Überblick
- Sozialverband VdK für bundesweite Erprobung des Mainzer Modells
- Künftig Soziales oder Ökologisches Jahr statt Zivildienst möglich
- Deutsche sind mit Sozialleistungen nicht zufrieden
- Keine Sozialhilfe für Kontoführungsgebühren
- Soziale Bewegungen fürchten Verschärfung des Krieges
- Deutscher Städte- und Gemeindebund beklagt steigende Sozialhilfekosten
- Sozialverband fordert Bundessozialministerium als Gegengewicht zu Clement
- Italienische Regierung will Schengen-Abkommen aussetzen
- Kritik an der Sozialpolitik
- Sozialverband lehnt Absenkung ab
- "Mehr Demokratie" fordert Volksabstimmungen über Sozialpolitik
- Musik gegen soziale Kälte
Die Geschichte der deutschen Straßenzeitungen ist noch relativ jung. Mitte der 90er gingen mit "Biss" in München und "Hinz&Kunzt" in Hamburg die bundesweit ersten beiden Projekte an den Start. Mit einer Auflage von 70.000 Exemplaren pro Monat ist das Hamburger Blatt "Hinz&Kunzt" inzwischen das größte in Deutschland. Gemeinsam produzieren Kiel, Schwerin und Hamburg zudem zwei Mal jährlich das "Nordlicht", das als Beilage in den regionalen Tageszeitungen erscheint. Die meisten der Hefte befassen sich mit Armut und Arbeitslosigkeit: Themen, die laut Kellner in kaum einer der anderen Stadtzeitungen Erwähnung finden. Die Straßenzeitungen seien "Deutschlands soziale Meinungsblätter", unterstrich er.
"Es ist ein Mythos, dass Straßenzeitungen reine Obdachlosenzeitungen sind", sagte der Vorsitzende. Bei den meisten Blättern liegt der Anteil der obdachlosen Mitarbeiter bei lediglich zehn Prozent. "Die Straßenzeitungen sind vor allem Sozialhilfeempfänger- und Arbeitslosenprojekte", betonte Kellner. Lediglich in Hamburg würden nur obdachlose Verkäufer eingestellt. Feste Redaktionsstellen werden häufig an ABM-Kräfte vergeben. Auch Sozialarbeiter und Journalisten schreiben für die Straßenzeitungen.
Die gemeinnützigen Vereine finanzieren sich vornehmlich aus dem Verkauf ihrer Blätter, den Anzeigen und Spendeneinnahmen. "Finanziell stehen die meisten Projekte noch auf tönernen Füßen", sagte Kellner. Der Verkäufer kauft zu einem festen Stückpreis Zeitungen ab, die er für das Doppelte auf der Straße anbietet. Pro verkaufter Ausgabe verdient ein Verkäufer durchschnittlich eine Mark. "Unter 100 Mark im Monat geht bei den Verkäufern keiner nach Hause", hob der Vorsitzende hervor. Über den Erlös und das Trinkgeld können die Obdachlosen frei verfügen.
"Wir betreiben niederschwellige Sozialarbeit", betonte Kellner. Viele Redaktionen haben so genannte offene Stuben, die als Anlaufstelle für die Menschen gedacht sind, die keine offiziellen Beratungsstellen mehr aufsuchen wollen. Die meisten seien schwer suchtabhängig. Er fügte hinzu: "Bei uns können sie jederzeit zur Tür hereinkommen und haben erst mal einen Ansprechpartner."
