Sozialagenturen
- I. Senkung "zu hoher" Sozialhilfeausgaben?
- II. Kostensenkung durch Vermittlung in Arbeit?
- III. "Zielgerichteter" Druck auf sozialhilfeberechtigte Erwerbslose?
- IV. "Kundenorientierung" bei "Fördern und Fordern"?
- VII. Vorrangige Erfordernisse einer Bekämpfung von Armut
- VIII. Konzeption "Sozialagentur" positiv gestalten
I. Senkung "zu hoher" Sozialhilfeausgaben?
Das Problem, zu dessen Bewältigung das Projekt Sozialagenturen beitragen soll, wird definiert als eine - trotz insgesamt rückläufiger Entwicklung - immer noch zu hohe Kostenbelastung der Kommunen als Träger der Sozialhilfe. "Ich will den Kommunen im Land helfen, die Sozialausgaben durch einen veränderten Umgang mit dem Thema Sozialhilfe zu senken".
Der SoVD-NRW stellt hierzu fest:
- Die Sozialhilfe ist das unterste der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland. Der Rechtsanspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt ist bisher - unabhängig von Ursache oder Art der Notlage - allein an das Vorliegen von "Bedürftigkeit" i.S. des BSHG geknüpft. Als Ausfluss des Grundrechts der unverletzlichen Menschenwürde (Art. 1.1 GG) soll die Hilfe im Sinne einer sozialen Mindestsicherung den Hilfeberechtigten "die Führung eines Lebens ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht" (§ 1.1 BSHG).
- Dieser Aufgabe wird die Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt) nur unzureichend gerecht. Seit vielen Jahren wird in der kritischen Fachöffentlichkeit eine unzureichende Entwicklung der Sozialhilfe-Regelsätze und eine zunehmend restriktive Gewährungspraxis durch die örtlichen Sozialhilfeträger beklagt. Deshalb bemühen sich zunehmend private oder kirchliche Initiativen darum z. B. mit kostenlosen Mahlzeiten und Kleiderkammern die Not zu lindern. Experten schätzen die Dunkelziffer derer, die bestehende Sozialhilfeansprüche aus Unwissenheit oder Scham nicht in Anspruch nehmen - darunter auch Haushalte von Erwerbstätigen, die kein existenzsicherndes Arbeitsentgelt erzielen können (working poor) - auf bis zu 100%.
- Würde die Sozialhilfe ihrer sozialen Sicherungsaufgabe umfassend gerecht, müssten deutlich höhere Mittel zur Verfügung gestellt werden. Aus sozialpolitischer Sicht sind daher nicht "zu hohe", sondern eher seit langem nicht ausreichend bemessene Sozialhilfeleistungen das Problem. (...)
II. Kostensenkung durch Vermittlung in Arbeit?
Zur Realisierung von Kostensenkungen soll mit dem Projekt Sozialagenturen das Instrumentarium der Sozialhilfeträger zur Vermittlung von "bis zu 200.000" sozialhilfeberechtigten Erwerbslosen in Arbeit verbessert werden.
Dazu sollen die Sozialagenturen im Sinne von Case-Management neben der Gewährung erforderlicher materieller Leistungen alle zur Wiederherstellung von Beschäftigungsfähigkeit und Vermittelbarkeit erforderlichen sozialen Hilfen (z.B. Suchtberatung, Schuldenberatung, Wohnungsvermittlung, etc.) als auf den jeweiligen Einzelfall zugeschnittene ("passgenaue") "Dienstleistungsketten" gebündelt anbieten und mit den Hilfeberechtigten entsprechende Zielvereinbarungen abschließen.
Der SoVD-NRW stellt hierzu fest:
- Nichts wäre wünschenswerter, als (Langzeit-)Erwerbslosigkeit von erwerbsfähigen Hilfeberechtigten, die dem Arbeitsmarkt auch zur Verfügung stehen können, durch Vermittlung in reguläre, unbefristete Beschäftigung beenden zu können. Allerdings hängt die Realitätstauglichkeit einer solchen Orientierung unmittelbar davon ab, dass von einer entsprechenden Aufnahmefähigkeit des regulären Arbeitsmarkts ausgegangen werden kann. (...)
- Mit Sorge beobachten wir zunehmende Bestrebungen zur Etablierung oder Ausweitung zweit- und drittklassiger Sonderarbeitsmärkte, Niedriglohnsektoren und prekärer Beschäftigungsverhältnisse, die den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern keine reelle Perspektive der Teilhabe an der Erwerbsgesellschaft und der nachhaltigen Verbesserung ihrer sozialen Situation bieten, sondern eher zur Vergrößerung des working-poor-Problems beitragen. (...)
