DIE Internet-Zeitung
Polizeiterror von Genua

Betroffene melden sich zu Wort

Am

Unter den während des Weltwirtschaftsgipfels in Genua Festgenommenen waren auch fünf junge Leute aus München. Sie schliefen zum Zeitpunkt des Polzeieinsatzes in der Schule A. Diaz, einem von der Stadt Genua offiziell bereitgestellten Quartier für Demonstranten wie 40 andere Deutsche auch . Sie geben ihre Erlebnisse zu Protokoll.


92 junge Menschen aus mehreren Ländern wurden am Samstagabend gegen 23.30 Uhr in der Schule A. Diaz, einem von der Stadt Genua offiziell bereitgestellten Quartier für Demonstranten, von Spezialeinheiten der Polizei überfallen und zum Teil schwer misshandelt. 50 Demonstranten, von denen keinerlei Widerstand geleistet worden war, mussten anschließend zur ärztlichen Behandlung von z.T. komplizierten Brüchen und Schädelverletzungen ins Krankenhaus; es ist nicht auszuschließen, dass einige der Misshandelten bleibende Schäden davontragen. Unter den 5 Münchnern sind zwei ehemalige, langjährige Schülersprecherinnen von Münchner Gymnasien, vielen Menschen bekannt für ihr soziales Engagement, u.a. ausgezeichnet mit einer Theodor-Heuss-Medaille. Die Misshandlungen begannen bei dem Überfall auf die Schule; von einer Festnahme im polzeirechtlichen Sinn kann man hier kaum sprechen, eher von einem Massaker, was die Blutspuren und Verwüstungen in der Schule zeigen. Bei dieser 'Razzia' wurden zwei Flaschen mit brennbarem Inhalt (von der Polizei als 'Molotow-Cocktail' bezeichnet) sowie zahlreiche Messer und Stangen sichergestellt.

Was gefährlich klingt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als banal: Die Messer sind Taschenmesser, Brotmesser, Besteckteile etc; die Stangen sind Zeltstangen; die Herkunft der beiden Flaschen bleibt ungeklärt. Nachdem in der Schule am Abend ein Kommen und Gehen herrschte, könnten sie potenzielle Gewalttäter mitgebracht haben, es kann sich aber auch um ein 'Mitbringsel' der Spezial-Polizei handeln, die ihr 'hartes Durchgreifen' (in Wirklichkeit kriminelles Vorgehen) rechtfertigen will. Alle Festgenommenen wurden beschuldigt, Teil einer kriminellen Vereinigung, eines 'Schwarzen Blocks' zu sein; als Indiz dienten schwarze Kleidungsstücke (bei meiner Tochter war es ein schwarzer Badeanzug).

Die ersten Misshandlungen bei der Festnahme wurden gelegentlich als 'Blutrausch' der Polizei erklärt (wodurch eigentlich ausgelöst? war am Freitag ein Polizist erschossen worden oder ein Demonstrant?); dagegen spricht die systematische Form der Misshandlungen, die man nur als Folter bezeichnen kann: Die Festgenommenen werden stundenlang gezwungen, mit erhobenen Händen an der Wand zu stehen, dazu gibt es gezielte Prügel, die zu Knochenbrüchen und Platzwunden führen. Die Misshandlungen werden jetzt auch von Spezialisten 'im feinen Zwirn' ausgeführt. Mancher Capo spricht auch nicht mehr Italienisch: hier ist offensichtlich eine internationale 'Elite' am Werk.

Nach der Überstellung in die Kaserne von Bolzanetto werden die Misshandlungen subtiler: Schmerzhafte Schläge erfolgen jetzt auf Nieren, an den Hals, in den Genitalbereich etc. Die Wände zieren Pin-Ups, wer sie umdreht sieht Mussolini-Bilder oder Hakenkreuze; einige italienisch-sprechende Verhaftete erkennen faschistische, antisemitische Lieder. Es verdichtet sich der Eindruck, dass hier Profis ihr 'Handwerk' verrichten; vielleicht handelt es sich um eine 'Ausbildungsstätte' – Beobachtungen, die nach einer unabhängigen, internationalen Untersuchung schreien. Zu den physischen Attacken kommt die Psycho-Folter: Nächtelanger Schlafentzug, Gebrüll, nicht-lokalisierbare Schmerzensschreie, Verweigerung von Wasser, Nahrung, persönlichen Gegenständen wie Kontaktlinsen, Hygieneartikeln etc.

Dann die Verlegung auf verschieden Gefängnisse in der Nähe (z.B. Pavia und Voghera). Dort geht es 'normal' zu: Keine Folter, nur endlose undurchschaubare bürokratische Prozeduren; ausschließlich italienisch verfasste (z.T. handschriftliche) Papiere, die es zu unterschreiben gilt. So kommt es zu Auskünften, wie: 'Der Beschuldigte lehnt konsularischen Beistand ab'; die Beschuldigten wissen jedoch in den meisten Fällen gar nicht, was sie unterschreiben und: die meisten Inhaftierten sind zu diesem Zeitpunkt längst traumatisiert und können gar nicht mehr rational handeln – ein Resultat der brutalen Behandlung in der Kaserne Bolzanetto.