Sozialverband VdK für bundesweite Erprobung des Mainzer Modells
Arbeitsmarkt
Angesichts von vier Millionen Arbeitslosen bekommen Forderungen nach einem Ausbau des Niedriglohnsektors und der Einführung von Kombilöhnen neuen Auftrieb. Der Sozialverband VdK sprach sich dafür aus, das so genannte Mainzer Modell in ganz Deutschland zu erproben. SPD-Generalsekretär Franz Müntefering sagte im ZDF, noch vor der Bundestagswahl werde es eine Entscheidung über eine bundesweite Ausdehnung von Kombi-Lohnmodellen geben. Der Vorsitzende der Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (BCE), Hubertus Schmoldt, warnte indes vor zu hohen Erwartungen an die Förderung von Kombilöhnen. Beim Mainzer Modell für Beschäftigung und Familienförderung erhalten gering Verdienende vom Staat einen Zuschuss zu den Sozialabgaben sowie einen Kindergeldzuschlag. Es fördert außerdem den Ausstieg von Alleinerziehenden aus der Sozialhilfe. Das Modell wurde zunächst in Mainz erprobt und wird jetzt auch auf andere Arbeitsämter in Rheinland-Pfalz ausgeweitet. Der Arbeitsminister des Bundeslandes, Florian Gerster, sieht darin einen möglichen Grundstein für eine dauerhafte Reform der sozialen Systeme. Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Bernhard Jagoda, nannte das eine sinnvolle Ergänzung der Vermittlungshilfen und Förderangebote für Arbeitslose.
VdK-Präsident Hirrlinger hob hervor, das Kombilohnmodell biete vor allem Langzeitarbeitslosen, Alleinerziehenden und Sozialhilfeempfängern neue Chancen, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen. Dem Modell komme wegen der hohen Arbeitslosigkeit eine Schlüsselfunktion zu. Vom Grundsatz her sei es besser, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Nach den Worten Münteferings werde gegenwärtig geprüft, welche der im Bündnis für Arbeit verabredeten Modellversuche sich für eine bundesweite Einführung eigneten. Die Regierung müsse das langfristige Wachstum im Auge behalten und deshalb in Bildung, Forschung und Technologie investieren.
Vor allem bei den Gewerkschaften stoßen die Kombilohn-Pläne auf Skepsis. IG-BCE-Chef Schmoldt warnte im ZDF, mit den gegenwärtig diskutierten Kombilohnmodellen ließen sich die Probleme am Arbeitsmarkt nicht lösen. Notwendig sei eine gewisse Flexibilität am Arbeitsmarkt, insbesondere aber die Bereitschaft der Unternehmen, Arbeitsplätze zu schaffen. Schmoldt sieht vor allem in der Schaffung von Teilzeitarbeitsplätzen erhebliche Potenziale zur Senkung der Arbeitslosigkeit.
Am 07-01-2002
Künftig Soziales oder Ökologisches Jahr statt Zivildienst möglich
Freiwilligendienste gefragt
Kriegsdienstverweigerer sollen künftig ihren Zivildienst auch im Rahmen des Freiwilligen Sozialen oder Ökologischen Jahres absolvieren können. Der Bundestag gab am Freitag grünes Licht für ein Gesetz, mit dem das freiwillige Engagement junger Menschen im sozialen, ökologischen und kulturellen Bereich aufgewertet werden soll. Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD) sagte, die Gesellschaft lebe vom freiwilligen Engagement der Bürger. "Allen Unkenrufen zum Trotz sind junge Menschen in hohem Maße bereit, sich freiwillig zu betätigen. Dieses Engagement wollen wir künftig durch verbesserte Rahmenbedingungen fördern." Die Dauer eines Sozialen oder Ökologischen Jahrs wird flexibilisiert und beträgt künftig zwischen 6 und 18 Monaten, in der Regel ein Jahr. Ein Mindestalter gibt es nicht mehr, die volle Schulpflicht muss aber erfüllt sein. Damit wird der freiwillige Dienst für Haupt- und RealschülerInnen attraktiver. Einsatzgebiete der Helfer können künftig auch Bibliotheken und Museen oder Sportvereine sein. Auch Tätigkeiten im außereuropäischen Ausland werden anerkannt.
Bislang nutzten nach Angaben des Familienministeriums über 13 000 Jugendliche jährlich das Angebot. Das Gesetz muss noch durch den Bundesrat. Es soll im Juni, die Änderung im Zivildienstgesetz zum 1. August in Kraft treten. Allerdings könnte der Zivildienst ohnehin schnell ein Ende finden, wenn das Bundesverfassungsgericht die Wehrpflicht als verfassungswidrig erachtet. Eine Entscheidung ist noch vor dem 10. April geplant.