- Schon in der Vergangenheit haben die Sozialhilfeträger ihre Bestrebungen, erwerbsfähige Hilfeberechtigte in Arbeit zu bringen, auch aus Kostengründen vervielfacht. Dabei sind sie an Grenzen gestoßen: der leistungsorientierte reguläre Arbeitsmarkt verweigert Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die als leistungsgemindert gelten oder - etwa in Folge von Langzeiterwerbslosigkeit - mit schwerwiegenden sozialen Problemen belastet sind, erfahrungsgemäß den Zugang. (...)
III. "Zielgerichteter" Druck auf sozialhilfeberechtigte Erwerbslose?
Die mit dem Projekt Sozialagenturen verfolgte Orientierung wird in folgender Aussage des Ministers deutlich: "Einige fordern in diesem Zusammenhang 'mehr Druck' und glauben, damit schon die Lösung gefunden zu haben, um Sozialhilfeempfänger in Arbeit zu bringen. Druck wird aber dort nichts nützen, wo gar keine Vorstellung über die Richtung des Drucks existiert."
Das Projekt Sozialagentur soll die unter dem Motto "Fördern und Fordern" bekannt gewordene "aktivierende" Sozialpolitik der Landesregierung effektiver und zielgerichteter weiter entwickeln. Charakteristisch für diese Politik ist die Verknüpfung von Fördermaßnahmen mit der besonderen Betonung der "Arbeitspflicht" erwerbsloser Hilfeberechtigter, deren mangelnde Erfüllung die Kürzung oder gar Streichung von Sozialhilfe nach sich zieht.
Der SoVD-NRW stellt hierzu fest:
- Die Realität am Arbeitsmarkt zeugt von erheblichen Anstrengungen Erwerbsloser, sich einen existenzsichernden Wiedereinstieg ins Beschäftigungssystem zu erschließen. (...)
- Die Anstrengungen Erwerbsloser, neue Arbeit zu finden, scheitern allzu oft, weil geeignete Arbeitsplätze oder auch notwendige Kinderbetreuungsangebote nicht zur Verfügung stehen. Vor allem unter Langzeiterwerbslosen hat sich durch wiederholte Erfahrungen des Scheiterns - teils in Verbindung mit "Maßnahmekarrieren"; die nicht zum Erfolg führten - Resignation ausgebreitet. Diese zählt zu den unvermeidlichen Folgen der Arbeitmarktkrise und ist nicht den Betroffenen anzulasten. Seit langem ist bekannt, dass Langzeiterwerbslosigkeit auch zu Einbußen sozialer Kompetenzen führt und die Betroffenen für die Rückgewinnung ihrer Leistungsfähigkeit in der Regel einen Einarbeitungszeitraum von etwa der gleichen Dauer benötigen, wie sie zuvor erwerbslos waren. Daraus resultierenden Forderungen nach einer entsprechend flexiblen Dauer von Beschäftigungsprogrammen ("Arbeit statt Sozialhilfe", ABM) blieben bisher unberücksichtigt. Erwerbslose mit Ansprüchen auf Arbeitslosengeld oder -hilfe befürchten zudem zu Recht, nach Annahme eines geringer entlohnten, unterwertigen Jobs bei erneut eintretender Erwerbslosigkeit um so tiefer in Armut zu stürzen, weil sich die Arbeitslosenunterstützung dann nach dem niedrigen Bemessungsentgelt richtet. Zudem hat die Abschaffung des Berufsschutzes im Arbeitsförderungsrecht und im Rentenrecht den Wert beruflicher Qualifizierung als Chance des sozialen Fortkommens in kontraproduktiver Weise geschmälert.
- Angesichts des seit einem Vierteljahrhundert anhaltenden Unvermögens unserer Gesellschaft, Massenerwerbslosigkeit und -armut zu überwinden, kann es keineswegs verwundern, dass sich Menschen im Einzelfall auch ganz vom Arbeitsmarkt zurückziehen und sich im Sozialhilfebezug - d.h. in Armut - "einrichten". Dies ist insbesondere dann zu beobachten, wenn bereits den Eltern der Ausweg aus Armut nicht gelang. Darin drückt sich nicht zuletzt ein fundamentaler Vertrauensverlust in einen als "nicht funktionsfähig" wahrgenommenen Sozialstaat aus.
- Das Postulat des Vorrangs eigenständiger Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit vor Sozialhilfebezug steht außer Frage. Es entspricht auch der Wertorientierung der Erwerbslosen selbst.
Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, dass jede Arbeit anzunehmen ist. Sie muss "zumutbar" sein. (...) Unter dem Gesichtspunkt der Qualität von Arbeitsverhältnissen gibt es heute praktisch nichts mehr, was Sozialhilfeberechtigten nicht "zumutbar" wäre. Die Definitionsmacht über die "Zumutbarkeit" - oder gar "Passgenauigkeit" - liegt einseitig beim Sozialhilfeträger. (...) Heute besteht Grund zu der Annahme, dass Hilfeberechtigte mancherorts regelmäßig in perspektivlose Arbeitsgelegenheiten gedrängt werden, um eine Geltendmachung von Sozialhilfeansprüchen von vorn herein zu verhindern.
- Mehr als fraglich erscheint auch die Sinnhaftigkeit, den Vorrang von Arbeit gegenüber einzelnen "Arbeitsunwilligen" mit der Androhung von Sozialleistungskürzungen durchsetzen zu wollen. Sanktionsdrohungen vertiefen eher den Vertrauensverlust, indem der "unfähige" Staat auch noch als "feindlich-repressiver" Staat wahrgenommen wird. Ob sich damit der im Einzelfall erwünschte Effekt überhaupt erreichen lässt, ist unseres Wissen nicht belegt und bleibt zweifelhaft. Zielführend im Sinne der Förderung von Erwerbsmotivation erscheinen hier eher gezielte Maßnahmen sozialer Arbeit.
- Gegen Leistungskürzungen zur Sanktionierung unerwünschten Verhaltens von Hilfebedürftigen ("Verweigerung zumutbarer Arbeit", aber auch "unwirtschaftliches Verhalten"), wie sie die geltende Rechtslage vorsieht, richten sich auch gravierende Bedenken grundsätzlicher Art: Da die Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt (dem Anspruch nach) so bemessen sind, dass sie das zur Führung eines menschenwürdigen Lebens Notwendige decken, kommt jede nennenswerte Kürzung der Leistungen einer Verletzung der Menschenwürde gleich und müsste mit Rücksicht auf Art 1.1 GG ausgeschlossen bleiben. Eine Streichung der Sozialhilfe (bei fortgesetztem unerwünschten Verhalten) kommt einem Entzug des sozialen Existenzrechts überhaupt gleich. Eine solche Sanktion ist existenziell weitreichender als alles, was das Strafrecht inhaftierten Straftätern zumutet, für deren Kleidung, Unterbringung und Verpflegung der Rechtsstaat - ungeachtet der ansonsten zum Zweck des Strafvollzugs verhängten Grundrechtseinschränkungen - Sorge trägt. (...)
- Innovative erwerbsintegrative Angebote für Sozialhilfe- und Arbeitslosenhilfeberechtigte müssen sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie ein erneutes Scheitern mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließen. Angesichts der generellen Arbeitsmarktkrise und der "Bestenauslese" unter den Erwerbssuchenden erscheint daher die Schaffung eines Sektors zusätzlicher, öffentlich geförderter, regulärer Beschäftigung in sinnvollen Aufgabenfeldern geboten. (...)
IV. "Kundenorientierung" bei "Fördern und Fordern"?
Der Projektskizze zu Folge sollen Sozialagenturen eine neue "Kundenorientierung" in die Sozialhilfepraxis implementieren. Gefordert wird "Partizipation" der hilfeberechtigten Erwerbslosen statt "bürokratischer Bevormundung". Es müsse darum gehen, die Klientinnen und Klienten als "Ko-Produzenten" oder gar als "eigentlichen Produzenten" der Dienstleistung Sozialhilfe anzuerkennen und ernster zu nehmen.
Der SoVD-NRW stellt hierzu fest:
Die damit angedeutete Veränderung der Sozialhilfepraxis wäre aus Sicht der Hilfeberechtigten in höchstem Maße wünschenswert. Allerdings wird sie unter den Rahmenbedingungen von "Fördern und Fordern" nicht nur nicht umsetzbar sein, sondern eher ins Gegenteil verkehrt werden.
- Kennzeichnend für den Status des "Kunden" ist die Freiwilligkeit, mit der er dem Anbieter gegenübertritt sowie die Freiheit, dessen Angebot zu akzeptieren oder abzulehnen. (...)
VII. Vorrangige Erfordernisse einer Bekämpfung von Armut
Armut ist nicht allein der Mangel an finanziellen Mitteln. Das Fehlen eines ausreichenden (Erwerbs- oder Transfer-)Einkommens ist jedoch der Kern des Problems. Wer die Lebenssituation von Menschen kennt, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, weiß, dass Einkommensarmut keineswegs erst unterhalb des Sozialhilfeniveaus beginnt. Auch unter günstigsten Voraussetzungen kann eine Politik, die auf den Abbau von Ursachen der Armut zielt, nicht von heute auf morgen ans Ziel kommen. Eine Politik zur wirksamen Bekämpfung von Armut muss daher auch und gerade auf eine spürbare und nachhaltige Verbesserung der Lebenssituation derer zielen, die heute und morgen auf Sozialhilfe angewiesen bleiben.
