"Nächstenliebe ist das Wichtigste im Leben", sagt die heute 76-Jährige, die seit 1958 in der Domstadt ein neues Zuhause gefunden hat. Diesen Glauben wollte sich die ehemalige Zwangsarbeiterin nicht nehmen lassen, obwohl sich ihr Leben liest wie eine einzige Tragödie. Aufgewachsen im ukrainischen Rojew bei Kiew, bekam sie schon früh die Härten des Lebens zu spüren. Die sowjetischen Säuberungsmaßnahmen gegen den Adel oder Gebildete im Lande erfuhr sie bereits 1934 am eigenen Leib: Ihre Mutter stammte aus einem polnischen Adelsgeschlecht, ihr Vater musste dafür büßen, indem er nach Sibirien verschleppt wurde.
Sie war 14 Jahre alt, als sie die Nazis nach Auschwitz deportierten. Dort musste sie mit ansehen, wie Mütter und Kinder vergast wurden. Sie überlebte, weil sie den Schergen kräftig genug erschien, um als Arbeiterin eingesetzt zu werden. Deswegen kam sie mit zwei Klassenkameradinnen ins thüringische Mühlhausen. In einer Munitionsfabrik fristete sie bis zum Ende des Krieges ihr Dasein, zunächst in der Eisenproduktion, später in der Großküche. Sie wurde misshandelt und erniedrigt - nur mit Ekel denkt sie daran, wie sie die schmutzigen Soldaten-Toiletten reinigen musste. Ihr Lebenswillen habe sie gerettet, sagt sie rückblickend.
Dass bis Ende dieses Jahres rund 1,4 Millionen NS-Zwangsarbeiter erste Entschädigungsleistungen von der Bundesstiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" erhalten sollen, kann bei Tatjana Nitsch keine Begeisterungsstürme hervor rufen. Schon zu lange warte sie auf eine Entschädigungsleistung. Am Donnerstag jährt sich der Tag, an dem der Bundestag Rechtssicherheit für deutsche Firmen vor Klagen feststellte und damit den Weg für Zahlungen an die früheren NS-Zwangsarbeiter frei machte.
Tatjana Nitsch zuckt die Achseln: "Ich habe noch keinen Pfennig gesehen", sagt sie deprimiert und fügt gleichgültig hinzu: "Ich habe doch alles verloren, das lässt sich auch durch die paar Groschen nicht ändern." Ihrer Einschätzung zufolge würde sie lediglich 2000 Euro erhalten - viel zu wenig für das ganze Leid. "Da verschenke ich das Geld lieber an bedürftige Kinder, anstatt zu sagen, ich wurde entschädigt." Verständnis sei ihr viel wichtiger als Geld, betont sie. Doch selbst das könne sie nur selten entdecken. Mitmenschen schreckten zurück und distanzierten sich, wenn sie von ihren Kriegserlebnissen erzähle.
Immerhin stellte sie einen Antrag auf Entschädigung. Viele hätten sich von den Fragen zurück schrecken lassen, die Tatjana Nitsch Magenschmerzen bereiteten. "Unter anderem müssen wir beschreiben, wo und wie wir vergewaltigt wurden - ganz minutiös", sagt sie gedämpft. "Wer will das schon, an diese Erniedrigung erinnert zu werden?"
Heute hat sie nur noch zehn Prozent ihrer Sehkraft und nur noch einen Lungenflügel - beides Folgen aus ihrer Arbeit während des Krieges. "Ich gebe etwa 400 Euro im Monat dafür aus, dass mir Menschen helfen", berichtet sie. "Geld könnte ich jetzt eigentlich gut gebrauchen" - allein ihre letzten drei Augen-Operationen kosteten 20 000 Euro. Statt dessen, sagt sie, müsse sie auch heute um alles kämpfen.