Im laufenden Haushalt stellt die Bundesregierung 16,5 Millionen Euro zur Förderung der Freiwilligendienste bereit. Dennoch sind die Freiwilligendienste völlig überlaufen. Auf eine einzige Stelle kommen in vielen Fällen zehn Bewerbungen, obwohl es nur ein geringes Taschengeld sowie Zuschüsse für Unterkunft und Verpflegung gibt.
Am 22-03-2002
Deutsche sind mit Sozialleistungen nicht zufrieden
Umfrage
Die staatlichen Sozialleistungen sind einer Umfrage zufolge aus Sicht der meisten Bürger unzureichend. In einer am Dienstag veröffentlichten repräsentativen Online-Umfrage zeigt sich nur ein geringer Prozentsatz der Deutschen mit den staatlichen Leistungen in den Bereichen Arbeitsmarkt, Altersvorsorge, soziale Absicherung und Schulbildung zufrieden. Demnach stellen bundesweit nur sieben Prozent der 170.000 Befragten der staatlichen Arbeitsmarktpolitik ein gutes Zeugnis aus: Im Westen acht Prozent und im Osten sogar nur drei Prozent. Die staatliche Altersvorsorge halten den Angaben zufolge nur acht Prozent für ausreichend. Bei der sozialen Absicherung meinen lediglich 18 Prozent, dass der Staat seine Aufgabe gut erfülle. Mit der Schulbildung sei jeder Fünfte zufrieden, hieß es. Dabei seien es in Bayern mit 29 Prozent der Einwohner besonders viele, Berlin bilde mit zwölf Prozent das Schlusslicht.
Der Deutschland-Chef von McKinsey&Company, Jürgen Kluge, betonte bei der Vorstellung der Studie in Berlin, dass die Bereitschaft zu Eigeninitiative auf dem Arbeitsmarkt sehr hoch sei. Jeder Neunte könne sich den Schritt in die Selbstständigkeit "sehr gut" vorstellen. Bei den 20- bis 29-Jährigen liege der Anteil sogar bei 15 Prozent. "Diese Zahlen entsprächen einer Verdoppelung der derzeitigen Selbstständigenquote", sagte Kluge. Jedoch fühlten sich 60 Prozent der Befragten "durch die vielen rechtlichen und staatlichen Vorschriften" gehindert. Zudem werde das "Leistungspotenzial" von Frauen mit Kindern nicht ausgeschöpft: 71 Prozent der erwerbstätigen Mütter mit Kindern im Vorschulalter würden gerne mehr arbeiten, allerdings fehle die Infrastruktur zur Kinderbetreuung.
An der Online-Umfrage "Perspektive Deutschland" beteiligten sich von Oktober bis Dezember 2001 rund 170 000 Menschen im Alter von 18 bis 59 Jahren. Die Ergebnisse seien von internet-typischen Verzerrungen bereinigt worden, versicherte der Heidelberger Professor für Volkswirtschaft, Hans Gersbach.
Die Studie wurde im Auftrag der Unternehmensberatung McKinsey&Company, stern.de und T-Online erstellt.
Am 27-03-2002
Keine Sozialhilfe für Kontoführungsgebühren
Urteil
Ein Sozialhilfeempfänger hat keinen Anspruch auf eine Beihilfe zu Kontoführungsgebühren. Das Verwaltungsgericht Trier entschied in einem am Mittwoch bekannt gegebenen Urteil, die Gebühren seien im Regelsatz der Hilfe zum laufenden Lebensunterhalt bereits enthalten. Es seien keine Gründe zu erkennen, zusätzliche Leistungen für die Kontoführung zu gewähren. Die Richter wiesen damit die Klage einer Frau aus der Eifel ab. (Az.: 6 K 1770/01.TR). Die Mutter von vier Kindern hatte bei der Sozialhilfebehörde Beihilfe zur Begleichung ihrer Kontoführungsgebühren in Höhe von 25 Euro pro Quartal beantragt. Nach der Ablehnung durch die Behörde und einem gescheiterten Widerspruchsverfahren klagte sie. Das Gericht stellte jetzt fest, dass die Frau die Kosten für die Kontoführung unter Umständen hätte vermeiden können, wenn sie ihr Girokonto bei einer anderen Bank eröffnet hätte.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, die Klägerin hat also in der Berufungsinstanz die Chance, die Richter darauf hinzuweisen, dass Sozialhilfeempfänger sich glücklich schätzen dürfen, überhaupt ein Konto zu bekommen.