Der SoVD-NRW sieht zur Bekämpfung von Armut daher folgende besonders dringliche Aufgaben:
- Deutliche Erhöhung der Sozialhilfeleistungen (v.a. Regelsätze), so dass das Versprechen des BSHG, ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, wieder einlösbar wird
- Verzicht auf die Anrechnung des Kindergelds als Einkommen, solange Kindergeld einkommensunabhängig - also auch an Spitzenverdiener - gezahlt wird
- Abbau der Dunkelziffer der Armut durch Einschränkung der Familiensubsidiarität bei Sozialhilfe (etwa analog zur sog. Grundsicherung in der Rentenreform)
- Einführung von Mindestpauschalen für "einmalige Hilfen" auf einem bedarfsdeckend verbesserten Niveau, um die restriktiven Ermessensspielräume der Sozialhilfeträger bei der Gewährung von Ermessensleistungen einzuschränken
- Schaffung eines Netzes unabhängiger Sozialhilfeberatungsangebote, die die Hilfeberechtigten in der Wahrnehmung ihrer Rechtsansprüche gegenüber den Trägern der Sozialhilfe unterstützen
- Wiederherstellung der sozialen Sicherungsfunktion der Arbeitslosenhilfe mit dem Ziel, das vorrangige Sicherungssystem gegen Erwerbslosigkeit "armutsfest" zu machen
Zur Finanzierung der erforderlichen Mehrausgaben ist insbesondere der private Reichtum nach Maßgabe der Sozialpflichtigkeit des Eigentums angemessen heranzuziehen (v.a. Vermögens- und Erbschaftssteuer, verkehrswertorientierte Immobilienbesteuerung u.ä.).
VIII. Konzeption "Sozialagentur" positiv gestalten
Diesseits der hier vorgetragenen kritischen Hinweise enthält das Konzept der "Sozialagenturen" auch sozial- und arbeitsmarktpolitisch positive Elemente und Orientierungen, die jedoch - wie dargestellt - in dem durch die Projektskizze vorgegebenen Zusammenhang nicht entfaltet werden können. Der SoVD-NRW regt daher an, ein Projekt "Sozialagenturen - Hilfe aus einer Hand" unter Berücksichtigung der hier vorgetragenen Erwägungen dahingehend zu gestalten, dass folgenden Gesichtspunkten Rechnung getragen wird:
- Es ist sicher zu stellen, dass die Bündelung materieller und sozialer Hilfen im Rahmen eines einzelfallbezogenen Case-Managements tatsächlich zu auf Partizipation und "Kundenorientierung" ausgerichteten Angeboten führt.
- Die "Sozialagenturen" sind bei unabhängigen, frei gemeinnützigen Trägern anzusiedeln, denen der Beratungsauftrag nach BSHG und die Steuerung der einzelfallbezogenen Hilfeprozesse zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung übertragen wird.
- Dazu schließt der Sozialhilfeträger mit dem Träger der "Sozialagentur" eine Zielvereinbarung ab, die nicht auf Einsparungen und nicht vorrangig auf Vermittlung zielt, sondern v.a. auf qualitative Kriterien einer umfassenden Erfüllung des sozialen Beratungsauftrags. Dazu gehört auch die Aufdeckung vorhandener, aber nicht gedeckter Bedarfe an materiellen und immateriellen Hilfen. Die "Sozialagentur" hat ihre Tätigkeit gegenüber dem Träger der Sozialhilfe zu dokumentieren, so dass ein Controlling sicher gestellt ist.
- Beim Träger der Sozialhilfe verbleibt die Verantwortung für die Steuerung des Angebots an sozialen Diensten und die Zahlbarmachung von Leistungen. Der unabhängigen "Sozialagentur" ist ein Vorschlagsrecht für die im Einzelfall zu bewilligenden Sozialhilfeleistungen (Geld- , Sach- und Beratungsleistungen) einzuräumen.
- Hat der Sozialhilfeträger im Einzelfall Bedenken, den Vorschlägen der "Sozialagentur" zu folgen, ist eine vom Sozialhilfeträger und den Interessenvertretungen der Hilfeberechtigten paritätisch besetzte "Schiedsstelle" mit neutralem Vorsitz anzurufen, deren Entscheidung für alle Beteiligten verbindlich ist, sofern weitere Rechtsmittel nicht eingelegt werden.