In den Strafanstalten ist die Behandlung 'korrekt', bis auf den Umstand, dass den Beschuldigten Grundrechte, z.B. jeder Kontakt zu Angehörigen und sehr lange auch zu Rechtsanwälten verweigert werden. Für uns Angehörige gibt es am Sonntagabend einen Anruf vom deutschen 'Staatsschutz' (auch der Verbindungsmann des Staatsschutzes in der deutschen Botschaft in Rom ist längst eingeschaltet), dessen Zweck es offenkundig ist, herauszufinden, was wir über den Verbleib welcher Personen wissen. Am Montagmorgen rufen wir im deutschen Konsulat in Mailand an und werden dort unfreundlich abgefertigt: alles gehe seinen Gang, es seien mutmaßliche Straftäter festgenommen worden, man werde benachrichtigt, man sei schließlich in einem Rechtsstaat. Die meisten Medien drucken die offiziellen Verlautbarungen der italienischen Regierung und halten am Bild der gewalttätigen Links-Chaoten fest, die die italienische Polizei habe festnehmen können. Kaum ein Wort darüber, dass zu diesem Zeipunkt klar ist, dass die Polizei während der großen Demonstrationen den wirklichen Gewalttätern meist freien Lauf ließ und sich darauf spezialisierte, friedliche Demonstranten mit Tränengas und Polizei-Schlägertrupps zu terrorisieren.

Auch am Dienstag werden wir von offiziellen Stellen vertröstet, allerdings scheint sich jetzt der deutsche Konsul selber mit der Angelegenheit zu befassen – und es gibt private Initiativen in Italien und Deutschland, die sich ernsthaft um die Gefangenen bemühen. Sie vermitteln Kontakte zu italienischen Anwälten, die aber zu den Gefangenen nicht vorgelassen werden. Daneben wird man immer wieder (halb)offiziell 'informiert' , die Freilassung stehe unmittelbar bevor oder sei gar schon erfolgt. Lange Zeit hat man auch keine Gewissheit, wo die Gefangenen wirklich einsitzen. Manche Gefangene sind nicht zu finden, einige werden etwa aus dem Gefängnis Pavia und Alessandria gleichzeitig gemeldet. Der Psycho-Terror erfasst langsam auch die Angehörigen.

Am Mittwoch morgen beschließen einige Münchner Angehörige mit mehreren Autos nach Italien zu fahren. Als wir gegen 17.00 ankommen, teilen wir uns auf: eine Gruppe fährt zum Gefängnis Voghera, die andere Gruppe nach Pavia. Die Erfahrungen dort sind zwiespältig: Es gibt jeweils eine kleine örtliche Solidaritätsgruppe (Studenten, Hausfrauen, Rentner), die uns in den folgenden Stunden endlosen Wartens unterstützen, dazu Eltern aus Hamburg, Berlin, Angehörige aus Spanien, Polen oder Österreich und konsularisches Personal, das z.T. einfach überfordert ist. Der deutsche Konsulatsvertreter in Pavia etwa warnt uns vor der 'Meute' der Unterstützer, denen er Randale zutraue. Wir erleben eine Gruppe von etwa 20 freundlichen Leuten, die uns eine große Hilfe sind und die sich wie wir um die Inhaftierten sorgen.

Der deutsche Konsul in Voghera verhandelt geduldig und zäh, muss sich aber immer wieder vom Gefängnispförtner abwimmeln lassen. Ein großer politischer Rückhalt aus Deutschland ist jedenfalls nicht zu spüren. In Pavia wird um 18.00 erklärt, einige Gefangene seien jetzt 'frei', wir dürfen sie kurz in den Arm nehmen, dann werden wir sofort wieder getrennt, sie sollen jetzt in die Quästur in Pavia überstellt werden, wo das endlose Warten wieder beginnt. Zwischenzeitlich fahren wir nach Voghera, wo sich nichts tut, wie man uns informiert. Die italienischen Unterstützer, (hier von der Konsulatsvertretung nicht als 'Meute' eingeschätzt, sondern als freundliche, hilfsbereite Menschen) warten immer noch genau wie die Angehörigen.