Am 01-08-2002
Soziale Bewegungen fürchten Verschärfung des Krieges
Kolumbien: Regierung plant Offensive gegen Paramilitärs
Kolumbianische Bauernbewegungen, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen befürchten eine Verschärfung des Konfliktes in dem südamerikanischen Land. Die Regierung unter dem neuen Präsidenten Uribe Velez hat angekündigt, "mit harter Hand" gegen die illegalen bewaffneten Kräfte vorzugehen. Durch die Strategie einer militärischen Lösung des Konfliktes befürchten die friedlichen sozialen Bewegungen und Menschenrechtsorganisationen weiter in den Strudel des Krieges gezogen und zwischen den Fronten zerrieben zu werden. Die gesellschaftlichen Alternativen, die in vielen Basisbewegungen und Friedensgemeinden entwickelt werden, drohen so zerstört zu werden. Deshalb rufen die Organisationen am 16. September zu einem internationalen Solidaritätsforum und an den Folgetagen zu Protesten und Demonstrationen auf, zu denen über 100.000 Teilnehmer erwartet werden. "Nach den bisherigen Erfahrungen wird die weitere Militarisierung des Konfliktes weitere Menschenrechtsverletzungen nach sich ziehen und auch die vielen Keime der Hoffnung zerstören, die es in Kolumbien noch gibt. Mit den bisher angekündigten Maßnahmen der Regierung Uribe sollen alle gesellschaftlichen Kräfte auch gegen ihren Willen in die bewaffnete Strategie einbezogen werden." erklärt der internationale Beobachter Stefan Ofteringer von der Menschenrechtsorganisation FIAN in Bogotá. "In einem Land, in dem Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, sollten endlich die überfälligen sozialen Reformen angegangen werden. Ohne eine wirkliche Landreform, ohne soziale Gerechtigkeit wird es keinen Frieden geben", so Ofteringer weiter.
"Insbesondere die über zwei Millionen Vertriebenen und Binnenflüchtlinge warten auf Entschädigungen, Landtitel und Möglichkeiten zur Rückkehr in ihren Lebensraum. Hierzu hat die neue Regierung noch keine Strategie vorgelegt. Ein ernstgemeinter Friedensprozeß auf Basis von Verhandlungen und mit einer klaren Ablehnung der paramilitärischen Strategie seitens des Staates sollte im Vordergrund stehen.", so der FIAN-Sprecher weiter.
Der seit über 40 Jahren dauernde Konflikt in Kolumbien hat sich von einer Auseinandersetzung zwischen Guerilla und Staatsapparat in den vergangenen Jahren zunehmend zu einem "privatisierten Krieg" entwickelt, in dem rechtsgerichtete paramilitärische Kräfte für die meisten Verletzungen der Menschenrechte verantwortlich sind. Nach Analyse der internationalen Menschenrechtsorganisationen handeln sie mit direkter Unterstützung des Militärs. Die Bekämpfung dieser bewaffneten Gruppen wird von den staatlichen Stellen wenig ernst genommen, obwohl sie Massaker an der Zivilbevölkerung und Terror gegen die Zivilbevölkerung ausüben. Nach Plänen der Regierung Uribe sollen nun wieder Zivilisten bewaffnet werden, eine Strategie, die in den achtziger Jahren den Grundstein für den Paramilitarismus gelegt hat.
