entscheidung über ihre Aufnahme sollte bei der afghanischen Regierung liegen.
Flüchtlingsrat und Pro Asyl begrüßen den schleswig-holsteinischen Vorstoß zu einer Bleiberechtsregelung für afghanische Staatsangehörige bei der kommenden Innenministerkonferenz in Lübeck. Bedenklich ist allerdings, dass auch dieser Vorschlag eine große Gruppe von einem Bleiberecht ausschließen würde. Problematisch ist insbesondere der Maßstab des gesicherten Lebensunterhaltes.