Der Deutschlandfunk hat zu diesem Zeitpunkt längst gemeldet, deutsche Gefangene aus Pavia und Voghera seien frei. Um Mitternacht informiert der deutsche Konsul den Krisenstab in Berlin ('der ist eigentlich nur für Katastrophen zuständig' – ist das keine Katastrophe?) und es heißt, jetzt werden die jungen Frauen, die in Voghera einsitzen auch auf die Quästur in Pavia gebracht. 'Jetzt' bedeutet schließlich 1.30 Donnerstag Morgen: Ein Polizeibus fährt vor, Mannschaftswagen mit behelmten, Schlagstock-bewaffneten Spezialeinheiten, Blaulicht: die 'gefährlichen Gewalttäter' werden in den Bus gebracht, wir haben mit unserer Tochter immer noch keinen Kontakt gehabt. Dann setzt sich eine Kolonne von Polizei- und Privatautos in Bewegung nach Pavia zur Quästur. Die Gefangenen verschwinden hinter den Gittern und das Warten beginnt erneut.

Es heißt, die Gefangenen würden abgeschoben; niemand weiß, wo oder mit welchem Transportmittel. Eine bekannte Spezialität der italienischen Polizei ist es, Freigelassene mitten in der Nacht ohne Geld oder Papiere einzeln auf freiem Feld auszusetzen. Also harren alle aus, bis der Konsul neue Informationen bringt: die Beschuldigten würden mit dem Bus an den Brenner gebracht und dort abgeschoben. Die Inhaftierten, so der Konsul weiter, hätten Angst, weil sie unter den Anti-Terror-Einheiten, die sie an die Grenze begleiten sollten, einige der Schläger aus Bolzanetto erkannt hatten. Es sei nicht auszuschließen, dass die Kolonne an einem dunklen Parkplatz anhalte und da sei es dann vielleicht sicherer, wenn Angehörige in ihren Autos den Transport begleiteten.

Die meisten von uns sind jetzt 20 Stunden auf den Beinen und haben 600 oder 700 km Autofahrt hinter sich. Aber die Not unserer Kinder lässt uns keine Wahl. Wir begleiten mit unsern Privatautos die Polizei bis zur Ankunft am Donnerstagmorgen um 9.00 in Brenner, wo's natürlich sofort wieder in die Polizeikaserne geht. Hier können die meisten von uns - durch ein hohes Gitter getrennt – ihre Kinder und Freunde zum ersten mal umarmen. Diese sind zumeist total erschöpft und sichtlich gesundheitlich geschädigt (die schlimmeren Fälle liegen immer noch im Krankenhaus). Nun beginnen erneut Verhandlungen, ob man wenigstens die am meisten Lädierten ab der Grenze mit dem eigenen Auto nach hause mitnehmen dürfe. Zunächst hat man uns erklärt, alle Beschuldigten würden außer Landes geschafft, das heißt in den Zug nach München gesetzt und dürften auf italienischem Boden nicht aussteigen. Um 9.30 heißt es dann, Eltern könnten ihre Kinder auch im Auto nach Hause fahren. Die meisten von der Polizei zum Zug Eskortierten wollen jetzt zusammenbleiben; sie treffen um 12.30 mit dem Zug in München ein, viele dem Zusammenbruch nahe.

Seitdem sind wir alle beschäftigt: Arztbesuch, Betreuung durch Psychiater, Urlaubsstornierungen, Pressearbeit gegen offizielle Verlautbarungen von Politikern (von Außenminister Fischer: 'einerseits – andrerseits', 'Untersuchung, wenn an den Behauptungen evtl. etwas dran sein sollte'; über Innenminister Schily 'freut sich auf das baldige Treffen mit seinem italienischen Amtskollegen, um Details einer geplanten Gewalttäterkartei zu besprechen'; bis zum bayrischen Innenminister Beckstein: 'Ströbele ist ein geistiger Mittäter') und die Ausgewogenheits-Gleichgültigkeit der meisten Presseorgane. Bis heute hat sich übrigens kein Politiker außer den beiden MdBs Ströbele und Bunntenbach um die Verletzten und Inhaftierten gekümmert und keiner hat die Freigelassenen zu einem Gespräch eingeladen, obwohl die Betroffenen sie mit Berichten und Presseerklärungen informierten.

Unser Ziel lautet jetzt: Volle Rehabilitierung der zu Unrecht Inhaftierten in fairen Gerichtsverfahren, eine unabhängige Untersuchung des Polizeiskandals und die Bestrafung der Schuldigen und der politisch Verantwortlichen, Aufrüttelung der Öffentlichkeit, damit sie die kriminellen Strukturen hinter diesen Aktionen erkennt und die Politiker dazu bringt, die Polizei zu demokratisieren und zur Beachtung der Menschenrechte zu zwingen. Und vor allem: Freilassung der noch Inhaftierten, z.B. des Münchners Achim N., der heute nach einer Woche unerträglicher Haft wie alle andern Gefangenen unsere Hilfe dringender braucht, denn je. Für ihn wie für alle Beschuldigten hat die Unschuldsvermutung zu gelten.

  1. Heigl, Semmeringstr. 7, 81825 München, Fax , mail: w.heigl @ link-m.de

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