Am 12-09-2002
Deutscher Städte- und Gemeindebund beklagt steigende Sozialhilfekosten
Sozialsystem neu gestalten
Der ungebremste Anstieg der Sozialhilfekosten in Deutschland auf inzwischen brutto 23,9 Mrd. Euro sei für die Städte und Gemeinden nicht länger verkraftbar, klagte der Deutsche Städte- und Gemeindebund. Im Vergleich zum Vorjahr seien die Kosten um knapp drei Prozent gestiegen. Nur Einschnitte in das Sozialsystem könnten die Lage noch retten, sagte das Geschäftsführende Präsidialmitglied des Deutschen Städte- und Gemeindebundes Dr. Gerd Landsberg. Die Politik müsse aufhören, den Bürgern zu versprechen, mit immer weniger Steuern könnten immer bessere Leistungen erbracht werden" betonte er anlässlich der Veröffentlichung der Sozialhilfeausgaben für das Jahr 2001. "Die Sozialhilfe ist zum finanziellen und sozialen Sprengstoff geworden", sagte Landsberg. Allein in den letzten 10 Jahren sind die kommunalen Sozialausgaben um rund 30 Prozent gestiegen. So wurden im vergangenen Jahr für die Hilfe zum Lebensunterhalt 8,5 Mrd. Euro ausgegeben, die Eingliederungshilfe für Behinderte stieg im gleichen Jahr um 5,4 Prozent auf 8,8 Mrd. Euro und überstieg damit erstmals die Ausgaben für die Hilfe zum Lebensunterhalt. Gerade die Kosten der Eingliederungshilfe werden nach Prognosen in den kommenden Jahren dramatisch anwachsen.
Angesichts dieser "erdrückenden Lasten" fehlten den Kommunen nicht nur die dringend notwendigen Mittel für Investitionen, sondern in den Städten entstehe ein unkalkulierbarer sozialer Sprengsatz. Die dramatische Finanzlage führe dazu, dass die Städte und Gemeinden keine freiwilligen Aufgaben mehr durchführen können. Der Ausbau der Kinderbetreuung sei solange illusorisch, wie die kommunalen Finanzen nicht wieder in Ordnung gebracht sind, so Landsberg.
Für den Deutschen Städte- und Gemeindebund ist es unabdingbar, die Kommunen von den gesamtgesellschaftlich und gesamtstaatlichen zu verantwortenden Aufgaben im Bundessozialhilfegesetz zu entlasten. Dazu zählt neben der Reform der Gemeindefinanzen die grundlegende Neugestaltung des Sozialhilferechts. "Der Umbau des Sozialsystems ist neben der Finanz- und Steuerpolitik die wichtigste Aufgabe der Politik. Arbeit und Wohlstand wird es in Deutschland nur geben, wenn das Sozialsystem den wirklich Bedürftigen hilft und die Eigeninitiative des Einzelnen stärkt", so Landsberg.
Am 19-09-2002
Sozialverband fordert Bundessozialministerium als Gegengewicht zu Clement
Soziales soll kein Anhängsel der Wirtschaftspolitik sein
Der Sozialverband Deutschland (SoVD) hat die Zusammenlegung des Wirtschafts- und Arbeitsministeriums als "äußerst problematisch" kritisiert. Es bestehe die absehbare Gefahr, dass die sozialen Belange angeblichen wirtschaftlichen Notwendigkeiten untergeordnet würden, erklärte SoVD-Präsident Peter Vetter. Damit aber würde das grundgesetzlich garantierte Sozialstaatsgebot ausgehebelt. Der SoVD fordert deshalb von der rot-grünen Koalition, als Gegengewicht ein Bundessozialministerium einzurichten, das die Zuständigkeiten für die Sozialversicherungen einschließlich der Arbeitslosenversicherung erhält. Die soziale Marktwirtschaft sei kein bloßes Nebeneinander von wirtschaftlichem und sozialem System, bei dem das Sozialsystem als Kostgänger der Wirtschaft definiert werde, betonte Vetter. Genau diese Tendenz werde aber durch das Superministerium gefördert. Damit drohten weitere soziale Einschnitte zu Gunsten von Wirtschaft und Bundeshaushalt - etwa bei den Rentnern, Empfängern von Arbeitslosenhilfe oder bei Familien. Der seit zwei Jahrzehnten betriebene massive Sozialabbau müsse aber gestoppt werden, zumal er sein angebliches Ziel nie erreicht habe, nämlich den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken.
