Selbst bei der vorgenommenen Stichprobe kam es im Fall einer einzigen Anordnung zu 30.500 abgehörten Gesprächen. In 21% der Anordnungen kam es immerhin zur Beobachtung von 1.000 bis 5.000 Gesprächen, in weiteren 8% zur Auswertung von mehr als 5.000 Gesprächen. Es ist daher nicht unrealistisch, wenn geschätzt wird, dass in Deutschland bei 21.974 Anordnungen im Jahr 2002 mehr als 1,5 Mio. Menschen betroffen waren.
Übertriebene Euphorie stellt die DVD bei der Justizministerin auch bei der Bewertung der Effektivität dieser Überwachungsmaßnahme fest, wenn auf eine Anklagequote bei Telefonüberwachung von 58% und eine Verurteilungsquote von 94% verwiesen wird. Eine genaue Analyse des Gutachtens zeigt, dass zwar bei 60% der untersuchten Verfahren Ermittlungserfolge zu verzeichnen waren, dass aber nur in 17% unmittelbare Erfolge erzielt wurden. Der größte "Erfolg" lag in "mittelbaren Erkenntnissen" (37%) mit vorrangig "Hinweisen auf Straftaten Dritter". Angesichts der Schwere des Eingriffs muss nach der Qualität der Erkenntnisse gefragt werden. Da mutet es wenig positiv an, dass nur bei knapp 16% der Verfahren die Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) in der späteren Anklage oder im Urteil überhaupt eine Rolle spielte. "Fahrlässig" sind nach Ansicht der DVD die politischen Konsequenzen, die die Justizministerin aus dem Gutachten zieht. Sie meint, den Richtern müsse eine detailliertere Begründung bei Anordnungen abverlangt werden, mehr aber auch nicht. Das Gutachten des MPI bestätigt eindrucksvoll die schon in der Bielefelder Studie von Backes/Gusy festgestellten Defizite bei der Begründung und der Prüfung von Abhöranträgen und die fast zu vernachlässigenden Zahl von Benachrichtigungen der Betroffenen, obwohl hierzu eine fast uneingeschränkte gesetzlicher Pflicht besteht.
Das MPI selbst schlägt eine umfassende Reform der Überwachungsregelungen vor. DVD-Vorsitzender Dr. Thilo Weichert sagt: "Bei der dringend nötigen Reform der Telekommunikationsüberwachung ist zu berücksichtigen, dass das Kommunikationsverhalten mit Handys sowie per Email und SMS derzeit einem gewaltigen Umbruch unterworfen ist. Der Straftatenkatalog, der TKÜ zulässt, muss bereinigt werden und im Hinblick auf Schwere und Art der aufzuklärenden Straftaten nach anderen als Tatbestandsbedingungen präzise definiert werden. Als Hausaufgabe hat das MPI dem Gesetzgeber aufgegeben, das regulatorische Chaos bei der TKÜ so zu bereinigen, dass die Ermittlungsinstanzen das Recht auch tatsächlich anwenden können und die Betroffenen und deren Verteidiger es auch nachvollziehen, um sich hierauf berufen zu können. Die nachträgliche Benachrichtigung der Betroffenen ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine unabdingbare Verfahrensvoraussetzung für die Zulassung der TKÜ. Der Gesetzgeber muss dafür sorgen, dass diese auch effektiv umgesetzt wird. Absolutes Muss ist - so auch das MPI - eine begleitende Wirkungs- und Wirksamkeitskontrolle der Überwachung. So wichtig die Erkenntnisse des MPI-Gutachtens sind, so spiegeln sie nur eine Momentaufnahme - v.a. von Verfahren aus dem Jahr 1998 mit einer Überwachungstechnik mit erheblich geringerem Erkenntniswert als heute - wieder. Der Grundrechtsschutz in diesem dynamischen Bereich setzt voraus, dass unabhängige Instanzen - z.B. Richter oder auch Datenschützer - in den laufenden Verfahren die Wirkungen der TKÜ beurteilen und das hierüber in statistischer Form berichtet wird. Völlig inakzeptabel sind die Pläne der Bundesregierung, im Rahmen der Novellierung des Telekommunikationsgesetzes die statistischen Berichtspflichten abzubauen. Wer es wirklich ernst meint mit der Abwehr von Tendenzen hin zu einem Überwachungsstaat - so die Erklärung von Zypries -, der bzw. die muss gerade staatliche Geheimermittlungen wie die TKÜ einem dauernden demokratischen "check and balance" aussetzen."