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Bundeswehr

Ohne Wehrpflicht zur Interventionsarmee

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Die offizielle Politik und viele Parlamentarier quer durch die Parteien halten noch eisern an der Wehrpflicht fest. Doch im Offizierkorps mehren sich angesichts der prekären Lage der Streitkräfte die Stimmen, die die Bundeswehr auf dem Marsch in die Freiwilligenarmee sehen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat noch für dieses Jahr eine Entscheidung über die Zulässigkeit der Wehrpflicht angekündigt. Nicht nur die Grünen, sondern auch große Teile der SPD und die FDP erwarten einen Spruch gegen den Zwangsdienst, zumindest aber eine Aussetzung.


Ausgerechnet Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD), der hartnäckig an der Wehrpflicht festhält, könnte wegen des "Einbruchs" seiner Finanzen ungewollt die öffentliche Diskussion über eine Berufsarmee lostreten, heißt es bei SPD-Parlamentariern. Es stehe fest, dass Scharping von Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) keine "müde Mark" mehr als die geplanten 46,5 Milliarden Mark bekomme. Scharping sieht aktuell eine Unterfinanzierung der Bundeswehr in Höhe von 2,7 Milliarden Mark. In den Jahren 2003 und 2004 soll der Wehretat nur noch 45,7 Milliarden Mark betragen. Am 13. Juni werde Scharping bei der Haushaltssitzung des Kabinetts "einpacken" können, hieß es weiter.

Das Landgericht Potsdam hatte im März 1999 das Verfahren gegen einen totalen Kriegsdienstverweigerer ausgesetzt und das Verfassungsgericht in Karlsruhe angerufen. Die Potsdamer Richter hielten die Wehrpflicht für verfassungswidrig und eine Verweigerung von Kriegs- und Zivildienst daher für nicht strafbar. Auch das Verwaltungsgericht Stuttgart schlägt in diese Bresche: Es hat den Europäischen Gerichtshof angerufen, um klären zu lassen, ob die allgemeine Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen verstößt. Anlass war die Klage eines 18-jährigen Mannes gegen die allgemeine Wehrpflicht. In der Begründung seiner Festellungsklage hatte er dargelegt, dass die Wehrpflicht ihn gegenüber gleichaltrigen Frauen unzulässig benachteilige.

Die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen, Angelika Beer, geht davon aus, dass bei einer "systematischen technologischen Modernisierung" der Umfang der Bundeswehr über acht bis zwölf Jahre auf 200.000 oder 150.000 Soldaten abgesenkt werden könne. Sie will eine "kleine, moderne, intelligente Bundeswehr, die mit guter Ausrüstung mehr als ein Dinosaurier leistet". Dieter Lutz vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik hat vorgerechnet, dass bei einer Aussetzung der Wehrpflicht und einer Begrenzung auf rund 200.000 Soldaten Einsparungen in einer Gesamthöhe von fast fünf Milliarden Mark pro Jahr erzielt werden könnten.

Scharpings Bundeswehrreform sieht eine Reduzierung des Personalumfangs in der Bundeswehr auf 285.000 Mann vor. Er will die Zahl der Wehrpflichtigen von jetzt 105.000 auf 53.000 in zehn Jahren verringern. Berechnungen zufolge würden 2010 bei einer Wehrdienstdauer von neun Monaten nur 70.700 von rund 390.000 jungen Männern eingezogen. Der frühere Vier-Sterne-General Klaus Reinhardt erklärte, dass die Finanzlage der Bundeswehr und die auftretende Wehrungerechtigkeit durch die geringe Einberufung von jungen Männern das Verteidigungsministerium zwingen würden, die Wehrpflicht aufzugeben.

Nach Angaben der Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär standen der Bundeswehr bereits zum 31. Dezember 2000 mehr als 260.000 Wehrpflichtige zur Verfügung - bei 129.000 geplanten Einberufungen für das Jahr 2001 somit mehr als doppelt so viele wie einberufen werden können. Aufgrund der geburtenstarken Jahrgänge, die in den nächsten Jahren zur Musterung und Einberufung anstehen, werde sich dieses Mißverhältnis zwischen den zur Verfügung stehenden Wehrpflichtigen und den tatsächlichen Einberufungen weiter verschärfen. Dieses Missverhältnis sei ein eklatanter Verstoß gegen das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht habe bereits 1978 festgestellt, dass ein solches Missverhältnis verfassungswidrig sei und die allgemeine Wehrpflicht insgesamt in Frage stelle.

Die Befürchtungen vieler Friedensaktivisten bringen einige Offiziere auf den Punkt: Gut trainierte Einheiten könnten jederzeit aus dem Stand für die in Zukunft vermehrten Auslandseinsätze abkommandiert werden, ohne dass zu Hause immer erst mühsam - wie gerade für den Balkan - Truppenteile für den Einsatz zusammengestellt werden müssten. Die Bundeswehr könnte also, da sie für ihre vom Grundgesetz vorgesehene Aufgabe der Landesverteidigung überflüssig geworden sei, zu einer weltweiten Interventionsarmee werden. So heisst es schließlich bereits in den am 26. November 1992 erlassenen "Verteidigungspolitischen Richtlinien" (VPR) des Bundesverteidigungsministeriums, zu den "vitalen Sicherheitsinteressen" Deutschlands gehörten die "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt" und die "Einflußnahme auf die internationalen Institutionen und Prozesse im Sinne unserer Interessen und gegründet auf unsere Wirtschaftskraft, unseren militärischen Beitrag und vor allem unsere Glaubwürdigkeit als stabile, handlungsfähige Demokratie."

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