Eine Zuständigkeit von Wolfgang Clement für die Sozialversicherungen und die Arbeitsverwaltung lehnt der SoVD auch deshalb ab, weil der bisherige nordrhein-westfälische Ministerpräsident über keinerlei Erfahrungen auf diesen komplizierten sozialpolitischen Feldern besitze. Ein Superminister, der sich erst monate- oder gar jahrelang einarbeiten müsse, sei angesichts der dramatischen Herausforderungen, vor denen die Sozialversicherungen stünden, nicht akzeptabel.
Am 08-10-2002
Italienische Regierung will Schengen-Abkommen aussetzen
Europäisches Sozialforum 2002
Der italienische Ministerpräsident Berlusconi provoziert erneut eine Konfrontation mit der globalisierungskritischen Bewegung. Nach einer Mitteilung der italienischen Koordination für das Europäische Sozialforum will die Regierung in Rom in der ersten Novemberhälfte das Schengen-Abkommen außer Kraft setzen, das den Bürgern der Europäischen Union ungehinderte Bewegungsfreiheit und unkontrollierten Grenzübertritt garantiert. Zuvor berichteten mehrere italienische Zeitungen, u.a. la Repubblica, über die Regierungspläne. Mit dieser Maßnahme will laut Attac der mit rechtsextremen Kräften durchsetzte italienische Regierungsapparat das europäische Sozialforum behindern, das vom 6. bis 10. November in Florenz stattfindet. Bereits die europaweiten Protestaktionen gegen den G8-Gipfel im Juli vergangenen Jahres in Genua hatte die römische Regierung mit brutalen Polizeimaßnahmen und der Aussetzung des Schengener Abkommens zu unterdrücken versucht. Ein toter Demonstrant und rund 100 Verletzte waren die Folge.
Attac Deutschland protestiert mit aller Entschiedenheit gegen diese undemokratische Unterdrückung demokratischer Bürgerrechte und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der EU-Bürger durch die Suspendierung internationaler Abkommen. Attac fordert von der italienischen Regierung die Gewährleistung des freien Zugangs aller Interessierten zum Europäischen Sozialforum in Florenz sowie die Gewährleistung einer friedlichen Zusammenkunft europäischer Bürger ohne polizeiliche Gewaltmaßnahmen nach dem Muster von Genua.
Das Europäische Sozialforum ist eine Begegnungsstätte der unterschiedlichsten globalisierungskritischen Bewegungen. Rund 20.000 Menschen werden zu diesem Ereignis in Florenz erwartet. NachdemWeltsozialforum in Porto Alegre/Brasilien Anfang diesen Jahres schafft das Europäische Sozialforum der europaweiten Bewegung eine Plattform zur Diskussion und Artikulierung ihrer Forderungen.
Am 16-10-2002
Kritik an der Sozialpolitik
Institut der deutschen Wirtschaft
Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat die Sozialpolitik der Bundesregierung kritisiert. Die Erhöhung des Beitragssatzes in der Rentenversicherung von 19,1 auf 19,3 Prozent bringe dem Staat zwar 1,8 Milliarden Euro ein, betonte das IW am Montag in Köln. Diese Summe reiche aber längst nicht aus, um das diesjährige Finanzloch zu stopfen. Daher werde die Schwankungsreserve der Rentenkassen abermals gekürzt und die Einkommensgrenze für die Beitragszahlung heraufgesetzt. Infolgedessen würden 1,3 Millionen Beschäftigte stärker als bisher zur Kasse gebeten. Damit sei das Problem aber nur vertagt, denn mit den Beiträgen stiegen langfristig auch die Rentenansprüche. Ähnliches gelte für die Arbeitslosenversicherung, deren Beitragsmessungsgrenze an die der Rentenversicherung gekoppelt sei. Auch hier müssten 1,3 Millionen Pflichtversicherte mehr einzahlen als vorher, die dann auch höhere Ansprüche an die Bundesanstalt geltend machen könnten.
