Auch wenn Schulen offiziell geöffnet seien, schicke kaum jemand seine Kinder zum Unterricht. Zu gefährlich sei der Schulweg. Jegliche Form von Gewalt sei auf den Straßen Bagdads derzeit unbestraft möglich. Willkürliches Schießen, plötzlich explodierende Minen, bewaffnete Übergriffe und Schlimmeres gefährdeten besonders das Leben von Frauen und Kindern. Allein die Zahl der Minenopfer unter den Kindern stieg nach Aussagen der Weltgesundheits-organisation in den letzten Wochen um 90 Prozent.
Auch die wenigen in Bagdad derzeit arbeitenden Hilfsorganisationen sind aufgrund wachsender bewaffneter Übergriffe auf Mitarbeiter, Lager und Fahrzeuge nur beschränkt in der Lage, effektiv Hilfe zu leisten. "Nach einem Raubüberfall auf unser Lager, wurden allein in den letzten zwei Tagen zwei unserer Fahrzeuge durch bewaffnete Männer entführt", sagt Anne Morris, Leiterin der Irak-Nothilfe und Sicherheitsbeauftragte für CARE. "Gott sei Dank ist keiner der CARE-Mitarbeiter verletzt worden. Wir sind seitdem gezwungen, die Mobilität unserer Mitarbeiter aus Sicherheitsgründen drastisch einzuschränken. Das ist in der derzeitigen Lage katastrophal. Wir können die Krankenhäuser, Wasserwerke und Gemeinden in und um Bagdad nur sehr begrenzt aufsuchen, um das Ausmaß der Not und den Bedarf an Hilfe festzustellen. Wie kann man von Frieden und Befreiung einer Nation sprechen, wenn Kriminelle sich ungehindert in den Straßen bewegen können und Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen nicht?", fragt Morris.
Keine Nacht vergehe ohne die Geräusche und Schreie von Schießereien, berichten die 60 CARE-Mitarbeiter in Bagdad ausnahmslos. Die verhängte Ausgangssperre ab 20 Uhr bringe keine Besserung. Sie erzählen von Leichen, die nach nächtlichen Schießereien, morgens an der Straßen zum Zentrum Bagdads liegen. Erst gestern wurden Plünderer dabei beobachtet, wie sie ungehindert Mobiliar aus dem Ministerium für Planung trugen. Ihre Familien, so die CARE-Mitarbeiter, würden die Wohnungen derzeit nicht verlassen, auch nicht zum sonst täglichen Einkauf.
"Das Rechtssystem ist kollabiert. Die organisierte Kriminalität hat in den Straßen das Sagen übernommen", sagt Morris. "Die größte Gefahr ist jetzt der Mangel an Information. Die amerikanische Besatzungsmacht, das Militär schweigt. Wir haben nicht einmal eine Notfall-Telefonnummer, um Übergriffe, Tote oder Verletzte in den Straßen zu melden. Auch auf unsere Bitte, die Lager mit Hilfsgütern zu schützen und umliegende Minen zu bergen, kam keine Reaktion."
CARE fordert in Gesprächen die vereinten Besatzungsmächte dazu auf, sofort Schritte für eine Verbesserung der Sicherheit in Bagdad einzuleiten und Voraussetzungen für Recht und Ordnung zu schaffen.
"Die humanitäre Not in Bagdad könnte jetzt noch durch schnelles Reagieren in den Griff bekommen werden", sagt Margaret Hassan, " - auch wenn die stehenden Abwässer in den Straßen zunehmen, die Durchfallerkrankungen bei Kindern drastisch steigen und die Gefahr eines Auftretens von Cholera und anderen Infektionskrankheiten mit jedem Tag wächst. Werden Hilfsorganisationen jedoch aufgrund mangelnder Sicherheit in ihrer Arbeit massiv behindert, wird sich die humanitäre Lage in und um Bagdad in den kommenden Wochen drastisch verschlechtern."
Seit 1991 ist CARE kontinuierlich im Irak und arbeitet mit den Schwerpunkten Wasser, Gesundheit und Ernährung. Besonderer Fokus liegt auf dem Wohl von Kindern. CARE Deutschland ist Mitglied von ‚Aktion Deutschland Hilft‘, einem Zusammenschluss von neun Hilfsorganisationen, die ihre Kapazitäten bündeln und ihre Hilfe verstärkt abstimmen.