In der Krankenversicherung schließlich solle die Bemessungsgrenze zwar nur moderat angehoben werden, der Beitragssatz werde aber voraussichtlich im Schnitt um 0,4 Punkte klettern. Damit dürfte das Ende der Fahnenstange nicht erreicht sein, denn das angekündigte Sofortprogramm zur Kostendämpfung lasse jeglichen Anreiz zu mehr Eigenverantwortung der Patienten missen, kritisierte das IW.
Nach den Berechnungen des Kölner Instituts müssen die westdeutschen Arbeitnehmer im kommenden Jahr voraussichtlich bis zu 95 Euro pro Monat mehr von ihrem Bruttoeinkommen an die Sozialkassen abführen. In Ostdeutschland werden den Angaben zufolge maximal 81 Euro für jeden Beschäftigten fällig. Insgesamt würden die Arbeitnehmer damit im kommenden Jahr 3,65 Milliarden Euro weniger im Portemonnaie vorfinden, betonte das IW.
Am 28-10-2002
Sozialverband lehnt Absenkung ab
Reduzierung der Schwankungsreserve
Der Präsident des Sozialverbandes VdK, Walter Hirrlinger, warnt die Bundesregierung vor einer Absenkung der Schwankungsreserve in der Rentenkasse auf 50 Prozent. Er schlug stattdessen eine Absenkung der Rentenreserve von 80 auf 60 Prozent vor. Dieser Wert müsse bei der vorgesehenen Beitragsanhebung von 19,1 auf 19,5 Prozent ausreichend sein, um vorübergehenden Problemen Rechnung zu tragen. Zudem müsse seiner Ansicht nach bei nächster Gelegenheit erneut eine Anhebung erfolgen. Damit sei gesichert, dass Liquiditätsprobleme der Rentenversicherung auf Dauer ausgeschlossen blieben.
Am 01-11-2002
"Mehr Demokratie" fordert Volksabstimmungen über Sozialpolitik
Sparprogramm
Die Bürgeraktion Mehr Demokratie fordert angesichts des Reformstaus in der Sozialpolitik Volksbegehren und Volksabstimmungen über die Renten-, Gesundheits- und Arbeitspolitik in Deutschland. "Volksbegehren können überfällige Reformen anschieben. Volksabstimmungen sorgen für den Rückhalt in der Bevölkerung. Ohne die Beteiligung der Betroffenen der Bürgerinnen und Bürger steht die Akzeptanz des Sozialstaates auf dem Spiel", sagte Mehr Demokratie-Sprecher Tim Weber in Bremen. Als Vorbild nannte Weber die Schweiz, dessen Sozialsysteme als vorbildlich gelten. Deutschland brauche ein "Rentensystem für alle, ähnlich wie die Schweiz", schreibt „Die Zeit“ in ihrer jüngsten Ausgabe. Der „Spiegel“ hatte unseren Nachbarn als "das Land mit dem besten Rentensystem" bezeichnet. Ein Erfolgsrezept der Schweizist laut „Mehr Demokratie“, dass die Sozialpolitik nicht nur von Politikern und Lobbys gemacht wird, sondern regelmäßig Gegenstand von Volksabstimmungen ist. So entscheiden die wahlberechtigten Schweizer am kommenden Sonntag (24.11.) über die Reform der Arbeitslosenversicherung.
Gegen die Pläne der Berner Regierung, die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld zu kürzen und den Solidaritätsbeitrag für Besserverdienende zu streichen, haben die Gewerkschaften ein Referendum eingeleitet. Dafür sind in der Schweiz 50.000 Unterschriften erforderlich. "Unser Nachbarland zeigt, wie die Bürger erfolgreich die Zukunft gestalten", erklärte Weber. "Die Direkte Demokratie hat viele Vorzüge. Bei einer Volksabstimmung kommen alle Argumente auf den Tisch. Sie führt zu einer intensiven und lösungsorientierten Debatte in der Bevölkerung. Wer informiert ist und entscheiden darf, wird auch mögliche Einschnitte besser akzeptieren."
Schließlich könnten die Bürger per Volksbegehren für das nach Vorstellung von Mehr Demokratie in Deutschland eine Million Unterschriften gesammelt werden müssten selbst Alternativen in die festgefahrene Diskussion einbringen und zur Entscheidung stellen. "So wird der Wettbewerb um die besten Lösungen angekurbelt", sagte Weber.
Mehr Demokratie e.V. setzt sich gemeinsam mit einem 80 Verbände umfassenden Bündnis für die Einführung von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden ein.
Am 20-11-2002
Musik gegen soziale Kälte
Benefizkonzerte für Obdachlose
Als Student an der Kölner Musikhochschule hat Thomas Beckmann Obdachlose noch in seiner Zweizimmerwohnung übernachten lassen. Die Zeiten sind vorbei. Doch auch heute, 25 Jahre später, klingeln sie noch manchmal an der Haustür des Cellisten am Rande der Düsseldorfer Altstadt und bitten um Schlafsäcke. Der Gründer des Vereins "Gemeinsam gegen Kälte" hat immer zehn davon auf Vorrat gelagert und ist in der ganzen Republik unter den Bedürftigen für sein Engagement bekannt. Unter Klassik-Kennern dagegen mehr für die allerorts gefeierten Benefizkonzerte für Obdachlose, die er gemeinsam mit seiner Frau Kayoko am Flügel gibt.
Mittlerweile ist das Hilfsnetz über 32 Städte in der ganzen Republik gespannt. Beckmann und Kayoko geben während der Tournee Konzerte in den beteiligten Städten, und der Erlös der stets ausverkauften Konzerte kommt über den Verein wieder der jeweiligen Stadt mit ihren Förderprojekten zu Gute. So einfach die Formel ist, der Verwaltungsapparat dahinter ist immens. Seitdem drei ABM-Kräfte von der Stadt, die das Projekt fördert, gestrichen wurden, kämpft Beckmann daher ums Fortbestehen des Vereins.
"Ich habe Angst, dass eines Tages alles zusammenbricht", sagt Beckmann. "Womöglich werde ich noch mehr Konzerte geben müssen, doch im Prinzip ist dies zu anstrengend - für mich und für meine Frau auch." Die nächste Benefiztournee ist für den nächsten Winter geplant, derweil versucht Beckmann bei ihm gut gesonnenen Menschen anzuklopfen und hofft auf erfolgreiche Vereinsaktionen wie "Spenden statt Schenken".
Im Büro deutet außer ein paar Kartons mit CDs nichts auf die Leistung des Musikers hin. Kein Cello, auch sonst keine Instrumente, noch nicht einmal Notenblätter liegen herum. Dafür stapeln sich Papier und Ordner vor, hinter und über dem Computer. "Gesponserte Computer versteht sich, ohne die wir aufgeschmissen wären", sagt Beckmann. Denn die wenigen noch übrig gebliebenen Helfer sind nicht nur für die Korrespondenz zuständig, sondern funktionieren auch als Konzertagentur.
Seit der Vereinsgründung 1996 hat Beckmann unzählige Male zum Instrument gegriffen, um Obdachlose vor dem Erfrieren zu schützen. "Ich fühle mich zwar nicht als der Sozialdezernent der Nation, aber der Staat darf nicht mit dem Problem allein gelassen werden", sagt Beckmann. Als 1993 zwei Frauen vor seiner Haustür erfroren sind, wollte er handeln. Auf dem kurzen Dienstweg fragte er Freunde, Künstler, Sponsoren und hatte zwei Wochen später 15 000 Euro beisammen, die ohne jeden Abzug in Schlafsäcke getauscht wurden. Mittlerweile sind Projekte wie Armenküchen und Obdachlosenheime dazugekommen.
Sein Ziel sei es, ein anderes Bewusstsein in der Bevölkerung herzustellen. Wohnungslosigkeit und sozialer Abstieg könne jeden treffen. Reichtum bewahre nicht davor, in diesen Zeiten schon gar nicht.
Am 08-01-2003